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Die Türkei am Scheideweg

Wohin steuert die Türkei? Wird sie den Weg in die Europäische Union beschreiten oder werden islamische Fundamentalisten an Einfluss gewinnen? In dem Interviewband "Türkei wohin?" hat der Journalist und Autor Halil Gülbayez mit prominenten Türkischstämmigen wie Feridun Zaimoglu, Fatih Akin oder Hrant Dink über die gesellschaftspolitische Situation in der Türkei gesprochen.

Von Detlef Grumbach | 09.02.2009
    "Einige mit Sicherheit nicht","

    so antwortet Halil Gülbeyaz auf die Frage, ob all seine Interviewpartner auch in die Runde einer Talkshow gekommen wären.

    ""Einige Interviewpartner, die im Nachhinein erfahren haben, dass ich mit Abdurrahman Dilipak, dem Islamisten, ein Interview geführt habe, haben mir gesagt, dass sie es nicht getan hätten, wenn sie es gewusst hätten, dass ich das in das Buch aufnehme."

    "Türkei wohin" nennt der 1962 in der Türkei geborene und mit 17 Jahren nach Deutschland gekommene Fernsehjournalist seinen Band, für den er 13 in der Türkei und in Deutschland lebende Politiker oder Intellektuelle befragt hat.

    Es geht um die Beziehung zwischen Europa und der Türkei, um Militär und Demokratie, um die Lösung des Kurdenproblems, die Situation anderer Minderheiten und die drohende Gefahr einer Islamisierung. Die größte Gemeinsamkeit der Positionen liegt darin, dass das Militär in der Türkei den politischen Organen des Staates untergeordnet werden und seine Sonderrolle aufgeben müsse.

    "Aber diese Menschen sind ja vom Militär selbst betroffen, entweder als sogenannte Islamisten oder als sogenannte Linke. Denn ich habe ja keine normalen Menschen angesprochen, sondern immer die Vertreter bestimmter radikaler Meinungen: Seien das Feministinnen, seinen das Menschenrechtler, seien das Linke oder Islamisten. Alle sind von dem undemokratischen System gleichermaßen betroffen. Deswegen haben Sie das Einmischen des Militärs in die Politik immer verneint und sich dagegen ausgesprochen. Das ist die einzige Gemeinsamkeit der Interviewpartner."

    Vertreten in diesem Band sind in Deutschland lebende Migranten der zweiten oder dritten Generation: der Filmemacher Fatih Akin, der Schriftsteller Feridun Zaimoglu und der Berliner SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill. In der Türkei hat Gülbeyaz mit Vertretern der armenischen, griechischen, jüdischen und kurdischen Minderheiten, mit einer Feministin, mit AKP-nahen Islamisten, Links-Kemalisten, dem Schriftsteller Ahmet Altan und dem Pamuk-Herausgeber Ahmet Insel gesprochen.

    Einig sind sie in der Opposition gegen einen militaristischen Staat. Aber was heißt hier Opposition? Um die 50 Prozent der Stimmen hat die islamistische AKP, sie stellt die Regierung - und ist in der Opposition, denn das Militär besetzt zentrale Machtpositionen, wollte die Partei sogar verbieten lassen. Um die 20 Prozent haben die Kemalisten, sie sind in der Opposition; profitieren aber von der Rolle des Militärs. Wenn 80 Prozent der Bevölkerung gegen das Kopftuchverbot in Schulen und Hochschulen sind, geht es den einen um die sogenannte Islamisierung der Gesellschaft, anderen schlicht und einfach um Demokratie, darum, dass die Menschen so leben können, wie sie wollen.

    Die in Deutschland lebenden Interviewpartner schauen vor allem auf die hiesige Debatte um die Aufnahme der Türkei in die EU, auf die als arrogant empfundene Schwarz-Weiß-Malerei, wenn es um türkische Rückständigkeiten und Defizite geht. Sie beobachten aber auch die innenpolitische Entwicklung im Land ihrer Eltern und Großeltern, diesen merkwürdigen Zwiespalt, dass ausgerechnet die AKP einen deutlich spürbaren Reformkurs eingeschlagen hat, zugleich aber die Pressefreiheit einschränkt, missliebige Personen drangsaliert.

    Während die Feministin Eren Keskin die These vertritt, dass es zwischen AKP und Militär gar keine unüberbrückbaren Gegensätze gebe, argwöhnt der Berliner Ülker Radziwill, dass die Regierung die Demokratisierung und den EU-Beitritt vor allem deshalb befördert, um auf diesem Wege Religionsfreiheit, sprich: ihren Islamismus durchsetzen zu können, Fatih Akin befürchtet im schlimmsten Fall ein Auseinanderfallen der Türkei, eine Balkanisierung der Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien. Und Feridun Zaimoglu:

    "Man kann davon sprechen, dass es in den letzten Jahren wirklich Reformen gegeben hat, Gesetzesänderungen gegeben hat, dass sehr, sehr viele, die früher links waren oder linksliberal waren und vielleicht heute noch sind, tatsächlich dann auch die regierende Partei der milden Islamkonservativen gelobt haben. Das kann man erst einmal feststellen. Es ist tatsächlich so: Man kann hinsehen und sagen, alles klar, hier hat sich tatsächlich etwas geändert, man atmet eine andere Luft. Aber: Ich bin kein Konservativer und ich kann dann, wenn ich dann hinsehe, feststellen: Was geht damit einher."

    Die armenische, griechische und jüdische Minderheiten sehen wenig Chancen, insbesondere ihre Lage zu verbessern, sie spielen bei Wahlen keine Rolle, haben keinen Einfluss auf die Entwicklung. Andere Völker des alten, osmanischen Reiches, Tscherkessen oder Abchasen, sind in der Türkei aufgegangen, fühlen sich stolz als Türken - ein starkes Argument, das gegen die Befürchtung Fatih Akins vorgebracht wird. Nur die zahlenmäßig starken Kurden bestehen auf einer eigenen Identität, und zahlen den Preis dafür, dass Militärs auf beiden Seiten die Konflikte für ihre Ziele instrumentalisieren. So bleiben die zentralen Fragen, wie die zivile Politik und damit die Demokratie in der Türkei gestärkt werden kann, welche Rollen dabei oppositionelle Kräfte im Land, womöglich die AKP oder auch die Europäische Union spielen.

    "Man dachte immer, dass die EU beim Demokratisierungsprozess des Landes behilflich sein könnte, aber inzwischen hat sich das umgekehrt. Inzwischen lehnt beinahe die Hälfte der türkischen Bevölkerung einen EU-Beitritt ab. Weil Europa unschlüssig gehandelt hat, weil Europa die Türkei von oben herab behandelt hat. Sie sind gekränkt. Und das macht den Politikern zu schaffen. Die AKP hat bei den letzten Wahlen mit dem EU-Beitritt nicht punkten wollen. Sie haben dieses Thema verschwiegen einfach, weil sie wussten, da verlieren wir Stimmen. Das heißt, die Türken sagen, eine Demokratie, die von Europa kommt, auf die verzichte ich. Lieber bin ich mit meinem Militär zufrieden als mit einem Demokratiediktat von außen."

    Das Militär steht gegen eine drohende Islamisierung, obwohl eine Entwicklung wie im Iran kaum für möglich gehalten wird. Dagegen sprächen die unterschiedlichen Ausprägungen des Islam innerhalb der Türkei genauso wie die lange Tradition der West-Orientierung, einer Orientierung, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches bestimmte Probleme aber auch erst mit sich gebracht hat.

    "Das heißt, wir müssen den Militarismus durchmachen wie das die Deutschen im Ersten Weltkrieg durchgemacht haben, um zu demokratischen Verhältnissen zu finden. Wir haben einen starken Nationalismus in der Türkei, einen sogenannten Pop-Nationalismus, wo die Fahnen geschwenkt werden, der Nationalismus in der Türkei befindet sich in seiner stärksten Phase."

    Davor, dass dieser Nationalismus eine moderne europäische Erscheinung ist, darf niemand die Augen verschließen. Dieser und andere Hinweise, die die gewohnten, hier wie in der Türkei vor allem von den politischen Hauptakteuren vorgetragenen Perspektiven in Frage stellen und verrücken, machen dieses Buch zu einer interessanten Lektüre: Bei aller Gegensätzlichkeit der Positionen bekommt der Leser ein Gefühl für Nuancierungen, für die Doppelbödigkeit der Verhältnisse, für die die feinen Risse und Brüche, für die verschiedenen Dynamiken, die in der türkischen Gesellschaft wirken. Und er spürt den vorsichtigen Optimismus, die Hoffnung, dass die Türkei auch ohne die Hilfe der EU ihren Weg in die Zivilgesellschaft finden wird. Wohin sie sich dann jedoch wendet, welche Chance Europa dann womöglich verspielt hat - darüber kann heute nur spekuliert werden.

    Halil Gülbeyaz (Hg.): Türkei wohin?
    Gespräche mit Feridun Zaimoglu, Fatih Akin, Hrant Dink, Ahmet und anderen
    Parthas-Verlag, 175 Seiten, 19,80 Euro