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Die türkische Opposition nach dem Referendum
Auf der Suche nach neuen Wegen und Zielen

Das Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei im April dieses Jahres ist knapp, aber zu Gunsten von Präsident Erdogan ausgegangen. Während der Ausnahmezustand andauert und es weiter zu Verhaftungen und Entlassungen kommt, versucht die Opposition, die Kräfte neu zu bündeln.

Von Luise Sammann | 03.07.2017
    Eine 1.100 Meter lange türkische Flagge wird während des "Marschs für Gerechtigkeit" entrollt. Der Führer der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, wird dabei begleitet von mehreren Tausend Demonstranten auf dem Weg von Ankara nach Istanbul.
    Demonstranten in Ankara vor einem Banner, auf dem auf türkisch "Nein" steht. (imago /Depo Photos)
    Istanbul am 16. April 2017. Das Referendum zu Recep Tayyip Erdogans umstrittenem Präsidialsystem ist nach einem langen, hasserfüllten Wahlkampf vorbei. 51,4 Prozent der Türken haben mit Ja gestimmt. Doch schon bevor das offizielle Wahlergebnis feststeht, wachsen die Zweifel. Die wenigen verbliebenen kritischen Medien im Land sprechen von bis zu 2,5 Millionen manipulierten Stimmen. "Betrüger", "Diktator" oder auch "Faschist" skandieren die Erdogan-Gegner, die noch am Wahlabend zu ersten Demonstrationen aufrufen.
    "Wir wollen, dass dieses Referendum wiederholt wird. Die Menschen in diesem Land wollen kein Ein-Mann-Regime."
    "Wir sagen Nein zur Diktatur. Und Nein zum Wahlbetrug. Eine neue Gezi-Bewegung muss her. Wir glauben an die Macht der Straße."
    In zahlreichen türkischen Großstädten kommt es in den Tagen nach dem Referendum zu Demonstrationen. "Hayir bitmedi, daha yeni basliyor" - rufen die Erdogan-Gegner im Chor. Zu Deutsch: "Die Nein-Bewegung ist nicht am Ende, sie fängt gerade erst an…"
    Der Ausnahmezustand lastet auf den Menschen
    Jetzt, gut zwei Monate später, ist von diesem Kampfgeist nicht mehr viel zu spüren am Bosporus. Die Sommerferien haben begonnen. Die sonst immer vollen Straßen sind ruhiger als sonst. In den Teehäusern und Talkshows hat sich das Themenkarusell längst weitergedreht. Viele Türken, so scheint es, haben sich mit der Allmacht ihres Präsidenten abgefunden.
    Viele Menschen in einem Demonstrationszug, manche halten Schilder mit dem Wort "Hayir" - "Nein" in die Luft.
    Unterstützer des «Nein»-Lagers demonstrieren am 17.04.2017 in Istanbul (Türkei) gegen den Ausgang des Referendums in der Türkei. ( Emrah Gurel / AP / dpa)
    Der Eindruck täuscht, meint Gülsüm Kav, die rauchend in einem Istanbuler Café sitzt. Bei den Demos im April ganz vorne mit dabei war. Nach wie vor seien viele Menschen gegen das Präsidialsystem, meint sie, aber:
    "Es traut sich nur einfach keiner mehr, laut zu werden. Durch den Ausnahmezustand weiß jeder, dass er sofort im Gefängnis landen kann, wenn er etwas sagt. Und dann die ständige Angst, entlassen zu werden. Sogar, wenn die Leute im Herzen weiter rebellieren, wagen sie aus verständlichen Gründen nicht mehr, das auf der Straße zu tun."
    Hunderte NGOs geschlossen
    Gülsüm Kav zuckt frustriert mit den Schultern. Ihr großes Thema sind eigentlich die Frauenrechte. Seit Jahren engagiert sich die 45-jährige Medizinerin gegen Ehrenmorde und häusliche Gewalt in der Türkei. Ein Kampf, der im Schatten der politischen Spannungen völlig in Vergessenheit zu geraten scheint. So wie fast alle anderen soziale Themen auch. Fast 400 Nichtregierungsorganisationen ließ die Regierung in den letzten Monaten schließen, weil sie angeblich eine "Gefahr für die öffentliche Sicherheit" darstellten. Und dennoch. Emma Sinclair-Webb, Türkei-Expertin von Human Rights Watch, hat die türkische Zivilgesellschaft noch nicht aufgegeben.
    "Die Türkei hat eine extrem vielfältige Bevölkerung, in der sich die unterschiedlichsten Sichtweisen wiederfinden. Eine solche Gesellschaft lässt sich nicht einfach gleichschalten. Das Referendum, bei dem sich die Hälfte der Menschen gegen Erdogans Präsidialsystem gestellt hat, hat das gezeigt. Die lange demokratische Geschichte dieses Landes lässt sich nicht einfach über Nacht auslöschen und durch ein autoritäres System ersetzen."
    Von Hoffnungslosigkeit keine Spur
    Aber: Nach 15 Jahren Erdogan-Regierung, nach Dutzenden AKP-Wahlsiegen, erfolglosen Demonstrationen und gescheiterten Hoffnungen fragen sich viele türkische Oppositionelle dieser Tage: Wie weiter? Welche Strategie – egal ob inner- oder außerparlamentarisch – bleibt eigentlich noch, um einen scheinbar immer allmächtiger werdenden Präsidenten mit demokratischen Mitteln zu schlagen?
    Kadiköy, ein säkular geprägtes Stadtviertel im asiatischen Teil von Istanbul. In einem von der sozialdemokratischen Bezirksregierung bereitgestellten Veranstaltungsraum trifft sich an einem Sonntagnachmittag das "Hayir Meclesi", zu Deutsch: das "Nein-Parlament". Ein Dutzend Leute - langhaarige Studenten, kürzlich entlassene Wissenschaftler, einstige Gezi-Demonstranten - stehen in Grüppchen beisammen, diskutieren, beraten, rauchen. Tatendrang liegt in der Luft. Von Frust oder Hoffnungslosigkeit keine Spur.
    "Nein-Parlamente" machen weiter
    Enver, ein rüstiger Rentner in Turnschuhen und Polohemd, lässt den Blick zufrieden über die Anwesenden schweifen. Vor gut einem halben Jahr hat er das Nein-Parlament gemeinsam mit anderen ins Leben gerufen.
    "Wir treffen uns hier heute zu einer Art Grundsatzdiskussion. Nachdem das Referendum, auf das unser ganzes Engagement ausgerichtet war, vorüber ist, müssen wir beraten, wie es nun weitergehen soll."
    Mitglieder der HDP nehmen im April in Istanbul an einer Veranstaltung gegen die Verfassungsänderung teil.
    Mitglieder der HDP nehmen im April in Istanbul an einer Veranstaltung gegen die Verfassungsänderung teil. (imago)
    In mehreren türkischen Städten entstanden im Januar 2017 so genannte "Nein-Parlamente". Die Organisatoren folgten damit dem spontanen Aufruf einiger Erdogan-Gegner in Istanbul, die gemeinsam überlegten, wie sie das Präsidialsystem verhindern könnten. In den Folgemonaten entwarfen hunderte Aktivisten Flyer, schrieben Artikel, diskutierten in Teehäusern mit AKP-Wählern oder gingen einfach nur von Tür zu Tür, um Nichtwähler zu mobilisieren.
    "Wir sind ganz normale Leute hier. Mit unterschiedlichen politischen Ansichten und Lebensstilen. In vielen Punkten stimmen wir nicht überein. Aber etwas eint uns: Das Nein, über das wir damals zusammengefunden haben. Die größte Gefahr ist jetzt, dass unser Hauptziel sich mit dem verlorenen Referendum erst mal erübrigt hat und wir deswegen auseinanderfallen."
    Opposition will nicht aufgeben
    15 Uhr. Die Versammlung des "Nein-Parlaments" beginnt. Gut hundert Interessierte sind inzwischen gekommen und sitzen aufmerksam vor einer leeren Tafel. In einer halben Stunde wird sie so voll mit Ideen sein, dass eine zweite her muss. Viele der Punkte, die eine Freiwillige sorgfältig notiert, sind dabei mit großen Fragezeichen versehen: Soll das Nein-Parlament weiter wachsen, oder lieber mit dem harten Kern von Freiwilligen aus Referendumstagen weiterarbeiten? Ist das Ziel ein lokales oder doch ein nationales Engagement? Welche Themen, außer dem Nein zum Präsidialsystem, einen die Anwesenden eigentlich, welche spalten sie? Bülent - ein ehemaliger Journalist und ebenfalls Aktivist der ersten Stunde - macht sich letzte Notizen für die Rede, die er gleich halten will.
    "Vor dem Referendum haben wir immer gesagt, dass sie mit diesem Systemwechsel den letzten Nagel in den Sarg hauen wollen. Immerhin können wir heute sagen: Das ist ihnen mit diesem knappen Ergebnis nicht wirklich gelungen. Deswegen werden wir nicht aufhören zu rufen, dass diese Regierung, dieser Präsident und diese Verfassung nicht legitim sind. Die Türkei braucht einen neuen, einen echten Gesellschaftsvertrag. Und als Nein-Parlament wollen wir daran mitarbeiten."
    Ringen um den richtigen Weg
    Journalist Bülent träumt von einer Türkei-weiten Bewegung. Andere im Saal sind dagegen, werben für kleine Nachbarschaftsinitiativen. Nur durch direkten Kontakt, so ihr Argument, könne man schaffen, was bisher keiner oppositionellen Bewegung in der Türkei gelungen ist: die konservativen Kreise, die typische AKP-Klientel zu erreichen. Den Kaufmann an der Ecke oder die Kopftuchtragende Schwiegermutter, die in einer Welt leben, in der regierungstreue Medien jeden Erdogan-Gegner als Terroristen und Islamfeind brandmarken und so die tiefe Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreiben.
    Demonstranten beim 430 Kilometer langen "Marsch für Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul.
    Demonstranten beim 430 Kilometer langen "Marsch für Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul. (imago / Depo Photos)
    Wer den engagierten Diskussionen des Hayir-Parlaments zuhört, bekommt schnell das Gefühl, dass Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch recht hat: Die türkische Zivilgesellschaft lässt sich so schnell nicht unterkriegen. Und doch bleiben Beobachter, wie Politikwissenschaftler Yunus Emre von der Istanbuler Kültür Üniversitesi, skeptisch.
    "Ich habe großen Respekt vor dem Engagement, das die Menschen in solchen Initiativen aufbringen. Aber in der Türkei ist es nun mal Fakt, dass die Politik am Ende einzig und allein durch die traditionellen Parteien bestimmt wird. Nicht durch außerparlamentarische Kräfte."
    Junge Türken selten in Parteien
    Gerade um diese Parteien aber ist es denkbar schlecht bestellt. Mehr noch: Für viele ist gerade ihre Schwäche und Ideenlosigkeit, ihr Versagen, die Energie der Gezi-Proteste im Jahr 2013 in Wahlerfolge umzuwandeln, Schuld an Erdogans ungebremstem Aufstieg. So ist die nationalistische MHP mit ihrem angeschlagenen Führer Devlet Bahceli seit Monaten nur noch damit beschäftigt, sich selbst zu zerfleischen. Ob sie bei den nächsten Parlamentswahlen überhaupt noch die Zehn-Prozent-Hürde meistern kann, scheint derzeit fraglich. Nicht besser steht es um die prokurdische HDP, einst Hoffnung der neuen Linken, deren gesamte Führungsriege seit Monaten im Gefängnis sitzt. Bleibt die größte Oppositionspartei im Land, die kemalistische CHP, der allerdings kaum jemand zutraut, dass es ihr ausgerechnet unter dem aktuellen, als farblos geltenden Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu gelingen wird, ihren Stimmenanteil von knapp 30 Prozent zu erhöhen und wirklich die Massen zu bewegen. Zu ideologisch engstirnig wirkt die Atatürk-Partei, zu sehr auf Säkularismus und Westannäherung fixiert, um eine Gesellschaft zu erreichen, die sich in Umfragen immer wieder mehrheitlich als religiös-konservativ charakterisiert. Und auch die Jugend, an sich eher liberal eingestellt, hält sich vom politischen Betrieb fern. Nur drei Prozent der jungen Türken, so eine aktuelle Studie, engagieren sich in einer Partei. Für apolitisch halt Politikwissenschaftler Yunus Emre sie dennoch nicht.
    "Wenn Sie sich zum Beispiel die Gezi-Bewegung von 2013 oder die Nein-Bewegung vor dem Referendum jetzt anschauen, dann sehen Sie, dass die Jugend sehr wohl sensibel in Bezug auf die Probleme dieses Landes ist. Sie glauben nur nicht, dass sie etwas erreichen können, indem sie einer Partei beitreten. Denn sie wissen, dass die Parteien allesamt von Berufspolitikern dominiert werden. Von Leuten mit einem Karriereplan, die oft den Bezug zu den Bürgern verloren haben. Gerade junge Türken fühlen sich nicht mehr repräsentiert."
    Parteien werben um die Jugend
    Immerhin, dieses Problem haben inzwischen auch die Parteien selbst erkannt. Immer offensiver werben sie in den letzten Monaten um die Wähler unter dreißig – die fast 50 Prozent der türkischen Gesellschaft ausmachen. Mit Social-Media-Kampagnen, einer Parteiband und lachenden Kindern auf Wahlplakaten statt ernst dreinblickenden Politikern will sich vor allem die kemalistische CHP als junge, pluralistische AKP-Alternative präsentieren - und damit die sogenannte Generation Gezi anlocken.
    "Die jungen Leute sehnen sich nach einer weniger abgeklärten, emotionaleren Politik. Wir versuchen deswegen, eine andere Sprache zu benutzen, mit neuen Logos und mehr Farbe Jüngere anzusprechen", so Emre Yilmaz, Vorsitzender der Jugendorganisation der CHP in Ankara.
    Jugendliche Verkäufer von Erdogan-Bändern
    Will die Opposition Erfolg haben, dann muss sie auch die Erdogan-Anhänger erreichen. Jugendliche Verkäufer von Erdogan-Bändern (Deutschlandradio / Luise Sammann)
    Ganz schlecht stehen die Chancen der Partei dabei tatsächlich nicht. Studien belegen immer wieder: Die türkische Jugend denkt deutlich liberaler als der Rest der Gesellschaft.
    "Die Nein-Bewegung gegen Erdogans Präsidialsystem war vor allem eins: jung. Die Wahlanalysen zeigen, dass etwa 65 Prozent der jungen Türken mit Nein gestimmt haben. Nach diesem Wahlergebnis muss die Parteiführung der Jugend mehr Raum geben!"
    An der Parteispitze Männer über 60
    Doch Yilmaz weiß, dass nicht jeder in der traditionsreichen Atatürk-Partei von diesem Konzept begeistert ist. Nach wie vor tummeln sich an der Spitze der CHP vor allem Männer über 60. Der ehemalige Parteivorsitzende Deniz Baykal, der sich kurz nach dem Referendum als möglicher Gegenkandidat zu Erdogan ins Gespräch brachte, wäre bei einer Wahl im Jahr 2019 bereits über 80 Jahre alt. Dennoch: An anderer Stelle tut sich sehr wohl etwas in der größten Oppositionspartei des Landes.
    Der Istanbuler Macka-Park. Unter Schatten spendenden Maulbeerbäumen haben sich etwa zweihundert Menschen versammelt. Einige haben Plastikstühle und Picknickdecken mitgebracht, an einem Klapptisch gibt es heißen Tee und Wasser. Hatice, 59, sitzt mit ihren Freundinnen im Gras.
    "Wir sind gekommen, weil wir den Gerechtigkeitsmarsch von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu unterstützen", so die pensionierte Grundschullehrerin.
    "Jeder, der jetzt zuhause sitzt, sollte sich zwei Mal überlegen, warum er nicht hier ist. Denn nichts in diesem Land wird sich ändern, wenn wir nur dasitzen und warten."
    Oppositionsführer auf einem "Marsch für Gerechtigkeit"
    Seit dem 15. Juni befindet sich Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu auf einem rund 425 Kilometer langen "Marsch für Gerechtigkeit" von der türkischen Hauptstadt Ankara nach Istanbul. Ziel ist das Gefängnis, in dem sein Parteikollege Enis Berberoglu wegen angeblichen Geheimnisverrats in Haft sitzt. Der Ex-Journalist wird beschuldigt, der Zeitung "Cumhuriyet" im Mai 2015 Informationen weitergegeben zu haben, über geheime Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien. 25 Jahre soll er dafür nun einsitzen. Ein völlig inakzeptables Urteil, meint sein Freund und Parteikollege Hilmi Yarayici, der ebenfalls jeden Tag in den Macka-Park kommt, um auf die Ankunft von Parteichef Kilicdaroglu Ende der Woche zu warten.
    "Worum es hier geht, ist nicht nur die Verhaftung eines einzelnen Abgeordneten. Es geht um die Verhaftung der Pressefreiheit an sich, die Verhaftung der Demokratie! Die Regierung führt einen Kampf gegen alle, die nicht so leben wollen wie sie. Die Verurteilung unseres Abgeordneten ist das i-Tüpfelchen all dessen. Nun sagen wir: Es reicht."
    CHP hat lange geschwiegen
    Regierungspolitiker sehen das naturgemäß anders: Ministerpräsident Binali Yildirim etwa belehrte den ungeliebten Oppositionsführer in einer Rede darüber, dass Gerechtigkeit in der Türkei nicht auf der Straße zu finden sei. Gerichtsentscheidungen müssten akzeptiert werden. Doch auch aus AKP-fernen Kreisen gibt es Kritik. Nicht wenige fragen sich: Musste es erst einen CHP-Mann treffen, bevor es der größten Oppositionspartei im Land endlich reicht? Hätte man nicht schon für Gerechtigkeit auf die Straße gehen müssen, als es "nur" Journalisten, Wissenschaftler und Richter traf? Zumindest aber, als die Abgeordneten der prokurdischen HDP im letzten Jahr zu Dutzenden im Gefängnis landeten? Damals schwieg die CHP. Und mehr noch: Erst durch ihre Stimmen konnte die Immunität der kurdischen Abgeordneten überhaupt aufgehoben werden. Die CHP, so denken deswegen nicht wenige, hat sich ihr Grab selbst mitgeschaufelt. Dass es nun auch ihre eigenen Abgeordneten trifft, geschehe ihr ganz recht.
    Protestmarsch in der Türkei
    Protestmarsch in der Türkei (AP)
    Yasar, ein 25-jähriger Maschinenbaustudent, der seit dem frühen Morgen im Istanbuler Macka-Park sitzt, wird wütend, wenn er solche Töne hört. Genau diese Haltung, die Missgunst unter den Oppositionsparteien, so der überzeugte HDP-Wähler, spielt Erdogan und der AKP seit Jahren in die Hände. Deswegen verteidigt er den Marsch:
    "Ja, vielleicht gibt es in unserer Gesellschaft eine Tendenz dazu, Unrecht immer erst dann zu erkennen, wenn es einen selbst trifft. Natürlich hätte Kilicdaroglu seinen Marsch schon viel früher antreten müssen. Aber was zählt, ist, dass er jetzt unterwegs ist. Und das müssen wir unterstützen, egal, was davor war."
    Historische Übereinstimmung der Opposition
    Wie Yasar denken viele, die heute in den Macka-Park gekommen sind. Um die alten Gräben zu überwinden und möglichst viele Erdogan-Gegner zusammenzubringen, findet der aktuelle Protestmarsch ohne Parteilogo statt. Nur ein einziges Wort prangt auf den schwarzen Bannern zwischen den Maulbeerbäumen im Park: Adalet – Gerechtigkeit. Sonst nichts.
    Tatsächlich haben inzwischen auch die Spitze der prokurdischen HDP und ein Teil der nationalistischen MHP Kilicdaroglu ihre Unterstützung zugesagt. Eine historische Übereinstimmung, die es in der türkischen Politik so noch nie gegeben hat. Und dennoch: Politikwissenschaftler Yunus Emre warnt vor zu viel Euphorie.
    "Was diese eigentlich entgegengesetzten Lager jetzt zusammenhält, ist und bleibt allein die Feindschaft gegenüber Erdogan und seinem Autoritarismus. Das ist ein Ziel, um das man sich versammeln kann. Aber es ist natürlich kein politisches Programm, das man als Alternative zur aktuellen Regierung sehen kann."
    Entwurf für eine neue Türkei
    Zumindest könnte es reichen, bei den Präsidentschaftswahlen 2019 einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Einen Kandidaten, den sowohl Kurden als auch Nationalisten, Linke und Rechte unterstützen, weil er nur einen einzigen Zweck erfüllen soll: Erdogan besiegen.
    "Seine Rolle würde allein darin bestehen, den jüngsten Systemwechsel rückgängig zu machen. Die Türkei von ihrem autoritären Weg abzubringen und wieder auf den Weg der Demokratie zurückzuführen."
    Danach müsste sich die Opposition allerdings erneut fragen, wie genau ein Gegenentwurf zur aktuellen Türkei Erdogans aussehen könnte. Klar ist bisher nur: Es müsste ein Entwurf sein, in dem sich zum ersten Mal in der Geschichte alle Teile der so tief gespaltenen türkischen Gesellschaft wiederfinden könnten. Auch diejenigen also, die weiterhin treu hinter Erdogan stehen.