Freitag, 19. April 2024

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Die Ukraine vor der Zerreißprobe?

Wie sich die Bilder gleichen - vordergründig. Genau vor einem Jahr war die so genannte samtene Revolution in Georgien, die zum Sturz von Altpräsident Eduard Schewardnadze führte, und zwar mit friedlichen Mitteln. Und nun dasselbe Szenario in der Ukraine? In dieser von mehr als 50 Millionen Menschen bewohnten Ex-Sowjetrepublik von der territorialen Größe Frankreichs, mit gemeinsamen Grenzen zu Russland, Weißrussland, Polen, Moldawien und einem langen Küstenstreifen am Schwarzen Meer? Nein, es gibt einen wichtigen Unterschied. Die alte Macht in Kiew, verkörpert vom amtierenden Staatspräsidenten Lenid Kutschma und dem vom Machtapparat zum Sieger ausgerufenen Kandidaten Viktor Janukowitsch, Kutschmas Kronprinzen, klammert sich an die Macht, und sie klammert sich fest daran. Wiktor Juschtschenko, der angeblich unterlegende Kandidat, der sich durch massive Wahlmanipulationen um den Sieg gebracht sieht, will nicht einlenken und sieht sich durch westliche Wahlbeobachter in seinem Verdacht auch ausdrücklich bestätigt. Westliche Wahlbeobachter, speziell aus den Reihen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, sie haben ganz besonders Wladimir Putin geärgert, den russischen Präsidenten, der schon vorgestern seinem Lieblingskandidaten Janukowitsch gratuliert hatte, kaum begannen sich für den die positiven Tendenzen zu erhärten. Gestern dann, als der Pro-Juschtschenko-Widerstand in der Ukraine nicht nachlassen wollte und die westliche Kritik zu- statt abnahm, reagierte das russische Staatsoberhaupt noch während eines Besuches in Portugal ausgesprochen verärgert an die Adresse des Westens:

Von Florian Kellermann und Tatjana Montik | 24.11.2004
    Alles muss auf der Grundlage des Rechts bleiben. Die Ukraine ist ein großer europäischer Staat mit einem entwickelten Rechtssystem. Sie zu belehren ist unnötig. Sie kann anderen etwas beibringen. Was die OSZE-Beobachter betrifft, die sollten an ihre Aufgaben sorgfältiger und begründeter herangehen. Wenn jemand weiterhin versuchen wird, die OSZE als Mittel seiner Politik zu benutzen, um taktische Ziele zu erreichen, die nicht immer begründet sind, dann wird diese Organisation auf der internationalen Ebene auch künftig noch mehr an Einfluss und den Sinn ihrer Existenz verlieren.
    Soweit Wladimir Putin, der, wenn auch aus einer anderen Sicht, alles andere als zufrieden zu sein scheint mit den Wahlen in der Ukraine und seinen Ärger in recht ungewöhnlicher Weise formuliert hat. Wie es zu der gegenwärtigen Situation dort gekommen ist, speziell in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang, erfahren Sie jetzt aus dem Beitrag von Tatjana Montik und Florian Kellermann:
    Die Ukraine befindet sich de facto im Ausnahmezustand. Auf den Straßen von Kiew und in der ganzen Ukraine demonstrieren seit Montag Hunderttausende gegen die Präsidentenwahl am vergangenen Sonntag. Betriebe und Universitäten im Zentrum und im Westen des Landes streiken. Die Wahl am Sonntag hat die Ukraine an den Rand einer Spaltung geführt. Zahlreiche Stadträte im Zentrum und im Westen des Landes – darunter Kiew und Lemberg – erklärten, dass sie in Zukunft nur noch Anweisungen vom Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko akzeptieren würden. Diese Spaltung verläuft auch mitten durch den ukrainischen Staatsapparat. Der Sprecher des Außenministeriums erklärte gestern etwa, seine Behörde halte Wiktor Juschtschenko für den neuen Präsidenten der Ukraine. Die Eskalation der politischen Auseinandersetzung bahnte sich bereits vor einigen Wochen an. Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentenwahl vor einem knappen Monat zögerte die Wahlkommission die Verkündung der Wahlergebnisse ganze zehn Tage hinaus. Irina Bekeschkina von der Stiftung "Demokratische Initiativen" ist überzeugt, dass dafür eine eilig beschlossene massive Wahlfälschung verantwortlich sei.

    Die Regierung hatte der Wahlkommission befohlen, die Auszählung müsse mindestens 42 zu 38 Prozent zugunsten von Janukowitsch ausgehen. Aber das wollte der Kommission einfach nicht gelingen. Deshalb wurde die Verkündung des Ergebnisses so lange hinausgezögert. Außerdem konnte Juschtschenko dem ukrainischen Gesetz zufolge seinen Wahlkampf nicht fortsetzen, solange kein amtliches Endergebnis vorlag. Das Ziel der Verzögerung war deshalb auch, Juschtschenkos Wahlaktivitäten auf ein Minimum zu reduzieren.
    Die ukrainische Öffentlichkeit, meinen die Politologen, hätte diese Taktik durchschaut. Nachdem die Wahlkommission Juschtschenko mit einem halben Prozent Vorsprung zum Sieger erklärte, nahm der Wahlkampf deshalb eine regelrechte Kehrtwendung. Für die Stichwahl erklärten viele von Juschtschenkos bisherigen Gegnern jetzt ihre Unterstützung für den Oppositionellen. Am einflussreichsten unter ihnen ist der Vorsitzende der Sozialisten Alexander Moros, der im ersten Wahlgang knapp sechs Prozent der Stimmen erhielt. Mindestens ebenso große Bedeutung für die Wähler dürfte gehabt haben, dass auch Prominente wie die Gebrüder Klitschko und die Eurovisions-Siegerin, die Pop-Sängerin Ruslana, nun öffentlich für Juschtschenko eintraten.

    Dazu kam, dass die Mannschaft von Wiktor Juschtschenko einige überaus werbewirksame Einfälle hatte. Sie machte die Farbe Orange zu einem Symbol für den politischen Wandel. Dass die Stichwahl am Sonntag massiv gefälscht wurde, daran besteht für die OSZE kein Zweifel. Die Organisation erklärte in ihrer Stellungnahme:

    Diese Wahl hat eine große Zahl an internationalen Standards für demokratische Wahlen verletzt. Der Missbrauch der Regierungsgewalt zugunsten des Ministerpräsidenten hat sich ebenso fortgesetzt wie die überaus große Voreingenommenheit der Medien zu seinen Gunsten.
    Bei der Wahlfälschung dürfte die Abstimmung mit einer speziellen Art von Wahlscheinen besonders ins Gewicht gefallen sein. Diese Scheine bekommen Bürger, die am Wahltag nicht in ihrem Stimmbezirk wählen wollen. Hunderte Busse fuhren vor allem durch die östliche und südliche Ukraine. Deren Insassen benutzten ihre Wahlscheine nicht nur in einem Wahllokal, sondern mehrmals. Nur so ist es zu erklären, dass zum Beispiel im Donezker Verwaltungsgebiet die Wahlbeteilung bei dann über 96 Prozent lag. Nach Einschätzung der OSZE wurden wenigstens fünf Prozent aller Stimmen über diese Wahlscheine abgegeben. Da es in der Ukraine kein zentrales Wahlregister gibt, kann man nicht überprüfen, ob manche Bürger mehrmals abstimmten. In vielen Wahlkreisen des Ostens wurden die Vertreter der Opposition nach Schließung der Wahllokale aus dem Gebäude gedrängt. Unbekannte übergossen volle Wahlurnen mit Säure oder Klebstoff. Bereits am Montag erklärte die Zentrale Wahlkommission Wiktor Janukowitsch de facto zum Sieger der Wahl. Nach Auszählung von über 99 Prozent der Stimmen habe er einen Vorsprung von etwa drei Prozent. Die Opposition machte daraufhin ihre Ankündigung wahr und rief die Menschen auf die Straße.
    Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die Protestaktionen gestern Abend. In der Innenstadt von Kiew versammelten sich um die 300.000 Menschen. Der Unabhängigkeitsplatz, wo Juschtschenkos Partei "Nascha Ukraine" eine Rednerbühne aufgebaut hat, war vollkommen in die Farbe Orange – die Farbe der Opposition in diesem Wahlkampf – gehüllt. Vielen Menschen standen die Tränen in den Augen – vielen hätten solche Massenproteste nicht für möglich gehalten. Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch tat diese Kundgebungen in einem Fernsehinterview als Werk einer Minderheit ab.

    Eine kleine Gruppe von Radikalen ruft jetzt die Menschen auf die Barrikaden – mit einem einzigen Ziel: die Ukraine zu spalten. Sie brechen dabei eindeutig das Gesetz. Sie wollen ein lange vorbereitetes Szenario verwirklichen und versuchen, unsere Jugend da mit hineinzuziehen.
    In der Nacht zu heute wäre es vor dem Gebäude der Präsidialadministration beinahe zur Eskalation gekommen. Juschtschenkos politische Verbündete Julia Timoschenko rief die Demonstranten zum Sturm auf die Präsidialadministration auf. Dort sahen sich die Anhänger der Opposition jedoch einer Spezialeinheit der Polizei gegenüber. Julia Timoschenko berichtete später, unter den Uniformierten seien auch russische Staatsbürger gewesen.

    Tatsache ist jedenfalls, dass die Regierung in Moskau höchstes Interesse am Ausgang der Wahl in der Ukraine hat. Wladimir Putin machte seine Unterstützung für den Regierungskandidaten Wiktor Janukowitsch wiederholt deutlich. Putin favorisiert Janukowitsch vor allem deshalb, weil er sich von ihm eine engere Zusammenarbeit der beiden Länder erhofft. Über die Pläne für eine Zoll- und Währungsunion wird in Moskau seit langem laut nachgedacht. Die westlichen Staaten reagierten erst heute auf die Wahlen in der Ukraine. Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte im Bundestag, die Wahl in der Ukraine sei gefälscht worden. Es gebe keinen Grund dafür, an der Erklärung der OSZE zu zweifeln. Der EU-Beauftrage für die Außen- und Sicherheitspolitik Chavjer Solana erklärte, eine Wahlfälschung werde sich negativ auf das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Ukraine auswirken. Er deutete indirekt an, die Ukraine könne in Zukunft ebenso isoliert werden wie derzeit Weißrussland. Das US-State-Department rief die ukrainische Regierung auf, das endgültige Wahlergebnis solange nicht zu verkünden, bis nicht die Beanstandungen der Opposition untersucht seien.

    Ich schwöre, meinen Pflichten als Präsident im Interesse aller Bürger der Ukraine gewissenhaft nachzugehen sowie das Ansehen der Ukraine bei der internationalen Staatengemeinschaft zu heben.
    Am gestrigen Nachmittag unterstrich Wiktor Juschtschenko mit diesem Schwur seinen Anspruch auf den Präsidentensessel mit einem symbolischen Akt. Vor 190 Oppositions-Abgeordneten legte er im ukrainischen Parlament einen Eid auf die Verfassung ab. Die erhoffte Mehrheit der insgesamt 450 Abgeordneten konnte Juschtschenko allerdings nicht zusammenbringen. Die Kommunistische Partei etwa verweigerte ihre Teilnahme an der Zeremonie.

    Die Protestaktionen in Kiew werden in erster Linie von Jugendlichen getragen. Die Organisation "Para" - zu deutsch: "Es wird Zeit" - organisierte mit anderen zusammen ein Zeltlager, das seines Gleichen sucht. Mitten auf der Kiewer Flaniermeile "Chreschatik" stehen seit Montag morgen dicht an dicht über 1200 Zelte. Neben der ukrainischen wehen die Fahnen von Weißrussland und Polen über den Eingängen. Mindestens 1000 jugendliche Janukowitsch-Anhänger sind aus dem ostukrainischen Donezk in die Hauptstadt gekommen, um den anderen, den orangefarbenen Demonstranten Paroli zu bieten. Auch sie haben nun damit begonnen, eine Zeltstadt aufzubauen. Die Überzeugung, mit der die Donezker für ihren Kandidaten kämpfen, ist mit der Stimmung bei "Para" jedoch nicht zu vergleichen. Mischa, ein 29-jähriger Programmierer, sieht zwischen den beiden Personen eigentlich keinen Unterschied. Mit einer Ausnahme:

    Janukowitsch wird von Russland unterstützt und verspricht uns die doppelte Staatsbürgerschaft. Juschtschenko dagegen will sich nach Westen orientieren und der Westen, vor allem die USA, sind ganz einfach unser Feind. Russland, das ist ein uns verwandtes Land. Eigentlich ist das eher meine Heimat als die Ukraine, obwohl ich hier geboren bin. Außerdem ist ein Wirtschaftsbündnis mit Russland viel günstiger als mit den USA. Die Amerikaner brauchen uns nicht, es sei denn als Absatzmarkt. Das sind einfach unsere Feinde.
    Der Zustand der Zeltbewohner von "Para" wird indes immer kritischer. Schon gestern meldeten sich viele im Sanitätszelt – mit Husten und mit Fieber. Igor, der Kommandant, ist aber überzeugt davon, dass die Jugendlichen es bald durchgestanden haben.

    Jetzt stehen wir bald den dritten Tag hier. Noch einmal drei Tage – und Wiktor Juschtschenko wird Präsident sein.

    Baag: Tatjan Montik und Florian Kellermann waren das aus Kiew. Was bedeuten die Ereignisse dort in der Ukraine für die Zukunft dieses Landes, vor allem nachdem die amtierende Wahlkommission den Vorsprung von Wiktor Janukowitsch heute noch einmal bestätigt hat. Eine Frage, die ich heute Nachmittag an den Osteuropa-Historiker und Ukraine-Spezialisten Rainer Lindner von der Universität Konstanz weitergegeben habe.


    Lindner: Zunächst denke ich, können wir sagen, wir stehen in der Tat an einem Scheideweg in der jüngeren ukrainischen Geschichte. So etwas hat es noch nicht gegeben, das hat das Land noch nicht erlebt. Hier sind Menschen auf die Straße gegangen, die bis vor kurzem noch an alle die Dinge geglaubt haben, die wir aus dem Fernsehen, vor allem aus dem Ersten Kanal, empfangen haben. Das lassen sie sich nicht länger bieten, und das ist eigentlich die wichtigste Botschaft dieser Woche, dass die Menschen zurückfinden zu einer Art Bürgerbewusstsein, dass sie erkennen, dass sie nicht allein sind, dass sie sehen, dass der Gang auf die Straße, dass die Bewegung von vielen Menschen auch etwas bewirken kann. Nämlich die Verzögerung der Wahlergebnisse und deren Bekanntgabe zeigt, dass die Macht unsicher ist, dass die Machthaber nicht in der Lage sind, dieses Ergebnis offen bekannt zu geben. Das zeigt, dass auch die internationale Reaktion auf diese unglaublichen Ereignisse sehr förderlich sind, sehr stark die Demokratiebewegung in diesem Land tragen. Das ist den Menschen bewusst, und das ist neu.

    Baag: Heißt das, dass Juschtschenko sich am Ende durchsetzen kann?

    Lindner: Das wäre ein Vorgang, den wir heute noch nicht absehen können. Es wäre im Bereich des Möglichen. Es hängt damit zusammen, weil Janukowitsch erkennen muss, dass er ein sehr schwacher Präsident wäre sowohl im Inneren, vor allen Dingen aber nach außen. Er wäre auf keinem Parkett dieser Welt - mit Ausnahme des Moskauer und des Minsker Parketts - eigentlich ein wohlgelittener Gast. Insofern wäre ein Sieg Juschtschenkos im Bereich des Möglichen. Ich glaube im Moment noch nicht daran, dazu steht viel zu sehr die Machtfrage auf dem Spiel, dazu steht viel zu viel Geld auf dem Spiel, was neu zu verteilen ist. Da sind auch die Oligarchen nicht ganz unbeteiligt, die sich um ihre illegal angehäuften Reichtümer betrogen sehen würden.

    Baag: Welche friedlichen Lösungen dieses Konfliktes sind denn denkbar?

    Lindner: Die Neuauszählung wäre der erste wichtige Schritt, den beide Seiten zugeben müssten. Das wäre ein Schritt, der noch einmal vergegenwärtigen würde, in welcher dramatischen Weise Manipulationen stattgefunden haben. Es gibt inzwischen durch die Berichte der OSZE, des Europarates und anderer Gremien eindeutige Hinweise auf diese massiven Verstöße gegen internationales Wahlrecht. D.h. hier muss auf jeden Fall die Transparenz gegeben sein, um ein solches Ergebnis überhaupt anerkennenswert erscheinen zu lassen. Es zeigt sich ja, dass eine politische Lösung heute zum gegebenen Zeitpunkt nicht im Bereich des Möglichen steht. Präsident Kutschma hat das Gespräch, was er anberaumt hatte, großherzig wieder abgesagt. Er sei nicht bereit, mit Juschtschenko zu verhandeln. Diese Seite wiederum sagt, sie verhandele nur über eine Machtübergabe. Insofern sind die Fronten zum gegenwärtigen Zeitpunkt verhärtet, dasselbe gilt für die gestrigen Vorgänge im Parlament. Auch dort kam es zu keinem wirklichen Dialog beider Seiten. Im Moment regiert die Straße, das wird auch noch ein paar Tage andauern, vermute ich.

    Baag: Das führt natürlich - überspitzt formuliert - zu der Frage, ob Gewalt eigentlich noch möglich, noch denkbar ist. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie das nicht ausschließen.

    Lindner: Leider können wir das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausschließen. Wir sehen Bilder, dass an den Stadträndern von Kiew massive Kräfte sich zusammenziehen, Busse sind gesichtet worden mit uniformierten Personen. Inzwischen schlagen auch die Anhänger Janukowitschs in der Stadt Zelte auf und beginnen ein zweites Zeltlager zu errichten. Die Truppen sind marschbereit. Das ist im Grunde die bedenklichste Botschaft des heutigen Tages.

    Baag: Lassen Sie mich da einhaken - es gab vorhin eine Agenturmeldung mit einer für mich auf den ersten Blick etwas ominöse Ankündigung des ukrainischen Verteidigungsministers Kusmuk, wonach sich die Armee, die Streitkräfte verfassungskonform verhalten würden. Könnten Sie diese Aussage interpretieren?

    Lindner: Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in der Generalität der ukrainischen Streitkräfte ein hohes Maß an Professionalität herrscht. Es gibt dort nicht mehr in erster Linie die Betonköpfe wie aus den Zeiten der Sowjetunion. Wir sind mit vielen dieser Generäle im Dialog gewesen im letzten Jahr. Die kennen die Auffassungen des Westens, die wissen auch um die Brisanz der gegenwärtigen Situation. Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Ein erster Schuss, eine erste Handgreiflichkeit wie in den Straßen am Chreschatik und um sie herum entstehen würde, ein erstes Übergreifen auch der Milizen würde einen Flächenbrand in dieser und in anderen Städten auslösen. Das kann und soll niemand versuchen, und insofern hoffen wir auf die Weitsichtigkeit der Militärs, wir hoffen, dass die Ankündigung Kusmuks, nur die Verfassung zu achten und Ruhe zu bewahren, auch in den Truppen um sich greift und womöglich auch das Übertreten einiger Einheiten auf die Seite der Demonstranten bewirkt.

    Baag: Sind denn Gerüchte, wonach russische Milizsoldaten, also die Sonderabteilung OMON beispielsweise, in ukrainischen Uniformen schon gesichtet worden sein soll, sind das zielgerichtet gestreute Gerüchte, um die Lage unübersichtlicher zu machen oder halten Sie so etwas sogar für denkbar?

    Lindner: Zunächst sind es Gerüchte. Es gibt keine bestätigten Meldungen über Truppenbewegungen aus Russland oder aus russischen Standorten innerhalb der Ukraine in Richtung Kiew. Wir sollten uns auch nicht an Spekulationen beteiligen, wir können nur hoffen, dass dies nicht der Fall ist. Denn andererseits wäre es ein Fanal auch der neueren russischen Geschichte und einer Position des Eingreifens in einen anderen - zunächst zivilen - Konflikt. Das hat es nicht gegeben, und das darf es auch nicht geben. Insofern hoffen wir, dass es bei den Gerüchten bleibt.

    Baag: Kann, soll die EU, soll die Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine jetzt irgendwie Flagge zeigen, sich engagieren?

    Lindner: Ja, das ist überfällig. Es gibt auch in der ukrainischen Opposition die Auffassung, dass gerade im Vorfeld der Wahlen die EU zuwenig Flagge gezeigt hätte. Im Unterschied zu Russland beispielsweise. Putin war zweimal in den letzten zwei Wochen in Kiew, das ist eine ganz eindeutige Positionsstellung Russlands. Das hat die EU versäumt, man hat es nicht für nötig gehalten, sich an der Seite Juschtschenkos im Vorfeld der Wahlen zu zeigen. Sicherlich mit einer - wie ich meine - falschen Rücksicht auf Russland. Das ist überfällig. Es ist notwendig, dass die Außenminister sich gerade auch auf dem Russland-EU-Gipfel dazu äußern. Es ist notwendig, wie es auch in Berlin bereits erfolgt ist, dass der ukrainische Botschafter jeweils einbestellt wird und die Positionen der Länder entgegennehmen kann. Das sind Positionen, die wichtig sind, die auch vom Europarat, von der OSZE bis hin zur Nato geteilt werden.

    Baag: Rainer Lindner war das, Osteuropa-Historiker und Ukraine-Spezialist an der Universität Konstanz. Herr Lindner, vielen Dank für das Gespräch.