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Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung

Die Hamburger Autorin Katharina Hagena ist bisher vor allem als Literaturwissenschaftlerin in Erscheinung getreten. Jetzt hat Katharina Hagena ihren ersten eigenen Roman vorgelegt: "Der Geschmack von Apfelkernen". Und mit diesem Debüt ist ihr auf Anhieb ein Bestseller gelungen.

Von Christel Wester | 07.07.2008
    "Wenn ich ein Schlagwort haben müsste, dann würde ich es natürlich Familienroman nennen. Ich weiß vieles, was es nicht ist: Es sicherlich kein Großstadtroman und es ist auch kein Global-warming-Roman und es ist auch nicht unbedingt ein Bildungsroman. Also bleibt das als Kategorie, wenn man kategorisieren möchte."
    Vielleicht möchte man das, weil er so seltsam aus der Zeit gefallen wirkt dieser Roman, der in einem kleinen norddeutschen Dorf spielt, in einem alten verwinkelten Haus mit einem halbverwilderten und irgendwie auch verwunschenen Garten, in dem seltsame Dinge vor sich gehen.

    " Tante Anna starb mit sechzehn an einer Lungenentzündung, die aufgrund ihres gebrochenen Herzens und des noch nicht entdeckten Penizillins nicht heilen konnte. Ihr Tod trat an einem Spätnachmittag im Juli ein. Und als Annas jüngere Schwester Bertha daraufhin weinend in den Garten rannte, sah sie, dass mit Annas letztem rasselndem Atemzug alle roten Johannisbeeren weiß geworden waren. "
    Gleich zu Beginn des Romans weiß man nicht so recht, woran man ist: Johannisbeeren, die ihren Farbe verlieren, wenn ein junges Mädchen stirbt - eine Natur also, die auf Menschenschicksal reagiert. Das steht unter Kitschverdacht. Doch gleichzeitig besticht die Erzählerin mit ihrem lakonischen Stil, der sie ganz klar ausweist als eine Vertreterin eines durchaus handfesten Pragmatismus.

    " Seitdem gab es nur noch schwarze und weiße Johannisbeeren im Garten meiner Großmutter, und jeder weitere Versuch, einen roten Busch zu pflanzen, schlug fehl, es wuchsen nur weiße Beeren an seien Zweigen. Doch niemand störte sich daran, die weißen schmeckten beinahe ebenso süß wie die roten, beim Entsaften ruinierten sie einem nicht die ganze Schürze, und das fertige Gelee schimmerte in geheimnisvoll-fahler Durchsichtigkeit."

    Dass dieser fahle Johannisbeergelee irgendwann im Heimatmuseum landet, gehört zu den ironischen Schachzügen der Autorin, die allerdings auch dafür sorgt, dass die emotionalen Naturregungen nicht auf die Johannisbeeren beschränkt bleiben. Auch Apfelbäume blühen zur Unzeit oder tragen plötzlich mitten im Juni reife Früchte, weil sich Paare unter'm Laubdach geliebt haben.

    "Die Natur ist nun mal einfach eine Projektionsfläche. Und das ist auch ein literarischer Topos, in den ich mich auch stellen möchte. Und ich find es legitim, dass dieser Garten vielleicht das ausagiert, was die handelnden Personen nicht tun können. Da bin ich in guter Gesellschaft."
    Die Literaturwissenschaftlerin weiß, was sie tut und darum gelingt es ihr, peinliche Manieriertheiten zu vermeiden. Selbstbewusst und durchaus selbstironisch spielt sie mit dem traditionsreichen Symbol des Apfelbaums und hütet sich ansonsten davor, die Naturanimationen überhand nehmen zu lassen. Sie nutzt auch andere Mittel, um ihrer doch realistischen Erzählung einen fantastischen, beinahe märchenhaften Anstrich zu geben: Skurrile Fundstücke aus Haus und Garten, am auffälligsten sind die alten Ballkleider, mit denen sich die Ich-Erzählerin Iris sich in ihrer Kindheit verkleidete und in die sie auch jetzt wieder schlüpft.

    "Wenn man über Erinnerungen schreibt und viel auch über Kindheitserinnerungen, dann ist es ganz natürlich, dass vielleicht auch märchenhafte oder fantastische Elemente mit reinkommen."
    Das Hauptmotiv des Romans "Der Geschmack von Apfelkernen" ist jedoch das Vergessen. Und damit natürlich auch: das Erinnern - oder besser: die Unzuverlässigkeit der Erinnerung. Die Erzählung setzt ein mit der wohl bedrohlichsten Form des Erinnerungsverlustes unserer Zeit: der Volkskrankheit Alzheimer. Die Großmutter Bertha ist nach 13 Jahren Pflegeheim gestorben. Ihre Enkelin Iris erbt das Haus und den Garten. Nach der Beerdigung nimmt sie ihr Erbe in Augenschein und in dem alten verwinkelten Haus mit dem verwilderten Garten taucht Vergessenes und Verdrängtes wieder auf. Dazu zählen eigene Kindheitserinnerungen, aber ebenfalls Erinnerungen an die Erzählungen anderer: der Großeltern, der Mutter und der beiden Tanten. So werden Lebensgeschichten dreier Generationen miteinander verflochten. Aber Erinnerung ist episodenhaft und an Augenblicksereignisse gebunden. Und insofern erzählt Iris auch keine kohärente Familiengeschichte, sondern sie lässt sich treiben von momenthaften Eindrücken, die Vergessenes wieder ins Gedächtnis rufen. Dem spürt sie nach oder schiebt es manchmal auch wieder weg. Und immer wieder fallen ihr nur Bruchstücke ein, die Erinnerung ist nicht komplett. Die Lücken füllt sie, indem sie fabuliert. Erinnerung ist auch Erfindung und immer identitätsstiftend. Vom der Zerfall der Identität dagegen erzählt Katharina Hagena im Falle der alzheimerkranken Großmutter. Diese Passagen gehören mit zu den stärksten des Romans, es sind sensible Beobachtungen, voller Empathie, die jedoch nichts beschönigen.

    "Ich glaube, dass ich wie viele Menschen oder wie fast alle Menschen heutzutage irgendwie Erfahrungen natürlich mit dieser Krankheit gemacht habe. Und das ist sicherlich ein Thema, was mich für immer bewegen wird. Und von daher wollte ich es auch in verschiedenen Facetten aufgreifen. Also dass auch das krankhafte Vergessen, eben eine Art des Vergessens von vielen ist."
    Eine andere ist das kollektive Verdrängen. "Geteiltes Vergessen war ein genauso starkes Band wie gemeinsame Erinnerungen" heißt es einmal im Roman.

    "Das ist meine tiefe Überzeugung. Ich glaube, dass es wirklich so funktioniert. Ich glaube, dass das geteilte Vergessen, die Menschen aneinanderkettet und das gilt in einem großen politischen Rahmen genauso in einer kleinen Familie."
    Der politische Rahmen gehört jedoch zu dem weniger Gelungenen in diesem Debütroman: "Nazi" hat jemand ans Gartenhäuschen geschmiert und so einen ziemlich plumpen Fingerzeig auf den Großvater gelenkt.

    "Es gibt sie nun mal, diese Geschichte, und es gibt nun mal die Vergangenheit dieser Person. Und auch mit der muss man sich auseinandersetzen und mit der muss sich Iris auseinandersetzen, wie alle Menschen aus der Generation von Iris. Und es ist einfach auch ein Teil der Familiengeschichte."
    Aber dieser Familienroman wäre durchaus ohne Nazi-Geschichte ausgekommen, sie wirkt eher wie eine Pflichtübung und fällt entsprechend oberflächlich aus. Gar nicht oberflächlich sind dagegen die Beziehungskonstellationen, denen die Ich-Erzählerin in ihren Erinnerungsreisen nachspürt. Da geht es um zu spät eingestandene oder nicht zugelassene Liebe, um Eifersucht und unterdrückten Hass, um Verführung, um Schuld und um Tod. Katharina Hagena hat die Erinnerungssplitter sorgfältig arrangiert und sie hat präzise eine Spannung aufgebaut, die sich wie eine Spirale über wechselnde Dreiecks- und Viereckskonstellationen durch die Generationen immer weiter schraubt. Dabei geht es vorrangig um Beziehungen zwischen Schwestern und zwischen Freundinnen. Und da sind die Pubertätserfahrungen der Ich-Erzählerin Iris die besten Passagen des Buches.

    "Die lieben sich und sie hassen sich und sie quälen sich und sie küssen sich. Ich glaube einfach, dass es ein grausames Alter ist. Und ich glaube einfach auch, dass Mädchen auf eine Weise brutal zueinander sein können, gerade in ihrem Beziehungen zueinander, von der die Jungs nicht mal träumen können."

    Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen. Roman,
    Kiepenheuer & Witsch, 253 Seiten, 16.95 Euro