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Die Utopie von der gesunden Welt

Am 14. Juli 1933 beschloss die deutsche Reichsregierung das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" - in der Folgezeit wurden 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Damit knüpften die Nationalsozialisten an in Wissenschaft und Politik weitverbreitete Vorstellungen einer "erbgesunden" Gesellschaft an. Und diese lebte auch nach 1945 fort.

Von Wolfgang Dreßen | 14.07.2013
    Am 14. Juli 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, beschloss die deutsche Reichsregierung das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses": Sogenannte "erbkranke" Menschen sollten auch gegen ihren Willen "unfruchtbar" gemacht werden. Als "unwert" definiertes Leben sollte gar nicht erst entstehen.

    Deutschland entsprach damit den Zwangsgesetzen vieler Staaten. Schon seit 1908 in Indiana, 1932 bereits in den meisten Bundesstaaten der USA, in Skandinavien, teilweise in der Schweiz und in vielen anderen Staaten wurden spätestens seit den 30er-Jahren Menschen auch zwangsweise sterilisiert. Dieser Zwang sollte aber die Ausnahme bleiben. Möglichst alle Menschen sollten freiwillig an einer "erbgesunden" Gesellschaft mitwirken.

    In Deutschland war das Gesetz bereits vor 1933 von einer breiten politischen Koalition im preußischen Gesundheitsministerium vorbereitet worden. Es ging hier aber zunächst um eine freiwillige Sterilisierung. Der Gesundheitsexperte der SPD im preußischen Landtag forderte darüber hinaus bereits Zwangsmaßnahmen. Er folgte damit Vorstellungen des sozialdemokratischen Sozialhygienikers Alfred Grotjahn, der 1921 gewarnt hatte:

    "Nach vorsichtiger Schätzung dürften in Deutschland auf 100.000 Einwohner etwa 400 Geisteskranke und Idioten, 150 Epileptiker, 200 Trunksüchtige, 30 Taubstumme, 250 Verkrüppelte und 500 Lungenkranke im fortgeschrittenen Stadium anzunehmen sein, die größtenteils die Anlagen zu ihrem Leiden erblich übernommen haben. Rechnet man aber die Defekte und Körperfehler geringfügiger Art, wie etwa die Sehfehler, mit ein, so dürfte die Annahme nicht übertrieben sein, dass die Summe aller, die in irgendeiner Weise körperlich minderwertig veranlagt sind, etwa ein Drittel unserer Gesamtbevölkerung beträgt."

    Die sogenannte Unfruchtbarmachung dieses "defekten Drittels" erschien Grotjahn als geeignetes Mittel für die Zukunft:

    "Die Unfruchtbarmachung wird sich als eugenisches Mittel langsam durchsetzen und auch in der Gesetzgebung ihren Niederschlag finden, nachdem die öffentliche Meinung mehr als gegenwärtig darauf vorbereitet ist."

    Die Brauchbarkeit innerhalb des Produktionsprozesses, die Vermeidung angeblich unnötiger Kosten, die Selektion möglichen widerständigen Verhaltens blieben die Parameter, um "Minderwertigkeit" zu definieren. Ein medizinisch kontrollierter "Erbgang" sollte keinen Raum mehr lassen für die Zufälligkeit unkontrollierter Sexualität und ihrer Folgen. Grotjahn stand in der Tradition der vor dem Weltkrieg entwickelten Eugenik. Der Unternehmer Friedrich Alfred Krupp stiftete 1900 ein Preisausschreiben, in dem gefragt wurde:

    "Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?"

    Diese Deszendenztheorie behauptete eine evolutionsgeschichtliche Höherentwicklung allen Lebens. Sie blieb geprägt durch den "Kampf allen Daseins", in dem sich die Tüchtigen durchsetzten. Für die Gegenwart allerdings wurde eine Degeneration befürchtet. Es hieß, vor allem soziale Maßnahmen, aber auch falsche Rücksichten auf überholte religiöse Vorstellungen führten zur Erhaltung minderwertiger Menschen, die sich dann fortpflanzten. Preisgekrönt wurde die Schrift des Mediziners Wilhelm Schallmayer über, so der Titel, "Vererbung und Auslese". Er formulierte das seiner Meinung nach entscheidende Problem:

    "Wir werden uns […] mit der Frage befassen, ob für die weiße Rasse eine Entartungsgefahr besteht, d.h. die Gefahr einer Verschlechterung jener geistigen und leiblichen Erbqualitäten, auf Grund deren sie ihre führende Stellung in der heutigen Menschheit erlangt hat, und im Falle der Bejahung mit der Frage, ob es möglich ist, diese Gefahr zu beseitigen oder zu verringern."

    Schallmayer folgerte aus dieser Bedrohung der "weißen Rasse" die Notwendigkeit einer neuen Politik:

    "Darum ist es nötig […] dass […] der Nationalbiologie gegenüber der Nationalökonomie, sowie der biologischen Politik gegenüber der ökonomischen Politik der Vorrang gebührt."

    Diskussion über Auslese schon vor dem Ersten Weltkrieg
    Diese biologische Politik erweiterte die gesellschaftlichen Ansprüche bis in die biologische Konstitution. Diese Ansprüche zielten nicht auf Zwang. Die Menschen müssten nur aufgeklärt werden, damit sie den Forderungen entsprechen. Solche Freiheit sei aber erst gesichert, wenn die uneinsichtigen Minderwertigen auch gezwungen werden könnten, sich nicht mehr fortzupflanzen.

    Die schon vor dem Ersten Weltkrieg breite Diskussion über Auslese und Zwangsmaßnahmen verschärfte sich nach dem Krieg. Schallmayer 1918 in der dritten Auflage seiner Schrift über "Vererbung" :

    "Während die einen im Felde stehen, genießen die wegen Untauglichkeit vom Kriegsdienst Befreiten den Vorteil, ihren wirtschaftlichen und sexuellen Interessen zu dienen und […] manches leer stehende Nest besetzen zu können, werden also […] in der Fortpflanzung begünstigt."

    Die wirklich Tüchtigen seien dagegen größtenteils im Krieg gefallen und könnten sich nicht mehr fortpflanzen. 1920 erschien die Schrift des Psychiaters Alfred Hoche und des Juristen Karl Binding mit dem programmatischen Titel "Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens". Die Verfasser beschränkten sich nicht auf das Verbot der Fortpflanzung. Sie begründeten die von ihnen darüber hinaus geforderte "Vernichtung" vor allem mit aktuellen ökonomischen Argumenten. Der Mediziner Alfred Ploetz hatte schon vor dem Weltkrieg für die Tötung "lebensunwerten" Lebens plädiert:

    "Stellt es sich […] heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches und missratenes Kind ist, so wird ihm vom Ärzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet."

    Hitlers "Mein Kampf" ist besonders in seinen Passagen über "Volksgesundheit" von solcher Eugenik und der Schrift Bindings und Hoches über "unwertes Leben" tief beeinflusst. Das Gesundheits- und Tötungsprogramm der Nationalsozialisten wird den hier entwickelten Vorstellungen folgen.

    Das 1927 als Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem gegründete Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik wird bis 1945, der Kreis seiner Mitarbeiter weit über 1945 hinaus, an der Popularisierung dieser aussondernden Eugenik arbeiten. Die Wissenschaftler des Instituts genossen hohe internationale Anerkennung und wurden auch direkt von der Rockefeller Foundation unterstützt.

    Das 1933 beschlossene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Der Kommentar, verfasst unter anderem von dem Psychiater Ernst Rüdin, verband dieses Gesetz mit dem "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher" aus dem November 1933. Dieses Gesetz, so die Kommentatoren, verlange über die mögliche Unfruchtbarmachung hinaus auch eine notwendige dauerhafte "Sicherungsverwahrung". Weiterhin forderte der Kommentar im Zweifelsfall eine Unfruchtbarmachung und erweiterte noch die Begründungen:

    "Zulässig ist die Unfruchtbarmachung dann, wenn es sich um Missbildungen […] handelt, die schon für sich allein schwer störend oder entstellend sind. Dann kommen aber auch Missbildungen in Betracht, die für sich allein noch nicht genügend schwer und störend sind. Sie können sich aber mit anderen Störungen zusammen beim gleichen Menschen vorfinden und dann Unfruchtbarmachung bedingen […]"

    Die Kommentatoren verschärften über das Gesetz hinaus die soziale Auslese in ihren Bemerkungen zum "sozialen Schwachsinn":

    "Auch die Hilfsschüler, die […] vielleicht nur mit ganz wenigen Ausnahmen als mehr oder weniger debil und imbezill betrachtet werden müssen und die recht häufig sind – von den 14-jährigen Knaben großer Städte sind 4 Proz. Hilfsschüler, in manchen halbländlichen Gemeinden mit Industriebevölkerung steigt der Anteil auf 10 Proz. bis 15 Proz. […[ - dürften daher in der überwiegenden Mehrzahl an erblichem angeborenen Schwachsinn leiden und den Bestimmungen des Gesetzes unterworfen sein."

    Bloßer Verdacht ersetzt medizinische Diagnose
    "Erbgesundheitsgerichte" entschieden jetzt über die Unfruchtbarmachung. Das Entscheidungsgremium dieser Gerichte bestand aus zwei Ärzten und einem Richter. Über die Hälfte der Urteile begründete die Unfruchtbarmachung mit "angeborenem Schwachsinn". Die mit dieser Diagnose verurteilten Menschen waren schon vor 1933 in den Blick der kommunalen Fürsorgestellen und Gesundheitsämter geraten. Jetzt arbeiteten diese Institutionen eng mit den 1934 eingerichteten "Beratungsstellen für Erbgesundheitsfragen" zusammen. Diese Beratungsstellen und die niedergelassenen Ärzte stellten die Mehrzahl der Anzeigen gegen Menschen, die zwangssterilisiert werden sollten. Die meisten Opfer hatten die Hilfsschule besucht und gaben als Beruf "Arbeiter" an. Die Gutachten wiederholten die Vorurteile der Gutachter:

    "Hat Hilfsschule […] besucht […] Nach Schulentlassung immer zu Hause geblieben, da für Beruf ungeeignet. Im Allgemeinen wohl gutmütig jedoch auch jähzornig (ist bereits 2 mal gegen den Vater angegangen ). Er kann nur auswendig Gelerntes mechanisch wiedergeben. Versagt schon bei den kleinsten Denkaufgaben. Ist leidlich interessiert […] Diagnose: Angeborener Schwachsinn."

    Grundsätzlich sollten Insassen von Heilanstalten nicht unsterilisiert entlassen werden. Hier ersetzte bereits der bloße Verdacht die medizinische Diagnose. Teilweise wurden die Menschen auch ohne ihr Wissen sterilisiert. Eine Frau wird berichten, wie sie als 15-Jährige in eine "Kinderanstalt für seelisch Abnorme" eingeliefert wurde:

    "Vor der Klinik angekommen, wurde ich von einer Schwester in Empfang genommen. Ich wurde zur Operation vorbereitet. Als ich aus der Betäubung erwachte, fragte ich, was mit mir geschehen sei. Eine Schwester erwiderte, das würde ich wohl noch früh genug erfahren. In der Tat aber war hier in der Klinik […] meine Sterilisierung durchgeführt worden."

    Diese Eingriffe waren in den Personalunterlagen vermerkt und behinderten erheblich den weiteren Lebensweg. Seit 1935 waren auch Schwangerschaftsabbrüche möglich, wobei erheblicher Druck auf die Mütter ausgeübt wurde, kein "erbkrankes" Kind zu gebären. Teilweise geschahen diese Abtreibungen auch ohne Einwilligung der Frauen. Die psychischen Folgen der "Unfruchtbarmachung" dienten den Behörden wiederum als Beweis für die Korrektheit ihrer Verfahren. Einwände der Betroffenen wurden gegen sie selbst als Beweis für ihre Uneinsichtigkeit eingesetzt.

    Plakate, Ausstellungen, Filme und schulische Pädagogik sollten erreichen, dass die staatlichen Maßnahmen nicht nur gebilligt würden. Ein, wie es hieß, "erbgesundes" Volk müsse sich selbst entwickeln, ohne jeden Zwang. Dazu gehörten die negative Auslese und die positive Auslese durch "Mutterkreuz", Familienförderung oder die Propagierung eines gesunden Lebens. Diese Freiwilligkeit einer selbst bestimmten Biopolitik war aber noch nicht erreicht. Einer der Kommentatoren des Sterilisierungsgesetzes forderte deshalb 1935:

    "Der Grundcharakter des deutschen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ist die Freiwilligkeit. Hierzu muss das deutsche Volk erzogen werden."

    An dieser Freiwilligkeit arbeitete auch die Eheberatung über vermutete genetische Risiken. Der so genannte "Erbarzt" vereinigte in seiner Berufspraxis medizinische und sozialpädagogische Bemühungen. Ein Schulbuch für den Biologieunterricht an Oberschulen und Gymnasien aus dem Jahr 1940 fasste die pädagogische Argumentation zusammen:

    "Über all unserem Tun und Handeln muss die Idee der Volksgemeinschaft stehen […] Wer durch absichtliches Geheimhalten schwerer erblicher Belastung einen Ehegatten um sein Lebensglück betrügt, wer minderwertigem Nachwuchs in Gestalt von bedauernswerten Nachkommen Gestalt verleiht […] versündigt sich an seinem Volk […]."

    Nach diesem Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen für die Gemeinschaft folgten im Schulbuch die Kostenkalkulation und der Appell an das Eigeninteresse:

    "Es kostet der Geisteskranke etwa 4 RM den Tag, der Verbrecher 3,50 RM, der Krüppel und Taubstumme 5 bis 6 RM den Tag, während der ungelernte Arbeiter nur etwa 2,51 RM, der Angestellte 3,60 RM, der untere Beamte etwa 4 RM den Tag zur Verfügung haben --- Hier trägst Du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 RM."

    Der 1936 gedrehte Film "Erbkrank" zeigte möglichst abstoßende Bilder von so genannten "Irren" und kommentierte:

    "Die Summe, die bisher für diesen lebensuntüchtigen Irren gezahlt wurde, hätte vierzig armen kinderreichen Familien als Eigenkapital zu einer Siedlung verholfen […] Dürfen wir die kommenden Geschlechter mit solchem Erbe belasten? […] Der Bauer, der das Überwuchern des Unkrauts verhindert, fördert das Wertvolle."

    Die späteren Tötungsaktionen, die Vergasungen der so genannten "Irren", sind in dieser Argumentation vorbereitet. Die Ermordung solcher Menschen wird als eine Art Naturpflege erscheinen, um "lebenswertes", das heißt nützliches Leben, zu ermöglichen. Die Ausweitung dieser Definition "lebensunwerten" Lebens auf angeblich feindliche Rassen war vorbereitet. Bereits vor 1914 fürchteten deutsche Eugeniker, wie Wilhelm Schallmayer, eine Bedrohung der "weißen Rasse". Diese Genetiker nannten sich schon vor 1914 auch "Rassenhygieniker". Es ging ihnen um die so genannte "Reinheit" und die Weiterentwicklung der eigenen Rasse. Der Neurologe und Jugendpsychiater Robert Ritter, seit 1936 Leiter der "Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes", stellte fest:

    "Die Untersuchungen über die Erblichkeitsverhältnisse Asozialer und Krimineller haben ergeben, dass in der gleichen Weise wie seit Jahrhunderten neben der deutschen Bevölkerung ganze Stämme von Zigeunern leben, sich innerhalb des Volkskörpers umfangreiche Erbstämme wenig entwickelter Primitiver finden, die die Kerntruppe der Asozialen bilden […] Die Entdeckung der erblichen Brutstätten des geborenen Verbrechertums wird dem Staat die Möglichkeit geben, den Nachwuchs eines großen Teils der sozial nicht anpassungsfähigen Menschen, d.h. der Gemeinschaftsfremden zu verhüten".

    Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik war durch seinen Gründer Eugen Fischer in diese rassistische Richtung vorgeprägt. Der Anthropologe Fischer forschte bereits vor 1914 im damaligen Deutsch Südwestafrika über die Auswirkungen der so genannten "Rassenmischung".

    Otmar von Verschuer - einflussreicher Humangenetiker vor, während und nach der NS-Herrschaft
    Die 1933 begonnene Aussonderung der als "Juden" definierten Menschen wurde schließlich auch in den medizinischen Fachzeitschriften unterstützt. Der schon vor 1933 einflussreiche Humangenetiker Otmar von Verschuer, seit 1942 Direktor des Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, schrieb in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Der Erbarzt" auch über den angeblich schädlichen jüdischen Einfluss. Die vom Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands herausgegebenen "Forschungen zur Judenfrage" veröffentlichten 1938 einen Vortrag Verschuers zur "Rassenbiologie der Juden". Verschuer kam hier zu dem Ergebnis:

    "Durch die rassische Überfremdung war die Erhaltung der Eigenart unseres Volkes unmittelbar bedroht. Die völlige rassische Trennung zwischen Deutschen und Juden war deshalb eine unbedingte Notwendigkeit. Die geistig-jüdische Überfremdung suchte Lebensgrundlagen und Ausleseprinzipien einzuführen, die für die Erhaltung des Judentums förderlich waren, für unser Volk aber den Untergang bedeutet hätten."

    Dieser offene Rassismus und Antisemitismus blieb spezifisch für die deutsche Genetik. Deutschland wurde trotzdem international wegen seiner konsequenten staatlichen Maßnahmen und der intensiven genetischen Forschung bewundert. Die deutschen Genetiker stellten ihre bisherige Arbeit auf dem siebten Internationalen Kongress für Vererbungswissenschaft im August 1939 in Edinburgh vor. Verschuer betonte in seinem Vortrag, dass bisher voreilige Schlüsse über spezifische Vererblichkeit gezogen wurden. Für die Zukunft stellte er weitere Forschungen in Aussicht:

    "Auf Grund von planmäßigen Familienforschungen von Mengele an meinem Institut bin ich zu der Auffassung gekommen, dass es mehrere Erbtypen der Lippen Kiefer Gaumenspalte gibt. Zunächst ist zwischen einer allgemeinen und einer lokal begrenzten Entwicklungshemmung zu unterscheiden."

    Verschuer wird sich in Berlin von seinem Schüler und Assistenten Josef Mengele über die Menschenexperimente in Auschwitz berichten lassen. Exponate aus Auschwitz werden direkt an das Berliner Institut zur weiteren Verwendung geschickt. Die Deutsche Forschungsgesellschaft förderte solche Forschungen. Der Mediziner Ferdinand Sauerbruch begutachtete sie positiv. Auf dem internationalen Kongress in Edinburgh sprachen die deutschen Genetiker nicht über ihre rassistischen Implikationen. In Deutschland, auf der Hauptversammlung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, konnte Verschuer, ebenfalls 1939, dagegen offener reden:

    "Wir Erbbiologen […] haben mit Beglückung erlebt, dass der stillen Arbeit in Gelehrtenstube und wissenschaftlichem Laboratorium die Auswirkung im Lebens des Volkes zuteil wird […] wir bleiben in der Stille unserer wissenschaftlichen Forschungstätigkeit aus der inneren Überzeugung heraus, dass auch auf diesem Felde Schlachten geschlagen werden, die für den Fortbestand unseres Volkes von größter Bedeutung sind."

    Hier wird bereits der kommende Krieg angekündigt, der den Genetikern breiteste wissenschaftliche Möglichkeiten bot. Die Tötung der "Geisteskranken", die Menschenversuche in den Lagern, die breite Ausbeute menschlicher Körper für die Forschungsinstitute intensivierten die Erbforschungen während des Krieges. Die Ergebnisse wurden auch nach 1945 wissenschaftlich genutzt.

    Kurz vor Kriegsende flüchtete von Verschuer mit Forschungsunterlagen des Kaiser Wilhelm- Instituts auf sein Familiengut nach Hessen. Verschuer wird 1951 an der Universität Münster einen Lehrstuhl für Humangenetik erhalten. Er bleibt einer der wichtigsten Vertreter der Humangenetik auch in der Bundesrepublik.

    Nach 1945 standen die Exponenten der Eugenik in Deutschland zunächst vor dem Problem, sich distanzieren zu müssen, ohne aber die Ziele ihrer Eugenik aufzugeben. Dies gelang zunächst mit dem Hinweis auf die Gesetze anderer Staaten zur Zwangssterilisierung. Die Eugeniker konnten zudem ihre internationalen Kontakte wiederaufnehmen. Dazu war es allerdings nötig, die eigene rassistische und antisemitische Aussonderungspraxis nicht zu erwähnen. Die Mediziner verurteilten den, wie sie es nannten, nationalsozialistischen "Missbrauch", dessen Exponenten sie selbst wenige Jahre zuvor noch waren.

    Verdrängt wurden auch die Bestrebungen vor 1945, eine freiwillige Selbstauslese zu erreichen. Angeblich sei diese Freiheit jetzt erst möglich und erwünscht. Mit dieser Freiwilligkeit konnten die Genetiker ihr Programm unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen fortführen. "Humangenetische Beratungen" wurden als sozialpädagogisches Programm entwickelt. Otmar von Verschuer forderte in seiner 1968 erschienen Schrift "Eugenik. Kommende Generationen in der Sicht der Genetik":

    "Es verbleibt […] eine Verantwortung, die aufgrund der Ergebnisse der Erbforschung die Einschränkung der Fortpflanzung in bestimmten Fällen wünschen lässt. Die freiwillige Sterilisierung sollte […] ein erlaubtes Mittel sein, falls die Verhütung der Fortpflanzung auf anderem Wege nicht zu erreichen ist."

    Die Auslese eines "erbgesunden" und die Verhinderung eines als unwert definiert Lebens bleiben im wissenschaftlichen Verständnis bestehen. Solche Biopolitik soll nur, wie schon vor 1945 angestrebt, zur Angelegenheit jedes Einzelnen werden. Auch deshalb standen die Opfer der Zwangssterilisierungen vor dem Problem, nicht als Opfer anerkannt zu werden. Etwa 400.000 Menschen waren zwangssterilisiert worden, mehr als 6000 Menschen überlebten den Eingriff nicht. Diese Menschen waren jetzt angeblich keine Opfer der NS Politik.

    Nach 1945 wurden die "Erbgesundheitsgerichte" zwar aufgelöst, 1962 erklärte der Bundesgerichtshof die Urteile der Erbgesundheitsgerichte aber für rechtsgültig, die nur bei Verfahrensfehlern aufzuheben sind. An diesen Überprüfungen waren auf wissenschaftlicher Seite nach wie vor die Humangenetiker aus der Zeit vor 1945 beteiligt. Das Gesetz zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses" aus dem Jahre 1933 wird erst 1988 vom Bundestag "geächtet", wie es im Beschluss hieß. Aber erst 1998 hob der Bundestag die Sterilisationsbeschlüsse auf. Die wenigen Versuche, in Wiederaufnahmeverfahren die Urteile der Erbgesundheitsgerichte für nichtig zu erklären, scheiterten meistens an den Gerichten. Aus dem Urteil eines Amtsgerichtes im Jahr 1955:

    "Beim Verlesen des früheren Beschlusses stört der Antragsteller durch Lachen die Verhandlung und musste durch den Vorsitzenden zur Ordnung gerufen werden. Der Antragsteller gibt zu, dass er aus dem 3.Schuljahr entlassen worden ist. Er gibt auch zu, nicht rechnen zu können […] Aber seinen Lohn könne er ausrechnen […] Der Antragsteller wird durch den Vorsitzenden darauf hingewiesen, dass auf Grund seiner geistigen Fähigkeiten der Beschluss nicht aufgehoben werden kann. Er wird darüber belehrt, dass es keine Entschädigungen oder Renten gibt."

    Diese Anträge waren zudem mit dem hohen Risiko verbunden, erneut in den Bereich staatlicher Maßnahmen zu kommen. So hieß es 1955 aus einem Regierungspräsidium über einen Antragsteller:

    "Im Übrigen rege ich an, den erneuten Verfall des Antragstellers an den Alkohol dem Amtsgericht […] mitzuteilen und das Amtsgericht zu bitten, den Antragsteller zu entmündigen."

    Verzweifelt schrieb eine zwangsterilisierte Frau 1958 an den zuständigen Regierungspräsidenten:

    "Bitte dringend um Ihre Hilfe! Schon das zweite Mal wird mir die Härte, welche in den gesetzlichen Bestimmungen liegt, bescheinigt; aber dies ist dann auch alles. Meine Verbitterung und Enttäuschung ist grenzenlos. Seit all den Jahren laufe ich als ein gezeichneter unbrauchbarer Mensch durchs Leben, nur der Liebe meines Mannes habe ich es zu verdanken, dass ich noch lebe. Wir haben unter der Kinderlosigkeit gelitten."

    Ihr Schreiben blieb vergeblich. Erst Proteste von Behindertenverbänden und einiger weniger Mediziner führten zu einer anderen Praxis. Seit 1980 kann eine einmalige Entschädigung von 5000 DM bereit gestellt werden, aber nur als eine Art Härteausgleich. Die Opfer wurden nach wie vor nicht als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung anerkannt. Seit 1988 gibt es die Möglichkeit, dass so genannte "vergessene Opfer" weitere Hilfen beantragen können. Laufende Leistungen waren aber nur möglich bei einem Grad von Behinderung von mindestens 40 Prozent. Das Bundesfinanzministerium erklärte 1989 auf Proteste:

    "Wenn für die Zwangssterilisierten die Grenze von 40 Prozent auf 25 Prozent oder gar auf Null gesenkt wird, wird eine laufende Rente für Zwangssterilisierte, wenn auch noch ein Einkommens-Freibetrag von 300 DM hinzukommt, nicht mehr finanziert werden können."

    Die Finanzbehörden bearbeiteten die Anträge unter der Federführung der Oberfinanzpräsidenten. Erst die Verlagerung der Entschädigungspraxis auf Länderebene ermöglichte in den letzten Jahren eine weitere geringe Entschädigung für die wenigen noch lebenden Opfer.

    Die Anerkennung als Opfer war auch deshalb so schwierig, weil die Maßstäbe der Eugenik aus der Zeit vor und nach 1933 weiter bestanden Dies blieb ein gesamtdeutsches Problem. In der DDR waren Zwangssterilisierte nicht als "Opfer des Faschismus" anerkannt. Maßstab war und ist die möglichst störungsfreie und kostengünstige Einordnung in Arbeit und Familie. Nicht angezweifelt wird die Feststellung angeblich nicht lebenswerten Lebens.

    Biopolitik als Selbstoptimierung: Heute ist nicht der Staat, sondern jeder Einzelne für Erbgesundheit zuständig

    Inzwischen eröffnet sich eine neue eugenische Zukunft jenseits der bisherigen pädagogischen Programme in den humangenetischen Beratungen. Alfred Ploetz, der Mitbegründer der Rassenhygiene, klagte schon vor 1914 über die noch mangelnden wissenschaftlichen Möglichkeiten, nicht erwünschte Menschen noch vor ihrer Geburt auf ihre Erbschäden zu erkennen und auszusondern. Die von den Genetikern geförderten Eheberatungen vor 1945 und die humangenetischen Beratungen in der Bundesrepublik waren nur erste Schritte, diese eugenischen Forderungen zu popularisieren.

    Die medizinischen Möglichkeiten pränataler Untersuchungen und perfektionierter Gentests ermöglichen, dass der Traum der Eugenik verwirklicht wird: Eine Gesellschaft, in der behindertes Lebens gar nicht mehr entsteht, das jetzt als "Risiko" bezeichnet wird. Biopolitik liegt jetzt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Sie entspricht einem Rationalisierungsprozess, in dem Leben nach einem gesellschaftlichen, vor allem ökonomischen Wert beurteilt wird. Diese Selbstoptimierung umfasst den Zeugungs- und Gebärvorgang und wird auch versicherungstechnisch durchgesetzt.

    Erbgesundheit als Norm schließt an die Humangenetik vor 1945 an, nur soll jetzt grundsätzlich kein staatlicher Zwang mehr notwendig sein. Diese Selbstbestimmung lässt gar kein Selbst mehr zu, das sich verweigert. Die neu entwickelten genetischen Bluttests ermöglichen in naher Zukunft ein umfassendes Kontrollsystem, das keiner staatlichen Regelung mehr bedarf. Kritiker warnen deshalb vor einer "Rasterfahndung" nach behinderten Menschen. In dieser Welt völliger Transparenz geht es nicht mehr um "Nachwuchs", sondern um die Produktion des "perfekten Kindes". Behinderte Menschen werden in der Gegenwart größtenteils nicht mehr geboren. Und es bleibt immer noch die eugenische Warnung, wie sie Gerhard Wendt, einer der Protagonisten der humangenetischen Beratung, 1974 formuliert hat:

    "Unsere Gesellschaft heute muss die aktuellen Probleme erkennen, die durch die Gefährdung unserer Erbanlagen entstanden ist. Sie muss den drohenden Gefahren durch sofort wirksame humane Maßnahmen begegnen und so einer Entwicklung vorbeugen, die anders eines Tages auch Zwangsmaßnahmen im Interesse der Erbgesundheit erfordern könnte."


    Wolfgang Dreßen ist Historiker, Politikwissenschaftler und Ausstellungsmacher. Er promovierte bei Jacob Taubes in Berlin und war im Museumspädagogischen Dienst Berlin tätig.