Samstag, 20. April 2024

Archiv


Die vaterlose Gesellschaft

Die 1960 in Graz geborene Autorin wurde schon in die Tradition von Elfriede Jelinek gestellt. Sie selbst nennt als Vorbild die österreichische Autorin Marlen Haushofer mit ihren psychologischen Familienromanen. Ein solcher ist ihr neuer Roman "Vorstadthimmel", der in Wien spielt, wo die Autorin heute lebt.

Von Eva Pfister | 30.05.2011
    Auf den ersten Blick kann es einem vor diesem Heinrich wirklich grauen. Der Zahnarzt fährt einen Lamborghini, hat sich auf Wiens teuerstem Hügel ein Designerhaus gebaut, ausgestattet mit den erlesensten Möbeln. Zur Verzweiflung seiner Frau schleppt er immer neue Prestigeobjekte an, etwa die teuerste italienische Kaffeemaschine, und den Garten gestaltet er auch ständig neu. Ob er nicht einfach nur hier leben könne, fragt ihn seine Frau gereizt. Aber genau das fällt Heinrich schwer. Um die Gefühle seiner Frau kümmert er sich nicht groß, er hat zu viel mit Arbeit und Abenteuern zu tun. Heinrich ist ein großer Frauenheld, wobei er den Frauen nicht nur tief in die Augen, sondern auch in den Mund schaut, um ihnen danach eine teure Zahnbehandlung vorzuschlagen.

    Die Kombination von Zahnmedizin und Sexualität bietet der Autorin Gabriele Kögl in ihrem neuen Roman "Vorstadthimmel" schöne Anlässe zu sprachlicher Ironie. Sie beschreibt die Arbeit des Zahnarztes mit durchaus anzüglichen Worten. So wie Heinrich Wert darauf legt, den Frauen einen Orgasmus zu verschaffen, so sorgfältig arbeitet er auch in seinem Beruf.

    "Heinrich konnte es so schmerzarm wie kaum ein anderer. Jahrelang hatte er sich damit beschäftigt, er hatte akribisch nach jenem Punkt im Zahnfleisch gesucht, der am wenigsten empfindlich ist. Er traf ihn fast immer. Er hatte das absolute Gefühl für den schmerzlosen Punkt. Dann wartete er geduldig. Das taten die wenigsten Zahnärzte. Sie wollten Zeit sparen. Schnell, schnell, das Wartezimmer ist voll. Heinrich nahm sich immer Zeit, er wartete, bis die Spritze ihre volle Wirkung entfaltete. Erst dann spritzte er ausgiebig und mit vielen kleinen Stichen den restlichen Bereich der Nerven ein."

    Die österreichische Autorin hat ihrem Protagonisten aber nicht nur wegen der erotischen Implikationen den Beruf des Zahnarztes verpasst, sondern:

    "Weil es für mich ein klassischer Beruf eines Aufsteigers ist. Leute, die von unten kommen und sich überlegen, sie möchten einen Job, womit sie viel Geld verdienen, ist das eigentlich das Erste, was ihnen einfällt."

    Die weibliche Protagonistin von Gabriele Kögls Roman ist Heinrichs ständige Geliebte Margot. Sie ist freie Rundfunkautorin, und er kann sie auf eine "schwache Stunde", wie er es nennt, besuchen, wann immer es ihm passt. Die Zwei sind sexuell perfekt aufeinander eingespielt, und das Verhältnis funktioniert über längere Zeit problemlos. Bis zum Moment, da Margot schwanger wird. Heinrich ergreift sofort die Flucht, denn das Kind kann sein perfekt austariertes Leben gefährden. Er will seine äußerlich intakte Familie behalten, er liebt seine Tochter über alles und will ihr eine Kindheit bieten, wie er sie selbst nicht hatte.

    "Meine ursprüngliche Frage war, warum gibt es Menschen, die ein Kind lieben und ein anderes Kind gar nicht lieben. Dem wollte ich nachgehen und hab versucht, einen Menschen zu finden, anhand dessen ich mir das erklären kann. Da bin ich Heinrich immer näher gekommen und habe halt auch in seinen Abgründen gewühlt und in seiner Kindheit gewühlt, und ich denk mir, so kommt so etwas zustande, dass man einfach ausblendet und wegschaut und so sehr konzentriert ist auf das, was man erfüllen will. Also für mich ist es ja im weiteren Sinn eine Ödipus-Geschichte, also er wollte ja genau das nicht!"

    Dass Margot einen Sohn bekommt, von dem Heinrich nichts wissen will, ist eine tragische Tradierung. Sein rasender Ehrgeiz, in den besten Kreisen, aus denen auch seine Frau stammt, Anerkennung zu finden, wird nicht nur von der Ärmlichkeit seiner Herkunft angetrieben. Heinrich war ein uneheliches Kind, das vom Vater entweder ignoriert oder gedemütigt wurde, und das seiner Mutter lästig fiel, als sie einen neuen Partner gefunden hatte. Deshalb ist sein Leben ein ewiges Strampeln und Klettern, er kann nicht ankommen in dem, was er erreicht hat.

    Opfer dieser Konstellation sind Margot und ihr Söhnchen Jonathan. Auch sie hat eine vaterlose Kindheit hinter sich mit einer überforderten und wenig liebevollen Mutter. Dennoch ist Margot im Roman ebenso wenig nur Opfer, wie Heinrich nur Täter ist. In ihrer naiven Emotionalität lässt sie den Dingen ihren Lauf, ohne ihre Situation zu analysieren und eventuell vorzusorgen. Sie liebt ihr Kind über alle Maßen, es ersetzt ihr den Partner, und das, noch bevor es auf der Welt ist.

    "Früher war mit dem Ende einer Liebe alles vorbei. Sie musste jemand Neuen suchen und finden, wenn sie nicht allein sein wollte. Aber dieses Mal bedeutete das Ende auch einen neuen Anfang. Sie musste sich nicht auf die Suche machen. Sie musste nur warten, bis ihr Bauch ausgewachsen war, dann käme ein kleiner Heinrich oder eine kleine Henrike und gäbe ihrem Leben eine Wendung. Noch wusste sie nicht, ob es ein Bub oder ein Mädchen war, sie wollte es nicht wissen. Sie mochte sich nicht festlegen. Wenn ihr ein Baby gefiel, egal welches Geschlecht, malte sie sich aus, dass ihres auch so aussehen werde. Dieses Mal bliebe etwas von ihrer Liebe."

    Es geht natürlich gar nicht gut. Margot wird von den Problemen überwältigt, sie verliert ihre Aufträge beim Rundfunk und sie hat keine Menschen, die sie finanziell oder zeitlich unterstützen. Man kann das lesen als Kritik, nicht gerade an der "Feigheit der Frauen", aber doch an der Naivität dieser Frau, die vielleicht zu wenig Verantwortung für sich und ihr Kind übernimmt. Aber das sieht Gabriele Kögl nicht so:

    "Ich denke, sie übernimmt genug Verantwortung für das Kind, dass man es ihr nicht vorwerfen kann, auch wenn diese Zweifel kommen, wenn sie zwischendurch nicht kann, aber ich glaub‘ sie weiß schon, worauf sie sich einlässt. Und bei Frauen gibt es halt schon den Moment des Alters. Dann wollte ich an ihr exemplarisch das Leben einer alleinerziehenden Frau zeigen, nämlich das Absacken auch. Also, er kommt praktisch aus der Vorstadt raus und schafft es bis ganz nach oben - und sie, die sich ganz gut hochgearbeitet gehabt hat, sie wohnt in einem guten Innenstadtbezirk, wandert in die Vorstadt aus ab dem Moment, wo sie das Kind kriegt und kommt immer mehr in die Armut und leidet einfach unter dem Schicksal einer alleinerziehenden Frau, um die sich keiner kümmert, das war mir schon wichtig zu zeigen in der Geschichte."

    Gabriele Kögl widmet diesem Schicksal des Abstiegs viel Zeit und Aufmerksamkeit und erzählt parallel dazu den luxuriösen, aber oft ebenso schwierigen Alltag von Heinrich. Ihren Figuren merkt man zuweilen an, dass sie als Exempel dienen müssen, aber ihre Schilderungen sind psychologisch feinfühlig - und mit Spannung aufgeladen, denn man erwartet beim Lesen ständig eine Katastrophe. Es geht aber einfach weiter. Nur dass Heinrichs Nerven schlechter werden. Er kann immer weniger verdrängen, dass seine Frau schon lange die innere Kündigung vollzogen hat und auch seine geliebte und verwöhnte Tochter immer weniger mit ihm anfangen kann. In der Pubertät wendet sie sich zunehmend anderen Menschen zu, und so sieht sich Heinrich wieder mit dem Schmerz über die Ablehnung seiner Person konfrontiert, den er schon als Kind erfahren hat.

    Heinrich erlebt also, was Margot noch bevorsteht. Denn der Roman endet mit einer ergreifenden Szene, als Jonathan noch klein ist. Ein energischer Bursche wird es werden, das zeigt sich früh, seinem Vater durchaus ähnlich. Wie sein Vater und wie seine Mutter wird er ohne Vater aufwachsen. Gabriele Kögl hat einen Roman über die vaterlose Gesellschaft geschrieben.

    Gabriele Kögl: "Vorstadthimmel". Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 278 Seiten, 17,90 Euro.