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"Die Verschiebung ist zunächst einmal richtig, allerdings noch keine Lösung"

Die Entscheidung im inneren Führungszirkel der SPD ist gefallen: Die Rente mit 67 soll vorerst ausgesetzt werden, der Einstieg soll nicht wie vorgesehen 2012 beginnen. Heute setzen sich die Sozialdemokraten mit den Gewerkschaften zusammen.

Michael Vassiliadis im Gespräch mit Dirk Müller | 23.08.2010
    Dirk Müller: Am Telefon ist nun Michael Vassiliadis, Chef der IG Bergbau, Chemie und Energie. Guten Morgen!

    Michael Vassiliadis: Guten Morgen!

    Müller: Herr Vassiliadis, wollen Sie auch lieber mit 65 Schluss machen?

    Vassiliadis: Das würde ich auch lieber. Es muss natürlich passen und insofern ist es immer eine Frage für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer, ob man erstens bis dorthin gesund bleibt, also überhaupt bis 65 arbeiten kann, und ob man dann eine Rente hat, mit der man auch ein Auskommen hat.

    Müller: Rentensystem ist kein Wunschkonzert!

    Vassiliadis: Das ist wahr und deswegen kann man auch nicht daran herumdoktern, sondern es muss natürlich eine Gelegenheit geben für jeden Arbeitnehmer, über seine lange Erwerbsbiografie sicher sein zu können, dass er dann, wenn er seinen Lebensabend und seinen Renteneingang gefunden hat, auch ein Auskommen hat.

    Müller: Doktern Sie dann jetzt mit der SPD mit?

    Vassiliadis: Ja. Zunächst einmal ist es richtig, dass wir jetzt darüber diskutieren, ob die Annahmen, die zur Rente mit 67 geführt haben, was zunächst einmal eine berechtigte Diskussion als Reaktion auf die Demografie ist, ob diese Annahmen, nämlich Beschäftigungsmöglichkeit Älterer und vor allen Dingen guter Arbeit, wirklich gegeben sind. Das scheint nicht der Fall zu sein und nach unserer Analyse ist es auch nicht der Fall. Also ist die Verschiebung zunächst einmal richtig, allerdings noch keine Lösung.

    Müller: Aber die Beschäftigungsquote der Älteren – darum geht es ja – ist doch besser geworden in den vergangenen Jahren.

    Vassiliadis: Die ist besser geworden, das ist auch gut so. Allerdings wenn man sich genauer anschaut, wo und in welchen Bereichen, dann sind das natürlich zum Teil Tätigkeiten, die nicht dazu beitragen, die Rente zu verbessern, oder von guter Arbeit zu sprechen.

    Müller: Erklären Sie uns das. Verstehe ich nicht!

    Vassiliadis: Ja. Zunächst einmal haben wir ein ganzes Regime gehabt, 20, 30 Jahre lang, in dem sich die ganze Republik, die Betriebe, die Unternehmen auf junge Leute ausgerichtet haben. Das heißt, in den Arbeitsplätzen der Industrie wollten wir vernünftige Vollzeitbeschäftigung haben. Da gibt es für ältere Arbeitnehmer nicht überall Arbeit, sondern häufig ist es so, dass es in den neuen Dienstleistungen natürlich Bewegung gegeben hat. Das sind aber Beschäftigungsverhältnisse, wo nicht immer Sozialversicherungspflicht besteht, wo nicht immer die Möglichkeit ist, einen Arbeitsplatz in dem Sinne, wie wir es verstehen, nämlich mit guter, vernünftiger Arbeit, mit ordentlicher Ergonomie, mit ordentlicher Bezahlung zu finden. Wir wollen, dass wenn man diesen Lebensarbeitszeitraum verschiebt und verlängert, dann auch in einer Tätigkeit das Ganze absolvieren kann, die eben gut ist und nicht irgendwie.

    Müller: Aber das ließe sich doch mithilfe der Gewerkschaften und der Politik bewerkstelligen?

    Vassiliadis: Genau. Das ist auch unser Ansatz. Wir als IG BCE haben ja einige tarifpolitische Schritte eingeleitet. Wir haben einen Demografietarifvertrag, wo wir in jedem einzelnen Unternehmen analysiert haben, wie die demografische Situation ist. Wir haben Gespräche mit den Arbeitgebern geführt über die Umgestaltung der Arbeitsplätze und Ausbildungsprogramme für ältere Arbeitnehmer. Das braucht aber Zeit und vor allen Dingen braucht es Bereitschaft der Arbeitgeber und auch Unterstützung der Politik. Also aus unserer Sicht muss jetzt der Grundsatzstreit beendet werden und mit dieser Gestaltung schnell begonnen werden, dann ist das durchaus machbar.

    Müller: Ich habe jetzt Schwierigkeiten, das jetzt genau auf den Punkt zu bringen, wenn ich Ihrer Argumentation folge. Das heißt, wenn sich etwas ändert in den nächsten Jahren, in den künftigen Jahren, also Verbesserung der Arbeitsbedingungen beispielsweise, eine bessere Beschäftigungsquote für die Älteren, dann sind Sie dabei bei 67?

    Vassiliadis: Dann kann man darüber reden, aber es muss natürlich an einiger Stelle noch mal sehr präzise gesagt werden: Wir reden über unterschiedliche Gruppen. Es gibt Gruppen, die werden das nicht schaffen, die sind jetzt schon an dem Punkt, dass sie noch nicht mal bis 65 gesund bleiben. Ich habe das erwähnt. Für diese Gruppen braucht man spezielle Lösungen: früherer Ausstieg, flexiblere Ausstiege. Das ist der eine Punkt.
    Der zweite Punkt ist, wenn man nach vorne schaut. Wir reden ja über einen Zeitraum, der noch Gestaltungsmöglichkeiten beinhaltet. Also für die heute noch Jüngeren braucht man einen sicheren Weg zu vernünftiger Rente und zu guter Arbeit. Da ist noch einiges zu tun, aber da haben wir auch noch ein bisschen Zeit für. Insofern Ihre Frage: Es ist nicht mit 1:0 zu beantworten, so oder so, schwarz oder weiß, sondern die Frage ist, ob man sich dann wirklich auf den Weg macht. 2015 - das, was die SPD jetzt besprochen hat, ist natürlich ein sehr kurzer Zeitraum, aber man braucht vernünftige Flankensetzungen und dann ginge das.

    Müller: Aber wenn wir wie vorgesehen 2012 mit dem System 67 einsteigen, dann reden wir über das Jahr 67 als Ausscheidungsjahr im Jahre 2029. Bis dahin ist viel Zeit.

    Vassiliadis: Das ist richtig und die sollte man auch nutzen. Nur ich bin auch nicht dafür, einfach zu beginnen damit, ohne dass man die anderen Konditionen gesetzt hat. Das ist eine Frage auch, den Menschen Vertrauen in diesen Prozess zu setzen. Wenn man sich die Grundsatzstreitigkeiten ansieht, dann ist es doch eher so, dass wir jetzt klare Punkte setzen sollten, dass wir auch wirklich in diese Gestaltung kommen, und deswegen bin ich der Meinung, es muss Druck auf dem System bleiben. Das heißt, wir sollten dann entscheiden, einzusteigen in eine etwaige Lebensarbeitszeitverlängerung, wenn wir auch die anderen Punkte miteinander besprochen haben. Insofern ist der Ansatz der SPD jetzt erst mal richtig und interessant und wenn man es auf 2015 verschiebt, ist ja auch das Kind mit der Frage Demografie und Rentenfinanzierung nicht in den Brunnen gefallen. Es ist eine Frage, von welcher Seite man beginnt.

    Müller: Aber diejenigen, die demnächst arbeiten, das werden insgesamt jedenfalls mit Blick nach vorne immer weniger sein, die müssen dann immer mehr finanzieren?

    Vassiliadis: Darüber kann man ja reden. Die Frage ist ja, wie viel Beschäftigung in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen haben wir überhaupt, weil es ist ja nicht nur die Dimension, dass die Jungen die Älteren finanzieren müssen. Das ist ein Problem, da muss man drauf achten, da haben Sie völlig recht. Aber die Frage ist: Haben wir überhaupt noch ausreichend gute Arbeitsplätze, in denen sozialversicherungspflichtige Beschäftigung absolviert wird? Und dann ist es eben – ich habe ja darüber gesprochen. Ich habe ja kein "no go" gesagt in dem Sinne, dass man über die Frage Lebensarbeitszeit insgesamt nicht reden kann, sondern die Frage ist, für wen gibt es welche Arbeit und mit welchen Möglichkeiten, gesund zu bleiben. Das sind ganz normale Gestaltungsaufgaben, die bisher in der Diskussion völlig unterbelichtet sind, und das ist der Ansatz der Gewerkschaften. Wir helfen da gerne mit, aber darüber muss man erst mal reden.

    Müller: 7:29 Uhr. Michael Vassiliadis, Chef der IG Bergbau, Chemie und Energie, bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Vassiliadis: Vielen Dank!