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Die Volksrepublik China am Scheideweg

Die Volksrepublik China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht und das größte Exportland der Welt. In vielerlei Hinsicht wirkt das Land kapitalistischer als Deutschland. Als Verbraucher haben die Chinesen alle Freiheiten. Doch dafür ist die Alleinherrschaft der Partei unantastbar.

Von Markus Rimmele | 22.01.2012
    "Der Osten ist rot, die Sonne geht auf. China hat Mao Zedong hervorgebracht. Er plant Glück für das Volk. Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes."

    Der Osten ist rot – während der Großen Proletarischen Kulturrevolution in den 1960er-Jahren nahm dieses Loblied auf Mao Zedong beinahe den Status einer Nationalhymne ein. Als Mao Zedong 1976 stirbt, hinterlässt er ein Land am Boden.

    Die Versorgungslage ist kritisch. Staat und Wirtschaft sind zerrüttet, die geistigen Eliten beseitigt. Ein funktionierendes Bildungssystem gibt es nicht mehr. Universitäten waren jahrelang geschlossen. Eine ganze Generation junger Chinesen, einst als Rote Garden aufs Land gezogen und später zwangsweise geschickt, kehrt langsam in die Städte zurück, orientierungslos. In der Gesellschaft herrscht tiefes Misstrauen. Es ist ein denkbar schwieriges und trostloses Erbe, das der neue starke Mann in Peking, Deng Xiaoping, übernimmt. Er erkennt, dass der ideologische Radikalismus China in die Sackgasse geführt hat. Er plant Reformen. Deng 1978:

    "Unsere Modernisierung muss auf Chinas Gegebenheiten aufbauen. Wir müssen von der Erfahrung anderer Nationen lernen. Aber der Erfolg anderer kann nicht einfach kopiert werden. Wir müssen unseren eigenen Weg gehen. Wir müssen einen Sozialismus chinesischer Prägung errichten."

    Die Grundrichtung ist vorgegeben: China bleibt sozialistisch. Doch es öffnet sich für Ideen von außen, auch für kapitalistische. 1978 beginnt Chinas große Reformepoche. Bauern dürfen wieder auf eigene Rechnung wirtschaften und Privatpersonen Unternehmen gründen. Der Sozialismus öffnet sich dem Kapitalismus, um am Ende wieder das sozialistische Ziel des allgemeinen Wohlstandes zu erreichen. Die Rechtfertigung für diesen ideologischen Spagat ist Deng Xiaopings Versprechen: Am Ende wird das ganze Volk reich sein.

    Lichtjahre entfernt erscheint heute das China von Mao Zedong und der Kulturrevolution. Die Volksrepublik ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht und das größte Exportland der Welt. Das Durchschnittseinkommen hat sich verneunzehnfacht. In Shanghai schießt ein Banken- und Büroturm nach dem anderen in die Höhe. Der höchste wird demnächst 630 Meter in den Himmel ragen. Im ganzen Land gibt es mehr als acht Millionen Privatunternehmen und Hunderttausende ausländische Investitionen. Kommerz und Werbung ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Geld bestimmt den Alltag, obwohl die Gehälter nach wie vor um ein Vielfaches unter denen in Westeuropa liegen. Wer im Krankenhaus nicht sofort bezahlen kann, wird oft nicht behandelt. Rund eine Million Dollar-Millionäre leben im Land. Viele führen einen ausschweifenden Lebensstil in einer Welt der Privatjets und Präsidentensuiten. China wirkt in vielerlei Hinsicht kapitalistischer als Deutschland. Doch ist es ein kapitalistisches Land?

    Deng Xiaoping sagte einst: Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache sie fängt Mäuse. In Anlehnung an dieses Bonmot, versucht der Shanghaier Geschichtsprofessor Zhu Xueqin das Phänomen China zu erklären:

    "Sagen wir mal, die kommunistische Partei ist eine Katze, dann wäre der Kapitalismus eine Maus. Katze und Maus sind natürliche Feinde. Katzen fressen Mäuse. Seit Deng Xiaoping haben die Menschen aber bemerkt: Es gibt da eine neue Art Katze. Eine Katze, die keine Mäuse frisst. Katze und Maus sind eine seltsame Beziehung eingegangen, eine Liebesbeziehung!"

    Eine Liebesbeziehung, in der aber die Katze nach wie vor dominant ist. Denn in seiner politischen Grundstruktur ist China nach wie vor kommunistisch. Der Staatsapparat, die zentrale Rolle der Partei, der Zentralismus, die autoritäre Herrschaft folgen noch immer dem alten russisch-sowjetischen Modell. Es gibt noch immer Fünfjahrespläne mit Zielmarken für die Wirtschaftsentwicklung. Das alles steckt den Rahmen ab. Nur innerhalb dieses Rahmens dürfen sich die kapitalistischen Mäuse frei bewegen. Ein Wirtschaftswunder erlebte in den vergangenen drei Jahrzehnten etwa die Stadt Wenzhou, südlich von Shanghai gelegen. In dieser Region allein sind 200.000 mittelständische Unternehmen entstanden, die vor allem Exportartikel produzieren. Auch ausländische Unternehmen durften ins Land strömen und billig produzieren. Sie brachten Technologie und Know-how. Anderswo wuchsen in nur wenigen Jahren privatwirtschaftliche Weltkonzerne heran. Ein prominentes Beispiel ist der Telekommunikationsausrüster Huawei aus dem südchinesischen Shenzhen. Das Unternehmen baut alles von Handyantennen bis zu kleinen Internetsticks. Hu Xiaohui ist ein Produktmanager in der Shanghaier Niederlassung der Firma:

    "Die Entwicklung der Firma während unserer 23-jährigen Geschichte ist beeindruckend. Wir sind jetzt in mehr als 140 Ländern der Welt vertreten. Von den 50 Topunternehmen in unserer Branche sind 45 unsere Partner. Wir erreichen mit unseren Angeboten ein Drittel der Weltbevölkerung. Bei der Gründung 1987 hatte die Firma zehn Mitarbeiter. Das Kapital betrug 3000 US-Dollar. Im Jahr 2010 stellte Huawei circa 120.000 Mitarbeiter weltweit ein. Und unser Verkaufsvolumen betrug 28 Milliarden US-Dollar."

    Chinas Privatsektor, vor gut 30 Jahren noch nicht existent, umfasst heute 75 Prozent aller Unternehmen. In den Städten arbeiten mehr als 80 Prozent der Berufstätigen in privaten Firmen. Doch das heißt nicht, dass sich die kommunistische Partei aus dem Wirtschaftsleben zurückgezogen hätte. Im Gegenteil: Staat und Partei sind in China aufs Engste miteinander verwoben. Der Arm der Partei reicht durch alle Verwaltungsebenen bis hinab in die kleinsten Dörfer. Wer in China ein Geschäft oder Unternehmen führt, kommt an den Funktionären nicht vorbei, braucht ihr Wohlwollen, etwa wenn es um Lizenzen oder Bauland geht. Korruption ist allgegenwärtig. Die kapitalistischen Mäuse sind frei, aber stets zu den Bedingungen der kommunistischen Katze.

    Je länger das Katz- und Maus-Spiel andauert, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen beiden Spielern. Zwitterwesen entstehen. Längst dürfen Privatunternehmer Mitglieder der Kommunistischen Partei werden. Und damit nicht genug. Liang Wengen ist der Gründer von Sany. Die Firma stellt Baumaschinen her. Liang ist laut "Forbes-Magazin" der reichste Chinese mit einem Vermögen von fast zehn Milliarden US-Dollar. Er wechselt nun in die Politik und soll ein einflussreiches Amt in seiner Heimatprovinz Hunan bekommen.

    Materielle Werte stehen im heutigen China hoch im Kurs. Die wirtschaftlichen Reformen haben einem großen Teil des Volkes ungeahnte Konsummöglichkeiten eröffnet. Der überbordende Materialismus, wie in dem Internetsong beschrieben, ist mittlerweile ein gesellschaftliches Thema. Während die Regierung nach wie vor jegliche oppositionelle politische Beteiligung unterbindet und ihre Kritiker mit aller Härte verfolgt, erlaubt und fördert sie den Warenkonsum. Die Chinesen haben als Verbraucher alle Freiheiten. Dafür ist die Alleinherrschaft der Partei unantastbar. Die Einführung kapitalistischer Elemente hat nicht zu einer grundsätzlichen politischen Liberalisierung geführt. Selbst im Wirtschaftsleben herrscht nur eine partielle Freiheit. Weite Bereiche sind nach wie vor staatlich dominiert und ohne Transparenz. Die Katze lässt zwar den Mäusen in vielen Bereichen Bewegungsspielraum. Doch auf den strategisch wichtigen Kerngebieten der Wirtschaft gibt die Partei keine Macht ab: Finanzwesen, Telekommunikation, Rohstoffe, Energie, Verkehr. Das ist die verschlossene Welt der großen Staatskonzerne. Der Wirtschaftswissenschaftler Li Weisen.

    "Ein großer Staatskonzern ist heute wie eine ganze Gesellschaft. Zum Beispiel die vier staatseigenen Banken, die Ölkonzerne Sinopec und Petro China oder die großen Eisenbahnkonzerne. Der Vorsitzende eines solchen Konzerns ist verantwortlich für ein ganzes Königreich. Innerhalb dieses Königreichs gibt es eine starke Hierarchie und eine große Bevölkerung."

    Einige dieser Staatsbetriebe gehören zu den größten Konzernen der Welt mit Hunderttausenden von Mitarbeitern. Schrumpfte in den ersten Jahrzehnten nach dem Beginn der Reformpolitik der Staatssektor immer weiter zusammen, scheint dieser Trend nun gestoppt zu sein. Die Regierung hat aus der ursprünglichen Masse 117 Großkonzerne entstehen lassen und baut diese mit Geldsubventionen und anderen Hilfen zu weltweit aktiven Unternehmen aus. Chinas Ölfirmen etwa sind rund um den Globus auf der Suche nach Rohstoffen. Die Eisenbahnkonzerne bauen Bahnlinien in Myanmar oder Nordafrika.

    Die Regierung und damit die Partei besetzt die Top-Posten bei diesen Giganten, sagt Li Weisen. Beobachter vermuten die reichsten Chinesen nicht auf der veröffentlichten Forbes-Liste, sondern unter den grauen Eminenzen der Staatskonzerne.

    "Wer sind die Reichen in China? Die an der Macht und in der Nähe der Macht. Viele Privatunternehmer sind nicht reich, sondern haben Schulden. Macht ist der Weg zum Geld. Und das liegt daran, dass das Machtgefüge nicht ausbalanciert ist."

    Mit den großen Staatsbetrieben hat die Regierung ein schlagkräftiges Instrument zur Hand, um die schnell wachsende Wirtschaft mit Rohstoffen, Infrastruktur und Aufträgen zu versorgen. Doch die staatlichen Kolosse bergen auch Nachteile.

    Oftmals arbeiten sie ineffizient. Wegen der bequemen Förderung durch die Regierung können sie zudem in andere Sektoren hineinwachsen und die private Konkurrenz zerstören. Sie entwickeln sich leicht zum Staat im Staate, dienen einzelnen Machtgruppen statt dem großen Ganzen. Und: Es entstehen Monopole. Die Konzerne können konkurrenzlos Preise diktieren. Ein Beispiel hierfür ist der chinesische Telekommunikationsbereich. Ein Internetanschluss kostet etwa so viel wie in Deutschland bei schlechterer Qualität und einem viel geringeren Einkommensniveau. Auch das gesamte Finanzwesen ist stark reglementiert, und das nicht nur, weil die wichtigsten Banken alle in Staatsbesitz sind. Chinas Währung, der Yuan, ist nicht frei konvertierbar, und auch der Wechselkurs ist von der Regierung festgesetzt – zum Wohle der heimischen Exporteure. Peking kontrolliert alle Geldströme, die ins Land hinein- oder aus dem Land heraus fließen. Damit schirmt die Regierung die heimische Wirtschaft vor ausländischem Spekulationsgeld und Einfluss ab.

    Das Zusammenspiel von Katze und Maus – von Kommunismus und Kapitalismus –hat China ein beispielloses Wirtschaftswachstum beschert. Die vielleicht größte Errungenschaft dieses Experimentes ist der Rückgang der Armut. Der Hunger ist heute weitgehend beseitigt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen stellte seine Hilfe für China im Jahr 2005 ein. Peking zahlt nun selbst in den Hilfstopf für arme Länder. Chinas Pro-Kopf-Sozialprodukt liegt heute deutlich vor dem der Ukraine und Ägyptens - bei einer Bevölkerung von fast 1,4 Milliarden Menschen. In der erfolgreichen Armutsbekämpfung sieht die Regierung eine Hauptrechtfertigung für ihren Machtanspruch. Premierminister Wen Jiabao.

    "China ist das Land mit der größten Bevölkerung weltweit. Seit 1978 hat sich China aus eigener Kraft entwickelt durch die Reform- und Öffnungspolitik. Wir haben die Anzahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, reduziert, von 250 Millionen auf 15 Millionen."

    In manchen ländlichen Regionen herrscht immer noch große Armut, ist die Infrastruktur nach wie vor auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Doch der Fortschritt erfasst immer mehr Gebiete. Bei verschiedenen Armutsindikatoren kann China rasante Verbesserungen vorweisen. Die Kindersterblichkeit war in den 50er-Jahren noch zehnmal so hoch wie heute. Und nach Angaben der Weltbank können mittlerweile 99 Prozent der 15- bis 24-Jährigen lesen und schreiben. Doch die Kosten für diesen sozialen Fortschritt sind hoch.

    Der Shanghaier Stadtteil Kangqiao, ganz im Südosten der Metropole. Hier wurde bei 25 Kindern Blei im Blut nachgewiesen. Im Verdacht stehen die Emissionen einer Batteriefabrik in der Nachbarschaft. Die Bewohner reden sich ihre Wut von der Seele. Bauer Chen:

    "Wir wussten nichts von der Verschmutzung. Und jetzt frage ich die Regierung: Wie konnte es sein, dass eine solche Firma überhaupt erlaubt wurde? Hier hat sich insgesamt die Umwelt verschlechtert. Hier in den Bächen gab es mal Fische, Krabben und Krebse. Jetzt lebt da nichts mehr. Das Wasser stinkt, und wir wollen noch nicht einmal damit in Kontakt kommen."

    Ein Beispiel von Zigtausenden in China. 30 Jahre Wirtschaftsboom haben die Umwelt stark zerstört. Der ökologische Schaden entspricht laut Schätzungen jedes Jahr etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Chinas kommunistisch-kapitalistisches Mischsystem erzeugt auch immer größere soziale Spannungen. Zwar geht es fast allen Chinesen heute materiell besser als vor 20 oder 30 Jahren. Doch manchen geht es nur ein wenig besser, während andere abenteuerlich reich wurden. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich gefährlich weit geöffnet. Die soziale Ungleichheit ist mittlerweile größer als in den Vereinigten Staaten. Das haben Soziologen berechnet. Der Arbeiterrechtler Liu Kaiming.

    "Zwischen 1978 und 2008 wuchs Chinas Wirtschaft jedes Jahr im Schnitt um 9,7 Prozent. Dennoch müssen 60 Prozent der Chinesen mit weniger als fünf US-Dollar am Tag zurechtkommen. Das ist doch unglaublich. Unser Wirtschaftswachstum dient nur der Regierung, der kommunistischen Partei und vielleicht dem Militär. Ich halte dies für eine Tragödie und die Wurzel all unserer Probleme."

    Die Hälfte der Chinesen lebt auf dem Land. Hunderte Millionen von ihnen zogen in den vergangenen Jahrzehnten meist vorübergehend als Wanderarbeiter in die boomenden Städte. Chinas Wachstum wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Doch ihr Wohlstand wächst nur noch sehr langsam. Nur 36 Prozent der Arbeiter geben einer neuen Umfrage zufolge an, glücklich zu sein. Die Unzufriedenheit in den unteren Schichten nimmt gefährliche Ausmaße an, sagt Liu Kaiming.

    "China sitzt auf einem Vulkan. Unter der Oberfläche brodelt es. Wir wissen noch nicht, wann und wo der Ausbruch stattfinden wird. Überall gibt es Risse. Es bedarf nur noch eines Auslösers."

    Vor allem drei Themen brennen den Menschen unter den Nägeln: die hohe Inflation, Landenteignungen ohne entsprechende Entschädigung und die weitverbreitete Korruption unter Beamten. Chinas autoritäres politisches System bietet aber keine Mechanismen an, soziale Konflikte auszutragen und zu befrieden: kaum Meinungsfreiheit, keine politische Einflussnahme. 33 Jahre nach dem Beginn der Wirtschaftsreformen steht China an einem Scheideweg. Deng Xiaopings Versprechen war: Einige sollen zuerst reich werden, damit am Ende alle reich sind. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass dieses Versprechen nicht mehr eingehalten wird. Katze und Maus haben ein ganz neuartiges System errichtet. Ein System, in dem der Staat und viele, die ihm nah sind, großen Reichtum anhäufen. Ein System, das es versäumt hat, den wirtschaftlichen auch politische Reformen folgen zu lassen, um alle Bürger stärker am Erfolg zu beteiligen. Ein System, in dem Katzen und Mäuse zu Mischwesen wurden, sich verwandelt haben in eine immer ideologiefreiere Machtelite mit großen Privilegien.