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"Die Vollidioten"
Spirale des Schwachsinns weiter gedreht

In einer Neuauflage mit neuem Nachwort des Autors gibt es nun den Roman "Die Vollidioten" von Eckhard Henscheid. Das Buch, das Kultstatus erlangte, ist weniger Satire, sondern vielmehr eine Form des Realismus, der den Stuss, den wir von uns geben, im besten Fall neu kombiniert.

Von Sabine Peters | 12.08.2014
    Der Schriftsteller Eckhard Henscheid
    Der Schriftsteller Eckhard Henscheid (picture alliance / dpa / Mathias Ernert)
    Männer um die 30 arbeiten normalerweise an ihrer Karriere und gründen eine Familie; sie werden mehr oder weniger nützliche Mitglieder der Gesellschaft. Das Personal von Eckhard Henscheids Roman "Die Vollidioten" weicht von diesem Schema ab. Das Buch wird im Untertitel als "historischer Roman aus dem Jahr 1972" bezeichnet, es erschien zuerst 1973 und wurde bald zum Kultbuch. Ein merkwürdiges Kultbuch: Es spielt im Frankfurter Nordend, im Umkreis der Gastwirtschaft Mentz; der Ich-Erzähler entwirft eine Chronik von sieben Tagen. Innerhalb dieser Zeit verliebt sich Herr Jackupp in Fräulein Czernatzke. Der Ich-Erzähler beobachtet das Geschehen, er intrigiert auch ein bisschen, aber im Grunde wird in diesem Buch nur Blödsinn verhandelt, im Grunde passiert nichts. Aber davon wird in gewählten Worten berichtet. Und das - nicht so sehr die Tatsache, dass man das Buch als Schlüsselroman um die Redaktion der Satire-Zeitschrift Pardon lesen konnte – dieser auf sprachlichen Stelzen ins Nichts laufende Stuss hat dem Buch seinen Kultstatus gebracht.
    Eigentlich war es die wilde und bedeutungsgeladene Zeit der APO, der Spontis und Feministinnen, der politischen Utopien und Demonstrationen. Henscheids Helden, die man diesem Milieu zuordnen könnte – das wird aus gelegentlichen Stichworten ersichtlich – wirken aber wie aus der Zeit gefallen beziehungsweise wie aus der Zeit gestoßen; das fängt schon damit an, dass der Erzähler ständig von ihnen als den Herren und Damen beziehungsweise Fräuleins spricht. Im Mentz spielen die Herren Karten, trinken, notieren die Namen der Damen, die sie besitzen beziehungsweise "flachlegen" möchten. Sie erregen sich in Maßen über Fräulein Czernatzke und Fräulein Majewski, die im Weiberrat tätig sind. Was will dieser Weiberrat? Er will den Sozialismus. Einige der Damen wollen vermutlich auch die Männer ausrotten, erklärt der Erzähler und fügt hinzu, Zitat: "Ich bin auch für das Gute und den Fortschritt, aber irgendwo muss natürlich eine Grenze sein, denn heraus kommen am Ende nur Unsicherheit und Umsturz. Und die Dummen sind die kleinen Sparer."
    Ein prä- oder posthistorischer Raum?
    Der unselige Herr Jackopp, dessen Versuche, Fräulein Czernatzke näherzukommen, ziemlich erfolglos sind, flucht anhaltend über den "Bruch in der Logik"; der Erzähler addiert seine Flüche, kommt auf die Zahl 24 und macht sich Gedanken, was das bedeutet, denn schließlich ist Fräulein Czernatzke gerade einmal 24 Jahre alt. Unter solchen Betrachtungen fließt die Zeit beziehungsweise besser gesagt, sie sickert so vor sich hin. Bewegt sie sich überhaupt? Die Atmosphäre des Romans wirkt, als sei man – trotz zeithistorischer Hinweise wie etwa den auf eine Demo gegen den Paragrafen 218 – in einem prä- oder posthistorischen Raum, etwa im Himmel oder in der Hölle.
    Arbeit, gar den "Fluch der Arbeit" gibt es im Grunde nicht. Da ist zwar von Büros die Rede oder von Artikelschreiben und Honorarforderungen, aber die Bereiche Arbeit und Freizeit verschwimmen. Und das nichtsnutzige Personal des Romans hat nichts Besseres zu tun, als die Zeit totzuschlagen, mit Labern und Lästern, Spekulationen, Tratsch und krausen Philosophien.
    Herr Kloßen, Nachbar des Ich-Erzählers, borgt sich mit immer neuen wirren Erklärungen Geld; der Erzähler vermutet, er wird irgendwann in eine andere Stadt ziehen und sich eine neue, unverbrauchte Gläubigerschaft aufbauen. Kloßens Existenz löst beim Erzähler weitschweifige Reflexionen aus: Zu Hause Gustav Mahlers "Lied von der Erde" hörend, nickt der Erzähler melancholisch bei der Zeile, die von der "lieben Erde allüberall" spricht. Er sinniert über die Erde, über die Menschen, über Kloßen. Dann sagt er sich: "Allüberall das Gleiche. Kannst du mir 20 Mark borgen?"
    Heruntergebrochen aufs Triviale und Banale
    Das klassisch Schöne, Gute und Wahre wird hier vorsätzlich heruntergebrochen aufs Triviale und Banale.
    Und doch hat Henscheid im Nachwort zur Neuausgabe einmal mehr betont, es sei ihm seinerzeit nicht darum gegangen, einen satirischen Roman zu schreiben. Und in der Tat: Bei der Satire geht es schließlich darum, Zu- oder Missstände anzugreifen, es geht letztlich um Aufklärung. Bei den "Vollidioten" allerdings verflüchtigt sich jeder Gegenstand oder Umstand, der überhaupt attackiert werden könnte.
    Der Ich-Erzähler selbst ist nicht besser als die übrigen Herrschaften, er dreht die Spirale des Schwachsinns nur noch etwas weiter. Sein Chronistengetue, sein bewusst altväterlicher Tonfall täuscht Sinn vor, und zwar großen. Aber das bleibt eben eine Simulation von Sinn. Diese inhaltsleere, vollmundig-tümelnde, floskelhafte, delirierende Rede ist vermutlich weniger eine Form der Satire, sondern vielmehr eine Form des Realismus. Ein Realismus, der nicht auf eine 1:1- Abbildung zielt, sondern der den überlieferten und aktuellen Stuss, den wir von uns geben, im besten Fall neu kombiniert und konzentriert.
    Leider gibt es neben wunderbar treffsicheren Passagen auch Absätze, die man getrost hätte streichen können. Da leiert und eiert das Buch vor sich hin. Und das Argument, es gehe doch gerade um diese Inszenierung des Leierns und Eierns, überzeugt nicht ganz. Denn noch der Blödsinn, das Abstruse und die Tollheit brauchen eine gewisse Spannung, sie brauchen Widerstände, um sich entfalten zu können.
    Privat und öffentlich verschwimmen
    Dann wieder ist man hingerissen von den verquasten, verworrenen Gedankengängen des Erzählers. Kurz: "Die Vollidioten" sind zwar mit den Jahren etwas älter, aber sie sind nicht alt geworden. Das beschaulich ereignislose Dasein "drinnen" in der Gastwirtschaft, während sich seinerzeit ja nun "draußen" allerhand auf den Straßen tat, mag in Zeiten, wo die Übergänge zwischen drinnen und draußen, zwischen privat und öffentlich verschwimmen, etwas märchenhaft anmuten. Die Damen und Herren Czernatzke, Kloßen und wie sie alle heißen, sitzen vermutlich heute noch wie fest gebannt im Mentz, mit einem Hauch von
    Ewigkeit umgeben. "Ewig", das ist möglicherweise die sympathische Quintessenz dieses Buch, sind nicht die großen Taten und Geschehnisse, sondern ewig und "allüberall" bleibt unser Schwadronieren.
    Eckhard Henscheid: "Die Vollidioten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972".
    Schöffling & Co, 279 Seiten, Preis: 19,95 Euro.