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Die Wagners und der Antisemitismus

Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner werden als Doppelspitze künftig die renommierten Richard-Wagner-Festspiele leiten. Der Entscheidung vorausgegangen war ein Gerangel der beiden Töchter des bisherigen Bayreuth-Chefs Wolfgang Wagner mit dessen Nichte, Nike Wagner. Nicht das erste und vermutlich auch nicht das letzte Familiendrama aus dem Hause Wagner, dessen Geschichte nun Jonathan Carrs opulenter Band "Der Wagner-Clan" beleuchtet. Hören Sie eine Rezension von Peter Kapern.

01.09.2008
    Für den größten Schönheitsfehler dieses Buches - das sei gleich vorweg gesagt - ist der Autor nicht haftbar zu machen. Jonathan Carrs Geschichte der Wagners ist aus heutiger Sicht, wenige Monate nach ihrem Erscheinen - um ein Kapitel zu kurz geraten. Um jenes, das die jüngsten Wendungen im Kampf um die Macht auf dem Grünen Hügel schildert, bis hin zur heutigen Entscheidung des Stiftungsrates. Carr, der kurz nach der Drucklegung im Frühsommer verstorben ist, hätte jedenfalls für dieses fehlende Kapitel einen fast ebenso dramen- und intrigenreichen Stoff vorgefunden wie für die 19 übrigen, die er mit feiner britischer Ironie zu Papier gebracht hat. Über fast 200 Jahre spannt sich die Chronik einer Familie, die seit Richard Wagners Tod 1883 sein Erbe, seine Musikdramen und Schriften, verwaltet.

    Seit gut einem Jahrhundert und von zwei Weltkriegen, der Nazidikatur und fremder Besatzung ungebrochen herrschen die Wagners über die Bayreuther Festspiele, hatten viele der größten und der gespenstischsten Gestalten aus Kunst und Politik zu Gast und befehden sich wie die Recken in den Musikdramen, die sie in Szene setzen. Über dieses menschliche Drama hinaus spiegelt die Wagner-Saga zugleich auf unübertreffliche Weise Deutschlands von Krämpfen geschüttelten Aufstieg, Sturz ins Bodenlose und Wiedererstarken in den letzten fast zweihundert Jahren wider.

    Jonathan Carr schildert Richard Wagners Weg vom Barrikadenbauer des Deutschen März zum Bayreuther Impressario, der keinen Bückling vor der Obrigkeit scheute, um seine Opern in einem eigenen Theater aufführen zu können. Er zeigt Wagners Antisemitismus, der dadurch nicht in milderem Licht erscheint, dass Carr ihn in den Kontext der auf dem ganzen Kontinent grassierenden Judenfeindlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt. Die Wagners und der Antisemitismus, das ist überhaupt einer der roten Fäden, die sich durch das Buch ziehen. Jonathan Carr bezeichnet ihn als den "Killerwal", den es im Laufe der Familiengeschichte immer wieder an die Oberfläche zieht. Vom Ahnherrn, der mit seiner judenfeindlichen Einstellung immer dann pragmatisch umzugehen wusste, wenn er auf jüdische Künstler angewiesen war, um seine Werke aufzuführen. Über seine Frau Cosima, die, ihrem Mann gegenüber unterwürfig bis zum Masochismus, sich als die unerbittlichere Antisemitin gerierte und als Witwe ihre Aufgabe nicht zuletzt darin fand, die Biographie des Gatten zu glätten und zu schönen, wo immer sie nur konnte. Dann war da Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners, Verfasser der unseligen "Grundlagen des 19. Jahrhunderts", die zur Blaupause des Antisemitismus der Nationalsozialisten wurde und schon vorher ihre Verehrer hatten:

    Einer, der sie nicht nur überflog, sondern so oft wieder und wieder las, dass er lange Passagen wortgetreu zitieren konnte, war Kaiser Wilhelm II., der schnell Chamberlains höchstplazierter Fan wurde "Ihr Buch dem deutschen Volke und Sie persönlich mir sandte Gott," schrieb er Chamberlain in einem langen, am Sylvestertag 1901 verfassten Brief.

    Und schließlich Winifred Wagner, wie Chamberlain aus England stammend, Schwiegertochter Richard Wagners, die Jahrzehntelang in der Villa Wahnfried wie im Festspielhaus das Zepter führte und auch "Onkel Wolf", wie er bei Wagners genannt wurde, begeistert die Türen öffnete.

    "Wir haben ihn kennengelernt 1923, und ich muss gestehen, dass ich sofort einen sehr großen und tiefen Eindruck von dem Mann hatte als Persönlichkeit. Das Auge war vor allen Dingen ungeheuer anziehend, ganz blau und ein großes, ausdrucksvolles Auge."

    Die folgenden Jahre sind das Zentrum von Carrs Familiensaga. Während Winifred, die Frau des Wagner-Sohnes Siegfried, Hitler in seiner Festungshaft in Landsberg, dem Entstehungsort von "Mein Kampf", mit Schreibpapier versorgt, begrüßt der antisemitische Mob die Festspielbesucher 1924 auf seine eigene Art:

    Im Stadtkern hatten Nazis und andere Extremisten zu Besuch weilende Juden bespuckt, Passanten judenhasserische Flugblätter in die Hand gedrückt und Gebäude mit Hakenkreuzen beschmiert.

    Von nun an geht Hitler in der Villa Wahnfried ein und aus, diskutiert im Familienkreis am Kaminfeuer über Inszenierungen und Besetzungen, besorgt mehr Geld für die Festspiele, als Ludwig II. jemals locker gemacht hatte und rettet die Aufführung der Meistersinger in den Kriegssommern 1943/44, indem er Mitglieder der SS-Division Wiking als Komparsen abkommandiert. Und außerdem hält er seine schützende Hand über die Wagner-Enkel Wolfgang und vor allem Wieland, den er als legitimen Erben des Wagner-Vermächtnisses betrachtet. Wolfgang erhält Besuch von Hitler, während er in der Berliner Charité in der Obhut von Chefchirurg Sauerbruch seine Kriegsverletzung auskuriert, und Wieland, der auf Befehl Hitlers vom Dienst in der Wehrmacht freigestellt worden war, taucht kurz vor Kriegsende in einem Forschungsinstitut ab, das in einer Nebenstelle des KZ-Flossenbürg in Bayreuth untergebracht ist. So rettet sich die Wagner-Dynastie in die Nachkriegszeit. Der Altlasten versuchte man sich en passant zu entledigen. Wolfgang Wagner kam in seiner Autobiographie zu dem Ergebnis, es gebe keinen Grund, sich reuevoll an die Brust zu schlagen. Winifred Wagner schlängelte sich fast unbeschadet, auf jeden fall aber unbelehrbar durch die Entnazifizierung, woraufhin sie sich mit Emma und Edda Göring, Frau und Tochter des Reichsfeldmarschalls, regelmäßig zum Kaffeekränzchen traf, um über "USA" zu schwadronieren, unseren seligen Adolf, wie sie Mitte der 70er kichernd dem Filmemacher Hans Jürgen Syberberg gestand:

    "Wenn Hitler zum Beispiel heute hier zur Tür rein käme, ich wäre genau so fröhlich und so glücklich ihn hier zu haben als wie immer."

    Der zweite rote Faden, der das Buch Jonathan Carrs durchzieht, schildert die familieninternen Intrigen im Kampf um die Macht am Grünen Hügel. In jeder Wagner-Generation verstoßen Eltern kaltherzig ihre Kinder, um die Erbfolge zu regeln. Angefangen bei Richard Wagners Tochter Isolde, über Friedelind Wagner, die Tochter Siegfrieds, die sich angewidert von den Nazis ins Ausland absetzte, als deren Defilee vor der Villa Wahnfried immer länger wurde.

    Zu den verstoßenen Kindern der Sippe zählt Jonathan Carr auch Wolfgangs Sohn Gottfried, der die Verstrickungen der Familie in der Nazi-Zeit aufarbeiten wollte, und dessen Schwester Eva, die zur persona non grata wurde, als sie gegen den Willen ihres Vaters an die Spitze des Festspielbetriebes strebte. Ein Schicksal, dass sie mit Wielands Tochter Nike teilte.

    Jonathan Carrs Buch enthüllt keine neuen Details der Familiengeschichte. Aber er schildert spannend und durchaus unterhaltsam die Geschichte einer Dynastie, die deutsche Geschichte, und nicht nur Kulturgeschichte, geschrieben hat. Angesichts der zahlreichen Autoren, die dies bereits vor ihm getan haben, ist der Slogan des Verlags, es handele sich um die erste umfassende Geschichte der Wagners, schlicht verwegen. Ärgerlich ist zuweilen die Übersetzung aus dem englischen Original, in der mit Penetranz aus Opernregisseuren Opernproduzenten und aus Klavierauszügen Klavierpartituren werden. Aufgewogen wird dies aber durch die treffliche Übertragung der britischen Lässigkeit, die Jonathan Carr aus der Feder geflossen ist.

    "Laß uns die Weiber draußen halten", so hatten es sich Wolfgang und Wieland Wagner geschworen, als sie sich nach dem Krieg die Macht auf dem Grünen Hügel teilten, weil keiner den anderen verdrängen konnte. Dieser Schwur gehört seit heute der Vergangenheit an. Aber das zählt zum Stoff des fehlenden Kapitels.


    Jonathan Carr:
    Der Wagner Clan. Geschichte einer deutschen Familie
    Hoffmann und Campe, 496 Seiten 25 Euro