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Die Welt als kolossales Echo

Der 1962 in Dresden geborene Durs Grünbein hat seit seinem Debüt "Grauzone morgens" von 1989 zahlreiche Gedichtbände vorgelegt. Im vergangenen Jahr erschien der Band "Koloss im Nebel", bei dem es darum geht, den Blick zu schärfen und das Gehör zu schulen.

Von Michael Opitz | 13.05.2013
    "Interieur mit Eule I

    Mond scheint ins Zimmer. Nichts ist real.
    Jeder Augenblick unergründlich, die Welt
    Kolossales Echo im Labyrinth der Sinne.
    In der Hand eine Münze – mein Talisman.
    Siebzehn Gramm Silber, reines Symbol.
    Eule, erleuchte mich, öffne die Augen.
    Tier auf der Tetradrachme aus Attika, hilf.


    Als Prolog gedacht, steht dieses Gedicht am Anfang von Durs Grünbeins neuem Lyrikband "Koloss im Nebel". Den Abschluss des Bandes bildet als Epilog das Gedicht "Interieur mit Eule II".

    "Dieses Tier verstehe ich immer noch als ein heraldisches Tier. Tatsächlich, wenn man die alte Eule sieht, die athenische, die hat in der Tat sehr große Augen, die einen anschauen. Das mag auch die Idee gewesen sein für die Griechen, dass dieses Tier eine Verkörperung der Klugheit gewesen ist. Die Philosophen haben dann gesagt, dass es die Eule ist, die in der Dämmerung ihren Flug antritt. Sie ist das Symbol des Geistigen. Am Anfang wird sozusagen in dem Bändchen ein kleines Stoßgebet ausgesprochen. Das sind nur acht Zeilen, die ich schon lange in der Schublade hatte. Das Zweite Gedicht ist später dazu gekommen. Das war eine Idee, die erst ganz zum Schluss auftauchte, als der Band fast fertig war, sie so als Eingang und Ausgang zu stellen, denn der ganze Band sollte auch einen Kreis schließen. Er ist in sieben Abteilungen gebaut, gehängt wie eine Ausstellung, eine Bilderausstellung in sieben Themenräumen gegliedert und dann wäre das Eingangsgedicht sozusagen das kleine Portalbild und das andere der Epilog."

    Zwei Gedichte rahmen den Band, in dem ein Tier angerufen wird, das für Weisheit steht. In Durs Grünbeins Eingangsgedicht wird die Welt als ein kolossales Echo beschrieben. Jede Gegenwart ist demnach erfüllt von Stimmen, vom Flüstern und vom Rufen derer, die in der Vergangenheit gelebt haben. Es genügt den Toten nicht, dass sie gelebt haben, heißt es bei Beckett, es genügt ihnen nicht, dass sie tot sind: Sie müssen darüber sprechen. Diesen Stimmen schenkt Durs Grünbein in den nun vorliegenden Gedichten, die in den letzten sechs, sieben Jahren entstanden sind, seine Aufmerksamkeit. Das Ohr des Dichters ist auf Empfang geschaltet. Er hört auf das Stimmenraunen aus der Vergangenheit, das sich in einer Gegenwart Gehör verschafft, in der der Lärm alltäglicher Geschäftigkeit tonangebend ist.

    "Ich habe oft, und in vielen Gedichten taucht das auf, gesagt: Alles dieses Empfangen von Gedichtelementen und Realitätspartikeln läuft über das Innenohr, das heißt, ich höre, was Leute sprechen. Ich höre Geräusche, ich höre Musik und ich denke, dass das poetische Schreiben, vielleicht ein wenig im Gegensatz zur reinen Prosa, dasjenige ist, was tatsächlich stark auf phonetische Reize, auf die Phonologie der Welt reagiert. Es kann also sein, dass ein paar auffällige Wortreihungen, Asonanzen, zunächst hängenbleiben. Oder ein O-Ton taucht irgendwie auf einem Zettel auf. Dazu kommt eine Stimmhörigkeit, ein Lauschen auf Redeweisen von verschiedenen Menschen, Protagonisten, im nahen wie im fernen Bereich. [...] Es interessiert mich gar nicht primär das "Was" der Worte, sondern das "Wie" – die Lautung, der musikalische Auftritt des Sprechers. Das ist sozusagen das Wesen der Poesie überhaupt, weshalb der Poet auch derjenige ist, bei dem das wieder durch die Stimme hindurchgehen muss."

    Im Epilog-Gedicht "Interieur mit Eule II" fallen dem lyrischen Ich die großen "Feldstecheraugen" der Eule auf, die an die "Totengeister" mahnen. Mit durchdringendem Blick betrachtet sie den Schreibenden und liest, was er zu Papier gebracht hat. Es ist dieser prüfende Blick, ein Stellvertreterblick der Toten, vor dem die Gedichte zu bestehen haben. Ganz Ohr ist Durs Grünbeins lyrisches Ich zwischen den Geschichtsepochen unterwegs. Der Dichter ist versessen auf Geschichte, die aber ist ihm kein Fluchtraum, sondern ein vielstimmiger Echoraum, in den er sich hineinhört.

    "Mich hat immer eine Überlieferung aus dem alten Ägypten interessiert. Da standen – ich glaube, es war in Theben – die sogenannten Memnonkolosse, das waren riesige Skulpturen und durch die pfiff der Wind und der muss irgendwie besondere Geräusche gemacht haben. Davon schreiben verschiedene antike Schriftsteller. Dieses Heulen und diese Geräusche, die entstehen, wenn der Wind durch die Kolossalstatuen geht, der ist so ein Geräusch, das man durchaus als ein Geschichtsrauschen verstehen kann. Es geht also jetzt schon die letzten drei- viertausend Jahre so. Das ist sehr anwesend. Es kann plötzlich zum Geheul anschwellen, zu einem ungeheuren Brausen. Es wird gesagt, die Geräusche damals, am 11. September, die müssen besonders infernalisch gewesen sein. Dieses kolossale Echo ist in der Tat etwas, auf das ich meine Antennen gerichtet habe. Wie also Ideen, Geräusche, Motive sich über mehrere tausend Jahren ziehen, das taucht in den Gedichten wieder auf. [...] Viele Sachen kehren wieder, viele gesellschaftliche Probleme retardieren ständig oder kehren eben auch wirklich wieder und dafür sensibel zu bleiben, ist mir wichtig. Das Modell von Geschichte ist nicht eine abgetane Vergangenheit und eine bisher nur unbekannte Zukunft, irgendeine sich immer weiter ausdehnende Gegenwart, sondern das Modell wäre, dass auch die Zukunft irgendwann eine Antike ist und die Antike immer noch Zukunft hat."

    Die Geschichte hält das lyrische Ich in Bewegung und sie fordert ihm Entscheidungen ab. In dem Gedicht "Parenthese für Optimisten" sieht es sich angesichts der zum Absurden neigenden Realitätsverhältnisse vor die Alternative gestellt, entweder zum Terroristen oder zum Egoisten zu werden. Notwendig ist dazu – in beiden Fällen – Ignoranz. Der Dichter, dem die Rolle des Egoisten vertrauter ist, sieht sich aber auch von Ignoranten umgeben, wie es in dem Gedicht "Wenn kein Credo mehr gilt" heißt.

    "Wenn kein Credo mehr gilt

    Auf einem Ozean der Ignoranz
    Treibt der Poet, ausgesetzt
    Von den Schiffen der Philosophen,
    Majestätisch dahin.

    In den Wellen verliert er sich,
    Findet sich wieder auf hoher See,
    Wo das Epos in Trümmer ging,
    Von leichten Winden getragen.

    Demut hält ihn im Gleichgewicht.
    Eine Schwimmblase ist sie
    Für die schaukelnde Psyche.
    Die blaue Vernunft gibt ihm Halt.

    Majestätisch? Von wegen.
    Der Finnische Meerbusen schweigt.
    Das Gelbe Meer reicht ihn weiter
    An die Straße von Malakka.
    Die Barentssee weiß nichts von ihm."


    Für diesen Band, der, wie es Durs Grünbein eingangs formuliert hat, an eine Ausstellung erinnert, hat der Autor von seinen realen wie fiktiven Expeditionen, die ihn in die Vergangenheit und in die Gegenwart führten, Eindrücke mitgebracht, die er zu Gedichten geformt hat. Neben Bildern vom Meer sind Stillleben zu entdecken, Porträts hängen neben Historienbildern. Zuweilen fallen Motive auf, die an Arkadien erinnern, während andere Bilder ganz der Jetztzeit verpflichtet sind. Das Wasser erweist sich in vielen Gedichten als tragendes, die Sinne und Empfindungen belebendes Element. Es ist in Gestalt der Weltmeere ebenso präsent, wie in Form einer kleinen Pfütze, in der sich bei Nacht Gründerzeitbauten spiegeln, wie es in dem Gedicht "Paroxysmen an der Abendkasse" heißt. In diesem Gedicht finden das römische Pantheon und eine im Berliner Friedrichshain gelegene Straße aufs Schönste zueinander. Die Hand betastet eine Säule, auf der die kolossale Kuppel des Pantheons ruht, wobei sich die Fingerkuppen in den Scharten verlieren, die die Zeiten ins Gestein geschlagen haben. Geschichte wird erspürt und begriffen, indem die Hand nach ihr greift. So wird ein Bogen von diesem Ort in Rom bis nach Berlin geschlagen, der seine Spannung der Zeit verdankt, die beide Orte miteinander verbindet. Dabei fällt Licht auf die Antike und das künstliches Licht einer Bogenlampe auf die Moderne. Diese beiden mit Bedeutung aufgeladenen Stadtkolosse, die Geschichte geschrieben haben, scheinen im Nebel, der sich über sie legt, zu verschwinden. Sie entfernen sich und nur noch in Umrissen sind sie zu erkennen. Bleibt dem Dichter angesichts des Verschwindens nur noch Sarkasmus?

    "Es ist eine Möglichkeit, erst einmal standzuhalten, das, was geschieht, auszuhalten. Wenn man es mit weit aufgerissenen Augen sieht, ist es ja furchtbar und schrecklich. Um es in vitaler Form zu konstatieren, ohne daran gleich unterzugehen, ist es ein erster Schritt. Man muss aber dann darüber hinausgehen. Ich hoffe, das viele Gedichte in diesem Band diese Sehnsucht nach einer Besserung der Verhältnisse, Besserung der Menschen, einer eigenen Besserung, nach einer Veränderung auch, transportieren."

    Der Autor ist skeptisch und seine Position ist alles andere als "majestätisch". Neben Gedichten, in denen Durs Grünbein auf die Mechanismen verweist, die das kulturelle Erbe und somit Kultur überhaupt bedrohen, finden sich Verse, in denen – als eine Art Gegenentwurf – die Schönheit exzessiv gefeiert wird. Wem das zu viel Abendland ist, wer, auch wenn es unausgesprochen bleibt, dabei assoziiert, diese Position sei verdächtig, der muss sich die Frage gefallen lassen: Wäre nicht eher verdächtig, würde das Abendland in den Gedichten fehlen?

    "Man kann den Titel allegorisch lesen. Wir alle empfinden, denke ich, gerade, diesen Kontinent, auf dem wir leben, als einen Koloss mit unklaren Konturen, der wirklich gerade im Nebel verschwindet, von dem nicht klar ist, steht er auf tönernen Füßen, zerbricht er gleich wieder, gelingt es, ihn zu einer großen verbundenen Masse, politisch vor allen Dingen, zu organisieren. Diese Verunsicherung ist auch sicher ein Zeitausdruck. Das ist insgesamt ein Band wie er doch in einer Zeit, der anhaltenden wirtschaftlichen und kulturellen Krise geschrieben ist. [...] Es ist auch eben gerade eine starke kulturelle Krise, eine kulturelle Identitätskrise dieses Kontinents, der nicht mehr ganz genau weiß, was er für kulturelle Werte besitzt. Es ist kein Zufall, dass sich der Streit noch einmal symbolisch an Griechenland entzündet. Die Wiege der europäischen Kultur, die ist jetzt das Zentrum der neuen ökonomischen Krise, auch deshalb, weil nur diese neue Ökonomie geblieben ist, als letztes Identitätsmoment. Wenn wir kein Abendland mehr haben, als gemeinsame Identität, dann zerbricht das."

    In "Koloss im Nebel" begegnet man einem Poeten, der, als genauer Beobachter, sehr behutsam in einem Terrain ausschreitet, das Gefahr läuft zu verschwinden. Grünbein sieht und benennt die Bedrohungen. Er tut es selten direkt, weil ihm diese Position lyrischen Sprechens nicht angemessen erscheint. Aber die großen Bögen, die er in seinen Gedichten zwischen Antike und Moderne zu spannen versteht oder seine Dinggedichte, die sich Zartestem nähern, erheben Einspruch gegen den Mahlstrom der Zeit. Inmitten einer Geräuschkulisse, die versessen darauf hört, wie der Geldstrom fließt, stören die leisen Töne, die Durs Grünbein anstimmt. Doch gerade das macht den Wert eines gelungenen Gedichts aus – und solche Gedichte gibt es in diesem Band zu entdecken, der ein großes Lesevergnügen ist.

    Durs Grünbein: Koloss im Nebel. Gedichte.
    Suhrkamp Verlag. Berlin 2012. 225 Seiten. 25,00 Euro.