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Die Welt als schmutzige Wäsche

Wenn die Welt sich dem Menschen über die Haut vermittelt, indem sie sich dort mit ihr vermischt, dann mag das damit zu tun haben, dass wir die Welt als etwas Körperliches wahrnehmen, als Fleisch, als das, was Biologen meinen, wenn sie von "Gewebe" sprechen. Wenn die Welt, so der französische Philosoph und Mathematiker Michel Serres in seinem nun endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch "Atlas" - im Original bereits 1994 erschienen -, wenn man sich also die Welt als einen riesigen Haufen schmutziger Wäsche vorstelle, könne man umgekehrt erwarten, dass alle Arten von Gewebe, ob körperlich oder textil, wunderbare Modelle des Wissens von der Welt abgeben. Und das Gedachte scheint vorzuschreiben wie es gedacht wurde.

Von Guido Graf | 17.04.2006
    Dieser Atlas hier soll nun eine neue Welt ohne Grenzen kartographieren, selbst ohne jede Grenzen, welche die gegenwärtige Zeit respektiert, auch wenn sie viel von ihrer einstigen Bedeutung verloren haben. Das Da-draußen kannte sie nicht, die Kommunikationsprozesse ignorieren sie. Warum? Weil Wissen und Information mit dem unantastbaren Prinzip brechen, das die Zirkulation und den Besitz von Gütern beherrscht.

    Vom Lokalen zum Globalen und zurück: in "Atlas" vertritt Michel Serres die These, dass wir eine neue Art des Denkens brauchen, um eine Welt globaler Kommunikativität vorstellen zu können. In Geweben welcher Art auch immer kann für Serres die Philosophie neue und vor allem: vermittelnde metaphorische Wege des Denkens finden:

    Zwischen der strengen Härte des geometrisch geordneten Kristalls und der fließenden Beschaffenheit weicher, gleitender Moleküle gibt es ein materielles Zwischenreich, das traditionell den Frauen überlassen und von den Philosophen mit Ausnahme vielleicht des Lukrez nur wenig beachtet wurde. Tuch, Stoff, Gewebe, Hadern, Flies, die Haut von Ziegen oder Lämmern, die man als Pergament bezeichnet, das geschabte Leder gehäuteter Kälber, die man Velin nennt, geschmeidiges, empfindliches Papier, Woll- oder Seidenstoffe, ebene oder schräg im Raum angeordnete Mannigfaltigkeiten aller Art, Körperhüllen oder Schriftträger, die wie ein Vorhang fließen können, die weder flüssig noch fest sind, aber an beiden Aggregatzuständen teilhaben. Faltbar, zerreißbar, dehnbar … topologisch.

    Von 1982 stammt Michel Serres' Buch "Der Parasit": dort versucht er ein Gleichgewicht zu etablieren zwischen dem, was er den "guten und den bösen Hermes" nennt: positive, offene und neue Vermittlungen gegenüber negativen, mörderischen, entropischen oder epidemischen. Auf diese Unterscheidung steuerte Serres schon in den sechziger und siebziger Jahren mit seinem großen, mehrbändigen Werk "Hermes" zu und in den neunziger Jahren untersuchte er diese Alternativen anhand des am meisten wuchernden parasitären Phänomen der Gegenwart, dem expandieren Raum globaler Kommunikation. Darum geht es auch in Serres "Atlas." Nicht nur - denn ließe sich dieses Buch darauf reduzieren, wäre es inzwischen hoffnungslos veraltet. Doch alles andere als das. Denn Michel Serres bindet seine mikroskopischen Beschreibungen nicht an aktuelle technologische Entwicklungen, sondern vergleicht ihre Grundmuster mit den scheinbar entlegensten Registern unseres Wissens von der Natur der Dinge und knüpft so ein faszinierendes neues Netz der Erkenntnis:

    Die unbeweglichen oder vergänglichen Buckel und Risse im Marmor oder die kräuselnden Wellen im Wasser verhalten sich in Raum und Zeit nicht wie die Falten eines Vorhangs, der im Wind weht, sondern wie die eines Vorhangs, der einen Augenblick stillsteht. Als zögerte das menschliche Fleisch, das hart und sanft, fest und weich ist, zwischen flüssigem und festem Zustand, so benutzt man in der Wissenschaft vom Leben den Ausdruck "Gewebe".

    Mit Michel Serres' Atlas lässt sich buchstäblich eine Erkenntnisreise durch diese Gewebe antreten. Wenn er sich selbst im universitären Kontext betrachtet, kommt ihm sein Vorgehen auch fremd vor. Doch betont Michel Serres, dass es ihm schon immer darum gegangen ist, in seiner eigenen, persönlichen Tradition zu schreiben, und durchaus gegen die Universität gerichtet. Anfang der neunziger Jahre gab Michel Serres eine Buchreihe zur Französischen Philosophie heraus, den letzten Band dazu steuerte er selbst bei: eben den nun auch uns vorliegenden Atlas: eine geographische Beschreibung von Netzwerken. Und es ging ihm genau um die Frage, wie man angesichts neuer, vor allem medientechnologischer Herausforderungen die Fremdheit gegenüber der universitären Tradition produktiv machen kann. Also plädiert Serres für eine offene Universität, die sich potentiell unendlich über das Internet erweitern kann. Natürlich verdankt sich die Devise, dass man sich die Möglichkeiten der Technologie zunutze machen muss, bevor man von ihr bestimmt wird, noch der Euphorie des vergangenen Jahrzehnts. Doch wenn Serres' Buch eines lehrt, dann dass man angesichts der inzwischen weitreichenden Kommerzialisierung und Reglementierung des Internets seine Möglichkeiten keineswegs desillusioniert abschreiben muss. Denn Michel Serres verliert nicht sein Ziel aus den Augen: neue Formen der Lehre und des Lernens.

    Wollen Sie diese Karte sehen? Schneiden Sie einen beliebigen Teil des Netzes aus, und Sie werden dank seiner Animation erneut eine Feuersbrunst, den Brand eines Hauses oder Waldes, emporflammen und den Frühling in ein Tal oder auf eine grüne Insel zurückkehren sehen. Diese Projektionen, wie man sie in der Kartographie nennt, dieses bewegliche oder besser: flüchtige Profil der Weltkarte der Kommunikation, gelten für alle virtuellen Institutionen: Schule, Unternehmen, Bank, Börse, Kirche, für jede beliebige Darstellung und jedes Schauspiel als variable Ausschnitte des allgemeinen Netzes oder als Kombination eines Teils seiner Elemente. Die Weltkarte des virtuellen Unterrichts folgt also der universellen virtuellen Weltkarte als Gesamtheit der Teile des Netzes. Land mit fluktuierenden Formen in einem offenen Ozean - das ist das Archipel Utopia.

    Und weil sich Michel Serres durchaus bewusst ist, dass diese Aussicht allzu vertrauensselig verstanden werden könnte, stellt er sie gleich wieder in Frage:

    Wenn unsere Beziehungen wieder flexibel und flüssig sind, werden sie eine gewisse Freiheit für sich gewinnen?

    An der Freiheit jedes Einzelnen, an seiner relativen Langsamkeit, seiner gewissen Schwere, an den Unterschieden wird sich diese Freiheit entscheiden. Die Weltkarte, die Michel Serres mit seinem Atlas zeichnet, ist alt, er will sie nur in Bewegung bringen.

    Michel Serres: Atlas
    Merve Verlag, Berlin