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Die Wiederentdeckung der Solidarität

Die Lage in Griechenland bleibt schwierig. Die Arbeitslosigkeit liegt mittlerweile bei über 25 Prozent, die Schulden werden nicht weniger. Hilfe von außen erwarten immer weniger Griechen. Stattdessen versuchen sie, sich selbst mit Solidarität und Gemeinsinn aus dem Krisensumpf zu ziehen.

Von Alkyone Karamanolis | 25.10.2012
    Das Interview mit Vaggelis Tantis findet am frühen Nachmittag auf einer Wiese statt. Seine Schüler schieben den Unterrichtsstart immer weiter hinaus, um Geld zu sparen. Finanziell ist das für den Spanischlehrer ein Problem. In Vaggelis Tantis Portemonnaie herrscht Ebbe:

    "Grad heute habe ich mir Geld geliehen, um meine Vespa zu reparieren. Wir spüren die Krise hautnah, das ist keine Theorie! Wenn der Unterricht erst mal wieder losgeht, wird es besser sein. Aber zurzeit ist es schwierig, vor ein paar Tagen zum Beispiel mussten wir zu viert zusammenlegen, um ein Päckchen Zigaretten zu kaufen. Ich sag jetzt nicht, dass das jeden Tag so ist. Nur: Früher hätte es das nicht gegeben."

    Die Krise hat ihr aller Leben verändert, sagt der 31-Jährige, während er eine Zigarette dreht. Vaggelis Tantis hat nicht nur weniger Arbeit als früher, er musste auch seine Preise drücken. Das Finanzielle sei aber nur ein Aspekt. Einer seiner Freunde ist gerade nach Frankreich gezogen, ein anderer nach Berlin, und eine Freundin sucht nach Arbeit auf allen fünf Kontinenten, weil sie in Griechenland für sich und ihre Kinder keine Zukunft sieht. Manchmal fragt sich auch Vaggelis, wie lange er noch durchhält.

    "Ich habe immer gesagt: Ich bleibe. Griechenland ist mein Land, Athen ist meine Stadt, hier leben die Menschen, die ich liebe. Wir können nicht alle abhauen, wir müssen doch auch versuchen, die Dinge zu verbessern! Aber dann kommen die Rückschläge, all diese Schwierigkeiten, das ist jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht. Wenn das Geld zum Überleben nicht reicht. Wenn die Telefonrechnung und der Strom unbezahlt sind und ich kein Geld habe, um zu tanken, um in die Arbeit zu fahren."

    Vaggelis Tantis hat früh gemerkt, dass die Krise nach neuen Lösungen verlangt. Und er hat eine gefunden. Seit vergangenem Jahr bietet er in einem Nachbarschaftscafé gratis Spanischunterricht an, für Leute, die sich sonst keinen Kurs leisten könnten, und er hat auch andere Sprachlehrer mobilisiert. Sein finanzielles Problem löst er damit nicht. Dennoch ist er überzeugt, das Richtige zu tun, sagt Vaggelis Tantis und rückt im Schneidersitz zurecht.

    "Dieser Unterricht ist für mich ein Lichtblick im Leben. Absolut. Meine Schüler vom letzten Jahr sind heute meine Freunde. Im Sommer haben alle Kurse zusammen ein großes Fest organisiert. Es war ein Nachmittag mit viel Freude und wenig Sorgen. Und für mich, der ich das Ganze angestoßen habe, war es eine große Befriedigung zu sehen, dass es auch anders geht!"

    Geld sei ein Mittel etwas zu erlangen, aber nicht das Einzige. Vaggelis Tantis und seine Mitstreiter setzen auf Solidarität. Vor der Krise, sagt Vaggelis Tantis, wären sie gar nicht auf die Idee gekommen, umsonst zu unterrichten. So gesehen sei die Krise ein Katalysator, um die Gemeinschaft neu denken. Vaggelis Tantis wäre deshalb auch dafür, den Schülern Vorrang zu geben, die im Gegenzug auch ihre Hilfe anbieten. Das könne ein eigener Kurs sein oder auch nur Hilfe beim Plakatekleben, wenn eine Aktion geplant sei.

    "Ich finde, unser Angebot sollte keine Wohltätigkeitsaktion sein. Jeder kann etwas beitragen, schließlich haben wir alle ein großes Bedürfnis zu spüren, dass wir nicht unnütz sind. Wir sind in einem Alter, in dem wir große Energie haben. Wenn wir die nicht sinnvoll und kreativ einsetzen, verkümmern wir!"

    Die Krise berge auch die Chance, die Menschlichkeit und Nähe wiederzugewinnen, die irgendwann in den 80ern verloren ging, als alle anfingen, aufs Geld zu schauen. Solange es zum Überleben reicht, werde er bleiben. Vom "Überlebensnotwendigen" redet er immer wieder. Ist die Messlatte so weit gesunken? Mitten in Europa?

    "Klar, das Überleben ist in der Skala ganz nach oben gerückt. Denn wie soll ich von Reisen und anderen Dingen träumen, wenn ich noch nicht mal weiß, wie ich über den Monat kommen soll und daheim unbezahlte Rechnungen liegen? Und das ist auch meine größte Angst: dass ich vor lauter Überlebenskampf nicht mehr zu träumen wage."