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Die wiedergefundene Zeit

Mit Die wiedergefundene Zeit liegt das wohl bedeutendste Roman-Großprojekt des zwanzigsten Jahrhunderts, Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", nun vollständig in der Frankfurter Ausgabe von Luzius Keller vor. Die sieben schönen Dünndruck-Bände überzeugen nicht nur durch die aufgefrischte Übersetzung, sondern auch durch ihren Anhang. Neben instruktiven Nachworten findet man stets eine detaillierte Handlungsübersicht, die die Orientierung in den Textmassen erleichtert. Der nirgends ausufernde Kommentar richtet sich weniger an professionelle Proustianer als an Leser, die dankbar sind für die gelegentliche Erläuterung einer Anspielung oder Realie, für einen Querverweis oder eine Gedächtnisstütze. Denn auch weniger Vergessliche haben nicht immer parat, was zum Beispiel der Baron de Charlus vor zweitausendsiebenhundert Seiten gesagt hat.

Wolfgang Schneider | 08.01.2003
    Wer nur ein Gelegenheitsgast bei Proust sein oder diesen Autor überhaupt erst kennen lernen möchte, für den ist "Die wiedergefundene Zeit" allerdings der ungeeignetste Einstieg, auch abgesehen davon, dass man üblicherweise eher mit dem ersten als dem letzten Band beginnt. Enstehungsgeschichtlich liegen Anfang und Ende in diesem Fall nämlich dicht beieinander; beides sind die ältesten Teile der Recherche. Die Schlusskapitel hatte Proust früh konzipiert und in einer Rohfassung niedergeschrieben, um dann an den mittleren Teilen des Romans bis zu seinem Tod noch fünfzehn Jahre weiter zu arbeiten. Da er nicht mehr zu einer Überarbeitung und Anpassung des letzten Bandes kam, ergeben sich hieraus manche Unstimmigkeiten. Um nur eine zu nennen: Der Schriftsteller Bergotte, der bereits in "Die Gefangene" in einer großen Sterbeszene zu Grabe getragen worden war - Proust verarbeitete hier die Vorahnung seines eigenen Todes -, weilt im letzten Band wieder unter den Lebenden.

    So ist "Die wiedergefundene Zeit", auch wenn Proust das Wort "fin" darunter gesetzt hat, in einem noch erheblich vorläufigeren Zustand als die anderen posthum veröffentlichten Teile der "Recherche". Gelegentlich stößt man auf unfertige Sätze, oft ist die Reihenfolge der Abschnitte unbestimmt, und neben vielen grandiosen, beglückenden Passagen gibt es in diesem fünfhundertseitigen Prosakonvolut eben auch solche, die noch einiges zu wünschen übrig lassen.

    Zu Beginn hat Marcel, die Erzählerfigur, den Tiefpunkt erreicht. Sein langgehegter Traum, Schriftsteller zu werden, hat sich nicht erfüllt. Ein Text der Brüder Goncourt (in Wahrheit ein Pastiche, eine Parodie Prousts) gibt ihm den Rest. Wenn eine solche adjektivüberladene Beschreibungsorgie, wenn solch seelenloses Abscannen der Wirklichkeit Literatur ist - dann lässt sich Marcels Mangel an Begabung nicht länger verhehlen. Gewiss ist diese Desillusionierung nur eine Voraussetzung der finalen Erhöhung. Aber bevor es soweit kommt, bricht erst einmal der Krieg über die Belle-Époque-Welt der "Recherche" herein. Die Gegenden der Kindheitserinnerungen um Combray verwandeln sich zu Schlachtfeldern, der berühmte Weißdornpfad des ersten Bandes wird zu einer Frontlinie. Auf hundert eindrucksvollen Seiten stellt der Roman die Kriegszeit in Paris dar, den Tanz auf dem Vulkan: die Kämpfe sind nicht allzu weit entfernt, die Stadt wird von den Deutschen mit fernwirkenden Geschützen, Zeppelinen und den ersten Kampfflugzeugen angegriffen. Vor diesem Hintergrund analysiert Proust mit bewährtem Scharfblick gesellschaftliche und individuelle Verhaltensmuster. Während Hunderttausende in den Schützengräben zerfleischt werden, führen andere um jeden Preis ihr luxuriöses Salonleben weiter.

    Statt der neuesten Affären sind jetzt die aktuellen Kriegsberichte Gegenstand des Geplauders. Auch in der Mode wird der Krieg stilbildend: "Gamaschen, die an diejenigen unserer lieben Frontkämpfer gemahnten", sind der letzte Schrei und sogar Ringe und Armbänder mit "Geschossplittern" werden getragen. Wieder einmal hat eine Umkehrung der Verhältnisse stattgefunden: Madame Verdurin, die anfangs, in Eine Liebe von Swann, ihren nicht besonders relevanten "kleinen Kreis" unterhielt, ist zu einer Größe der feinen Gesellschaft avanciert. Der Tod von Millionen berührt uns kaum mehr als ein Luftzug, schreibt Proust, und niemand eignet sich zur Verdeutlichung dieser traurigen Wahrheit besser als diese Frau:

    Da Madame Verdurin an Migräne litt und morgens keine Hörnchen mehr in ihren Tee tauchen konnte, hatte sie schließlich von Cottard ein Attest erlangt, das ihr gestattete, in einem bestimmten Restaurant solche herstellen zu lassen. Dies war von den zuständigen Stellen fast ebenso schwer zu erreichen gewesen wie jemandes Beförderung zum General. Ihr erstes Hörnchen nahm sie an dem Tag zu sich, an dem die Zeitungen über den Untergang der ‚Lusitiana' berichteten. Während sie das Hörnchen in den Milchkaffee tauchte und ihrer Zeitung kleine Stupse gab, damit sie sie aufgeschlagen halten konnte, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen beschäftigte Hand zu benutzen, sagte sie: "Wie grauenhaft! Das ist ja fürchterlicher als die entsetzlichsten Tragödien." Doch der Tod all dieser Ertrunkener mußte ihr wohl doch auf ein Milliardstel seiner Größe reduziert erscheinen, denn während sie mit vollem Munde diese trostlosen Überlegungen anstellte, war der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag und wahrscheinlich von dem Wohlgeschmack des Gebäcks hervorgerufen wurde, eher der eines sanften Behagens.

    Aber nicht nur für den Gesellschaftssatiriker, auch für den Ästheten hat die Kriegszeit neue Eindrücke zu bieten. Mit der Pinselführung eines Impressionisten schildert Proust die Abende der Verdunkelung, bei denen man mitten in der Stadt das Gefühl hat, einen Mondscheinspaziergang auf dem Land zu machen. Und was treibt unterdessen der Baron de Charlus, die bizarrste Figur der Recherche, jener Mann mit den widersprüchlichsten Eigenschaften, der von vielen Proust-Lesern als die eigentliche Hauptfigur empfunden wird? Nun, der Krieg macht Paris, wo es fast nur noch Frauen, Alte und Kinder gibt, zu einem verzweiflungsvollen Ort für den Homosexuellen. Aber hören wir ihn selbst:

    Kurz und gut, mein lieber Freund, das alles ist ganz furchtbar, und wir haben mehr zu beklagen als nur langweilige Artikel. Man spricht von Vandalismus, von zerstörten Kunstdenkmälern. Aber muss nicht eine Stadt, die über keine schönen Männer verfügt, den gleichen Eindruck erwecken wie eine Stadt, deren gesamter Bestand an Bildhauerkunst vernichtet ist? Was für ein Vergnügen kann ich daran finden, in einem Restaurant zu dinieren, in dem ich von alten Clowns bedient werde, die schon Moos angesetzt haben, sofern es nicht sogar Frauen mit Häubchen auf dem Kopf sind, die mich glauben machen, ich sei in die Suppenküche Duval geraten? Es ist doch so, mein Lieber: Das wahre Schöne ist das Schöne in lebendigem Stoff. Was für ein Vergnügen kann es bereiten, von rachitischen, kneiferbewehrten Gestalten das Mahl vorgesetzt zu bekommen, deren Visage man ansieht, weshalb sie zurückgestellt sind?

    Der hochkultivierte Gegenspieler der Verdurins ist jetzt aufgrund seiner notorischen Deutschfreundlichkeit, die zum großen Teil Trotz gegen die patriotischen Dummköpfe ist, nicht mehr gesellschaftsfähig. Einer seiner neuen Spitznamen ist "Frau Boche". Die Sorge sich zu kompromittieren, wird dem standesbewußten Mann zunehmend fremd:

    Er hatte sich angewöhnt, beim Sprechen sehr laut zu schreien, aus Nervosität und aus dem Bedürfnis, ein Ventil für seine Eindrücke zu finden, die er loswerden mußte wie ein Flieger seine Bomben... Auf den Boulevards war dieses Pathos ein Zeichen seiner Verachtung für die Passanten, um derentwillen er ebensowenig die Stimme senkte, wie er ihnen aus dem Weg gegangen wäre. Seine Stimme ertönte, erdröhnte vielmehr zur allgemeinen Verwunderung und machte für die Leute, die sich umdrehten, Meinungsäußerungen hörbar, die uns den Ruf des Defaitismus hätten einbringen können. Ich machte Monsieur de Charlus darauf aufmerksam, ohne jedoch mehr zu erreichen, als dass ich seine Lachlust reizte: "Geben Sie zu, dass das sehr komisch wäre!" sagte er zu mir. "Alles in allem", fuhr er fort, "kann man ja nie wissen, und jeder von uns ist allabendlich in Gefahr, am folgenden Morgen unter Vermischtes seinen Platz zu finden. Warum sollten sie mich nicht in den Gräben von Vincennes erschießen?

    Zunehmend verliert Charlus die Selbstkontrolle; sein moralischer Verfall schreitet zügig fort. Jupien, aus früheren Bänden noch als "Westenmacher" bekannt, führt nun wie ein Piratenkapitän ein Männerbordell an, und eines Tages findet der Erzähler dort den Baron, blutüberströmt, unter den Hieben einer Peitsche, mit Ketten an ein Eisenbett gefesselt wie Prometheus an seinen Felsen. Liest man solche Szenen heute anders als vor achtzig Jahren? Die tragische Fallhöhe der Verruchtheit ist sicher geringer geworden, seitdem lederglänzende Dominas sogar im Fernsehen zu später Stunde ihre Telefonnummern anpreisen, mit der Aufforderung, gefälligst anzurufen. Allerdings hat es Proust in erster Linie auch nicht auf Entlarvung abgesehen, was ja schon der liebenswürdige Humor dieser Szenen beweist. Der verfeinerte Charlus möchte sich von jungen Kriminellen malträtieren lassen; ein richtiger Mörder, das wäre nach seinem Geschmack. Doch die jungen Männer, die ihm Jupien zuführt, erweisen sich immer wieder als viel zu nette Burschen. Nach der Prozedur beschwert sich Charlus beim Chef des Hauses:

    Ich wollte vor dem Kleinen nichts sagen, er ist sehr nett und tut, was er kann. Doch finde ich ihn nicht brutal genug. Sein Gesicht gefällt mir, aber er nennt mich ‚elender Schuft', als hätte er es auswendig gelernt." - "O nein, niemand hat ihn dazu angehalten", antwortete Jupien, ohne zu merken, wie unwahrscheinlich diese Behauptung klang. "Er war im übrigen in den Mord an einer Hausmeisterin in La Villette verwickelt." - "Das ist allerdings interessant", antwortete lächelnd der Baron.

    Die Enttäuschung ist jedoch groß, als Charlus den jungen Mann direkt auf diese kühne Tat angespricht:

    Oh! Aber Herr Baron!", antwortete der Gigolo, der offenbar aus Versehen nicht instruiert worden war, "wie können Sie denn so etwas von mir glauben?" Und sei es, dass die Sache wirklich nicht zutraf, sei es, dass sie zwar stimmte, der Täter sie aber allzu gräßlich fand und meinte, er tue besser daran, sie zu leugnen, jedenfalls erklärte er: "Ich, und mich an meinesgleichen vergreifen! Ein Boche, o ja, weil Krieg ist, aber eine Frau, und noch dazu eine alte Frau!" Diese Kundgabe tugendhafter Prinzipien hatte auf den Baron die Wirkung einer kalten Dusche; er zog sich, stark abgekühlt, von Maurice zurück, nachdem er ihm gleichwohl sein Geld gegeben hatte, wenn auch mit der unwilligen Miene eines Mannes, der sich um etwas betrogen fühlt... Dieser schlechte Eindruck wurde übrigens bei dem Baron noch gesteigert, weil der Beschenkte sich bei ihm mit den Worten bedankte: "Das schicke ich meinen Alten, und ein bißchen davon bekommt mein kleiner Bruder an der Front." Diese rührenden Gefühle enttäuschten Monsieur de Charlus fast ebensosehr, wie die etwas konventionelle bäuerliche Redeweise ihn reizte, in der sie vorgebracht wurden.

    Charlus' Entwicklung dient Proust dazu, die allgemeinen Gesetze der Liebe auch in den befremdlichsten Sonderformen aufzuweisen. Egal ob der Weltmann Swann die halbweltliche Odette liebt, der jugendliche Erzähler die lose Albertine oder der alte, heruntergekommene Baron, maßlos enttäuscht vom Geiger Morel, seinen letzten Traum von Verruchtheit in Jupiens Verliese trägt - niemand entgeht der leidvollen Differenz zwischen der Imagination und der weit hinter sie zurückfallenden Wirklichkeit. Erwartung führt unweigerlich zu Enttäuschung. Liebe ist bei Proust eine Art unheilbare Krankheit, eine "böse Verzauberung", und so sieht sie in ihrer letzten Ausprägung bei Charlus denn auch aus. Indes behält die Figur bei allem Elend und aller Komik ihre tragische Größe. Wenn wir ihn zum letzten Mal treffen, ist der Baron ein weißhäuptiger Greis, Jupien sein aufopferungsvoller Krankenpfleger. Gezeichnet vom Schlaganfall, ist er nicht mehr darum bemüht, Rang zu beweisen oder seine Homosexualität zu verbergen, sondern schlicht darum, einfache Dinge wie einen Gruß korrekt auszuführen. Und dennoch: Der "alte, gefallene Fürst" strahlt die "shakespearsche Majestät eines King Lear" aus.

    Als hätte der Erzähler wie Rip van Winkle Jahrzehnte geschlafen, kehrt er am Ende in eine Welt zurück, die er kaum noch wiedererkennt. Ein letztes Mal werden die Figuren zu einem Ball bei den Guermantes versammelt: zitternde, gebeugte alte Männer, und Frauen, deren Kleider sich, wie es heißt, bereits am Grabstein verfangen haben. Mit dem Blick eines Insektenforschers studiert Marcel die inneren und äußeren Metamorphosen. Aus Emporkömmlingen sind anerkannte Größen der Gesellschaft, aus kompromittierten Zeitgenossen Tugendbolde geworden. Nicht nur körperlicher Verfall ist ein Ergebnis der Jahre, sondern auch die völlige Veränderung der Persönlichkeit, wie bei Bloch, dem Jugendfreund und Alter ego des braven Marcel. Einst fiel er durch schlechte Manieren, Snobismus und Verlogenheit auf, jetzt ist aus ihm ein gütiger, alter Herr geworden. Nicht nur Moden, Stile und Meinungen sind im Fluß, sondern auch die vermeintlich fest hinter ihnen stehenden Personen selbst. Das ist Prousts spezifische Form von Relativitätstheorie: die Dimension der Zeit. Wir nehmen einen kleinen Platz im Raum ein, aber einen großen in der Zeit, heißt es am Ende - in dieser Hinsicht sind wir in die Tiefe der Jahre getauchte Riesen.

    Vergänglichkeit ist das Thema des Finales. Rang und Ruhm erweisen sich dabei als ebenso flüchtig wie alles andere. Dieser Pessimismus steht in einem gewissen Widerspruch zum Enthusiasmus über die Ewigkeitswerte der Kunst, wie er Marcels Durchbruch zur Literatur begleitet. Auf nicht weniger als achtzig Seiten wird die Poetik der wiedergefundenen Zeit entfaltet. Beim Betreten des Hauses der Guermantes ereignet sich die unvermutete Auferstehung der Vergangenheit. Was man bereits aus dem ersten Band kennt, wenn aus der in den Tee getauchten Madeleine die Kindheitslandschaft von Combray aufsteigt, wiederholt sich jetzt in einer Kettenreaktion. Zunächst beschwört der unscheinbare Tritt auf zwei ungleiche Pflastersteine Venedig herauf, mittels einer ähnlichen Empfindung, wie sie Marcel einst hatte, als er auf zwei ungleiche Bodenplatten im Baptisterium von San Marco trat. Was für die bewußte Erinnerung taub und matt blieb, kehrt als unwillkürliche Assoziation überwältigend zurück. Diese und die folgenden Erinnerungsekstasen nehmen die Form mystischer Erlebnisse an; sie werden zur Basis eines Kunstidealismus, dessen fast religiöse Inbrunst man nicht ohne Befremden zur Kenntnis nimmt:

    Sobald aber ein (...) vormals eingeatmeter Duft von neuem wahrgenommen wird, und zwar als ein gleichzeitig Gegenwärtiges und Vergangenes, ein Wirkliches, das gleichwohl nicht dem Augenblick angehört, ein Ideelles, das deswegen dennoch nichts Abstraktes bleibt, wird auf der Stelle die (...) gewöhnlich verborgene Wesenssubstanz der Dinge frei, und unser wahres Ich, das manchmal seit langem tot schien, aber es doch nicht völlig war, erwacht und gewinnt neues Leben aus der göttlichen Speise, die ihm zugeführt wird. Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit befreiten Menschen erschaffen. Und dieser Mensch - wie gut kann man verstehen, (...) dass das Wort Tod keinen Sinn für ihn hat; was könnte er, der Zeit enthoben, von der Zukunft fürchten?

    Zwar heißt es an einer Stelle, ein Werk, das Theorien enthält, sei wie ein Gegenstand, an dem noch das Preisschild hänge - aber das hindert Proust nicht am Theoretisieren und am Polemisieren gegen konkurrierende Literaturauffassungen. Bei allem Lob des Gefühlseindrucks, von dem die Literatur ihren Ausgang nehmen müsse, war er ein viel zu analytischer Kopf, um auf eine gedankliche Grundlegung seines Werkes zu verzichten. Gerade die "Recherche" ist ein Werk, das noch im innigsten Moment die Ratio nicht ausschaltet. Größtmögliche Subjektivität und größtmögliche Objektivität sind bei Proust eins; der Empfindung tritt immer der sezierende Verstand zur Seite, der "Kümmernisse in Ideen" verwandelt, also dem Leiden die Erkenntnis abgewinnt.

    Das Glückserlebnis des Wesentlichen und Wahren bleibt wie ein Drogenrausch auf kurze Zeit befristet. Umso mehr weckt es das Verlangen, die wiedergefundene Zeit festzuhalten - in Form eines Romans. Der Erzähler beschließt, sich endlich an die Arbeit zu machen und ihr den Rest seiner Lebenszeit zu widmen. Er ringt sich durch, das Buch zu schreiben, das der Leser gerade gelesen hat. Das zu Schreibende ist das schon Geschriebene: eine zirkuläre Konstruktion, die den glücklich ans Ende der 4000 Seiten gelangten Leser nur noch zu einem auffordert: zu einer zweiten Lektüre. Prousts Ruhm verbreitete sich früh in Deutschland, aber eine angemessene Übersetzung ließ drei Jahrzehnte auf sich warten. Das ist heute, wo es oft nur wenige Monate dauert, bis mehr oder weniger bedeutende Bücher auf deutsch erscheinen, kaum mehr nachvollziehbar. Erst die Übertragung von Eva Rechel-Mertens, entstanden 1953-57 und vielfach verbreitet bis heute, gab Proust die deutsche Stimme. Wenn eine neue ambitionierte Ausgabe und Übersetzung erscheint, wird die alte naturgemäß vieler Unzulänglichkeiten bezichtigt. So ist es während der letzten Jahre in den Ankündigungen und Besprechungen der Frankfurter Ausgabe denn auch pflichtschuldigst geschehen. Deshalb sei es deutlich gesagt: die Übersetzung von Rechel-Mertens hat sich über fünf Jahrzehnte gar nicht schlecht gehalten, wenn man die übliche Alterungsgeschwindigkeit von Übersetzungen in Betracht zieht. Diese Qualität ist ja auch der Grund dafür, dass Luzius Keller sich für eine Revision entschied, für eine Reparatur und Korrektur der alten Übertragung, wo immer es ihm nötig schien. Nur stellenweise wurde der Text neu gefaßt. Bei allem Lob für diese Passagen sollte man nicht verschweigen, dass über weite Strecken keine oder kaum Eingriffe nötig waren.

    Ohne Zweifel sind Rechel-Mertens auf den 4000 Seiten eine Menge Fehler unterlaufen. Oft sind es nur Kleinigkeiten, wenn etwa ein schüchterner Metzger wenige Zeilen später als "blutrünstiger, junger Mann" bezeichnet wird. In der neuen Übersetzung ist daraus ein "blutiger, junger Mann" geworden. Vor allem aber konnte die manchmal geradezu lateinisch anmutende Konstruktion der Rechel-Mertens-Syntax, die in den weiten Proustschen Satzbögen stets für größtmögliche Übersicht sorgte, etwas mehr Geschmeidigkeit verkraften. Rechel-Mertens ist gut in den analytischen Passagen, sehr viel schwächer dagegen, wenn es um die Schilderung von Landschaften, Weißdornhecken und anderen sinnlich-poetischen Eindrücken geht. Der Nominalstil, der sich in deutsche Übersetzungen fast automatisch einschleicht, wenn es Proustsche Lang- und Längersätze zu übertragen gilt, wurde zurückgenommen. Viele unnötige Füllwörter wurden gestrichen, allzu eckige Verschachtelungen aufgelöst. Die Prüderie der fünfziger Jahre war auf die Höhe des viel unverblümteren Originals zu bringen. Nur ein Beispiel: Bei Rechel-Mertens ist von zwei Männern die Rede, Vater und Sohn, die in ein und derselben Bar "schaffen". Durch zwei Buchstaben wird der Sachverhalt jetzt deutlicher: die beiden schaffen dort "an".

    Im übrigen war Proust kein buchstabengläubiger Anhänger des perfekten Textes. Wenn er seinen Roman wieder und wieder überarbeitete und ergänzte, dann weniger, weil er ihm eine endgültige Gestalt geben wollte, sondern weil er Texte prinzipiell als vorläufig ansah. Hätte er mehr Zeit gehabt, wäre der Roman weiter gewuchert, wie ein Baum, dem seitlich immer neue Triebe ausbrechen. Ein übertriebener Originaltextfetischismus ist also keineswegs im Sinn des Autors. Proust ist kein Snob gegenüber dem Leser. Er weiß: Literatur verwirklicht sich erst in der Lektüre. So sind wir alle herzlich eingeladen, an der "Recherche" mitzuarbeiten. Um es mit einem der schönsten Sätze der "Wiedergefundenen Zeit" zu sagen:

    In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, eigentlich der Leser seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich sonst vielleicht nicht hätte sehen können.