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"Die Wirtschaft nimmt Familien massiv unter Druck"

Die Politik müsse Familien zur Seite stehen, sagt die bayerische Sozial- und Familienministerin Christine Haderthauer (CSU). Viele Unternehmen forderten, dass Eltern in Vollzeit arbeiten, das würde aber Kinder zu einem reinen Störfaktor zu reduzieren, so Haderthauer.

Christine Haderthauer im Gespräch mit Jürgen Liminski | 01.06.2013
    Jürgen Liminski: Die AWO, der Arbeiterwohlfahrts-Bundesverband, einer der großen bundesweiten Kita-Träger, schlägt Alarm: Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab August sei numerisch zu erfüllen, ab nur auf Kosten der Qualität der Erzieherinnen, mithin zum Schaden der Kinder. Die Meldung hat eine kleine Lawine ausgelöst, die Qualitätsdebatte, die man bisher erfolgreich verdrängt hatte, ist plötzlich da, und darüber wollen wir jetzt sprechen mit Christine Haderthauer, sie ist bayrische Sozial- und Familienministerin. Guten Morgen, Frau Haderthauer!

    Christine Haderthauer: Guten Morgen, Herr Liminski!

    Liminski: Frau Haderthauer, Ihr voller Titel lautet "bayrische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen", von Kindern ist nicht die Rede, bei Ihrer Bundeskollegin kommt immerhin noch die Jugend vor. Spielen Kinder in der Politik überhaupt noch eine inhaltliche Rolle oder geht es, wie der Alarmruf der AWO zeigt, nur darum, welche zu haben und sie dann irgendwo zu parken?

    Haderthauer: Ja, hoffentlich nicht, und genau deshalb ist es richtig – das ist nicht nur eine Frage der Bezeichnung, sondern vor allem der Inhalte der Politik –, dass wir die Familie insgesamt in den Blick nehmen. Kinder muss man immer im Kontext ihrer Bindungen denken. Sie sind eben in ihrer Lebensentwicklung darauf angewiesen, dass sie in einer Familie eingebettet sind, Bindung ist einfach ein Urbedürfnis, und insofern spielt die Qualitätsdebatte gerade bei den Unter-Dreijährigen natürlich eine immens große Rolle. Insofern kann ich mich der Warnung, die die AWO ausgebracht hat, nur anschließen. Es gibt leider in manchen Bundesländern wirklich Bestrebungen, dass jetzt nur, sage ich mal, auf die Quantität geachtet wird und der Qualität zu wenig Raum gegeben wird. Das wäre eine Versündigung an der Entwicklung gerade unserer Kleinkinder, um die es ja im Moment geht.

    Liminski: Bleiben wir noch mal bei der Debatte. Diese Qualitätsdebatte ist ja lange verdrängt worden, der Druck der Wirtschaft und der Verbandsfunktionäre auf die Politik war und ist enorm, denn die Wirtschaft sucht händeringend nach Fachkräften und hofft sie in der stillen und preiswerten Reserve junger, gut ausgebildeter Mütter zu finden. Sie, Frau Haderthauer, gehören zu den ganz wenigen in der Politik, die auf die nachweisbare Bedeutung der Bindungen in den ersten Jahren nicht nur für das Kind, sondern auch für die Gesellschaft hingewiesen haben, eben ja auch gerade. Ist die Politik in Berlin zu wirtschaftshörig?

    Haderthauer: Die Politik nicht, aber die Wirtschaft selber hat ihren Auftrag vergessen. Die Wirtschaft argumentiert an den Menschen vorbei. Sie hat vergessen, dass sie für die Menschen da ist und nicht der Mensch nur auf Produktionsfähigkeit oder Produktionskraft für die Wirtschaft reduziert werden darf. Und das rächt sich. Wenn das Kindeswohl nicht mehr mitgedacht wird und wenn vor allem seitens der Wirtschaft – und das ist ein ständiger Vorwurf an die Wirtschaftsvertreter, den ich habe – nicht mehr mitgedacht wird, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch Mensch sein wollen, auch Familie leben wollen, dann argumentiert man lebensfremd und macht gravierende Fehler. Und genau das passiert. Ich bin froh, dass Politik sich nicht davon leiten lässt, aber es ist nicht zu verleugnen. Die Wirtschaft nimmt Familien massiv unter Druck, und dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen, und da muss Politik sich an die Seite von Familien stellen. Sie werden nämlich sonst wirklich ausgehungert, mit dem Ziel, dass doch bitte alle Vollzeit arbeiten sollen. Und das würde Kinder reduzieren zu einem reinen Störfaktor, den es wegzuorganisieren gilt. Das hat nichts mehr mit einer humanen Lebenswelt zu tun.

    Liminski: Nun hat auch Bayern ein Kita-Problem – wie wollen Sie in Bayern die Qualität und Quantität der Erzieherinnen erhöhen?

    Haderthauer: Bayern hat ganz bestimmt kein Kita-Problem. Wir haben in beiden – nämlich bei Qualität und bei Quantität – uns zum deutschen Meister herausgearbeitet. Unsere Kommunen haben ja mit einem Sonderinvestitionsprogramm des Freistaats massiv Plätze geschaffen, aber – und das war mir ganz wichtig – nicht auf Kosten der Qualität. Wir haben in den letzten fünf Jahren in dieser Legislaturperiode zweimal den Anstellungsschlüssel verkleinert, also die Gruppen verkleinert, wir haben zahlreiche Qualitätsmaßnahmen gemacht, wie zum Beispiel spezifische Sprachförderung, nicht nur für Migrantenkinder, sondern auch für Kinder ohne Migrationshintergrund. Wir haben inzwischen die höchste Betriebskostenförderung, weil es ja nicht nur um den Neubau, sondern auch um die laufenden Kosten geht, und tun ganz, ganz viel, um Erzieherinnen qualitativ fortzubilden, gerade mit dem Schwerpunkt unter drei, denn darauf sind ganz viele der pädagogischen Fachkräfte ja früher gar nicht ausgebildet worden.

    Liminski: Nun sind Erzieherinnen Idealisten, wenn man auf das magere Salär schaut. Muss mit einer höheren Qualifizierung nicht auch eine höhere Entlohnung einhergehen? Wie ist das denn bei Ihnen in Bayern?

    Haderthauer: Gut, es ist natürlich so, dass der Lohn eine Frage der Tarifverhandlungen ist. Was mir in Bayern ganz wichtig war, dass wir ein Fördersystem haben, was sich automatisch an den Tariflöhnen orientiert. Das heißt, wenn die Tarife steigen, dann steigt auch meine Förderung an jeden Träger, der eben ja das Personal entlohnen muss. Was aber noch wichtiger ist als der Lohn, sind die Rahmenbedingungen. Bei der Arbeit ist die Frage, wie Erzieherinnen und Erzieher von Bürokratie freigehalten werden durch die Träger, und ist auch die Wertschätzung, die wir den erziehenden Berufen insgesamt entgegenbringen müssen, und da kann sich durchaus noch was zum Positiven verbessern. Das ist aber eine Leistung, die die ganze Gesellschaft erbringen muss.

    Liminski: Also nicht nur die Kommunen oder die Träger wie die Kirchen und die AWO?

    Haderthauer: Ja, richtig. Da sind alle gefragt.

    Liminski: Müssen denn die Eltern sozusagen da ran, oder würden Sie sagen, Gesellschaft, wer ist das?

    Haderthauer: Ja, also sagen wir mal ganz spezifisch, die Eltern, die gerade in dem Stadium sind, dass sie ihre Kinder nun in der Kinderbetreuung haben, spielen natürlich eine Rolle, aber es ist schon insgesamt, die Wertigkeit von Kindererziehung ist in unserer deutschen Gesellschaft nicht besonders hoch. Da ist immer noch die Meinung, ähnlich wie bei der Altenpflege, na ja, was die Hausfrau früher umsonst gemacht hat, das kann doch heute nicht viel Geld kosten, und es wird nicht gesehen, was für eine hoch verantwortungsvolle Tätigkeit das ist, Bindungsqualität zu organisieren für Kleinkinder unter drei, also für Ein- und Zweijährige. Und deswegen meine ich mit der Wertschätzung für Familien, wenn die besser wäre in unserm Land, würde gleichzeitig auch die Wertschätzung für diese Berufe steigen, die originär familienaffine Tätigkeiten ausüben.

    Liminski: Umstritten ist ja nach wie vor das Betreuungsgeld. Könnte man die Mittel für das Betreuungsgeld nicht in die bessere Ausbildung der Erzieherinnen investieren?

    Haderthauer: Zunächst mal lehne ich es ab, dass Familienleistungen gegeneinander ausgespielt werden. Gerade das wollen wir ja nicht. Wir wollen ja, dass Familien, wie sie ihren Entwurf auch leben, sich wertgeschätzt fühlen und unterstützt werden, und nicht die einen Familien sozusagen für die anderen und deren Modelle mitzahlen müssen. Zum anderen ist das Thema bei den Erzieherinnen nicht unbedingt die Ausbildung – unsere Erzieherinnen haben eine Ausbildung, die qualitativ mindestens so hochwertig ist wie die der Erzieherinnen in den skandinavischen Ländern –, sondern es geht vor allem um die Rahmenbedingungen, um die Tatsache, dass sie auch Aufstiegsperspektiven haben müssen, und um die Frage der Wertschätzung überhaupt in der Gesellschaft, die ich eben schon angesprochen haben.

    Liminski: Sie sprechen gern von der Bindungsarmut in diesem Land und gelten natürlich als Verfechter des Betreuungsgeldes. Wie kann so ein kleiner Betrag der Bindungsarmut vorbeugen? In Frankreich beträgt es immerhin 550, in Skandinavien 300 bis 450 Euro.

    Haderthauer: Das ist völlig richtig, Herr Liminski. Sie wissen, dass ich immer wieder auch geworben habe dafür, dass wir das jetzt als einen ersten Schritt sehen und möglicherweise dann auch in Zukunft ein höheres Betreuungsgeld als eine Brücke vom Elterngeld in den Besuch einer Kinderbetreuungseinrichtung organisieren. Ich fände das sehr wünschenswert, denn es geht hier in der Tat nicht um ein Entweder-oder, sondern darum, dass Kinder zum Glück ganz individuelle Entwicklungsgeschichten und Entwicklungsrhythmen haben und dass eben nicht für jedes Kind bereits nach dem Ende des Elterngeldes mit einem Jahr der Besuch der Kita der ideale Weg ist. Vorrangig muss das Kindeswohl und die Bindungsqualität sein, und deswegen wäre ich jederzeit dafür zu haben, ein höheres Betreuungsgeld in die Hand zu nehmen, um Eltern zu ermöglichen, Bindung auch privat zu organisieren nach ihren Vorstellungen und danach, was für ihr Kind das Beste ist.

    Liminski: Halten Sie es denn für denkbar, dass die Parteien in einem, sagen wir in einem großen Konsens, ähnlich wie bei der Energiewende, sich auf mehr Investitionen für die Kinder, konkret für mehr Lohn und bessere Ausbildung für Erzieherinnen einigen, und zwar nicht nur in Bayern, sondern in der Bundesrepublik?

    Haderthauer: Ich glaube, dass das nur stattfinden wird, wenn wir insgesamt mehr Wertschätzung für Familien bekommen. Das heißt, Eltern besser fördern, wenn sie selber betreuen und erziehen, und gleichzeitig aber diejenigen, die das beruflich machen, noch besser unterstützen. Politik sollte hier vor allem eines schaffen, nämlich Verlässlichkeit. Und ich sehe leider in anderen Ländern, dass dort Kommunen und Träger nach dem ersten Ausbau der Kita ziemlich im Stich gelassen werden. Ich glaube, das Wichtigste wäre eine kontinuierliche, möglichst hohe Förderung der Betriebskosten, so wie wir das in Bayern zeigen.

    Liminski: Die Debatte um die Qualität der Erzieherinnen muss fortgesetzt und intensiviert werden zum Wohl der Kinder, sagt Christine Haderthauer, bayrische Sozial- und Familienministerin, hier im Deutschlandfunk. Besten Dank fürs Gespräch, Frau Haderthauer!

    Haderthauer: Danke, Herr Liminski!


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