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"Die Wissenschaft vom lieben Gott"

Manche bekommen leuchtende Augen, andere können es nicht mehr hören: wenn von der "Rückkehr der Religion" die Rede ist. Was ist damit gemeint? Mit dem Prozess der Säkularisierung fühlt sich die westliche Welt offenbar nicht mehr ganz so wohl wie noch vor zehn, zwanzig Jahren. Viele scheinen an dem nagenden Gefühl zu leiden, sie hätten über der Aufbauarbeit der liberalen, modernen "offenen Gesellschaft", die bekanntlich "ohne Zentrum" ist, etwas Wesentliches vergessen, hätten sozusagen ihre Mitte verloren.

Von Marius Meller | 13.02.2007
    Man fülle bitteschön diese leergewordene Mitte mit Gott, den man in den Jahrhunderten zuvor rücksichtslos und samt seines Menschensohnkindes mit dem Bad der alten Ordnung ausgeschüttet hatte!

    Nach diesem metaphysischen "refill" rufen nicht nur Theologen, Ratzinger-Fans und die katholische Kulturkritik, die angesichts der kollektiven Papst-Besuchs-Extasen vermeint, Oberwasser kommen zu sehen.

    Sogar der notorisch vernunft-nüchterne Philosoph Jürgen Habermas setzte sich kurz vor dessen Kür zum Pontifex mit dem notorisch heilig-nüchternen Ratzinger an einen Tisch, und sprach von den "verkapselten Potentialen" gläubiger Vernunft, die ja immerhin auch Vernunft sei.

    Aber zumindest eines sollte den Beobachter dieser Phänomene skeptisch
    stimmen: Der Terminus "Wiederkehr der Religion" ist erst im Schwange, seit die apokalyptischen Nihilisten von der Al Quaida die New Yorker Zwillingstürme sprengten. Sollte sich angesichts dieses geballten Hyper-Fanatismus bei uns ex negativo ein kulturelles Minderwertigkeitsgefühl gebildet haben? Oder handelt es doch nur um eine Medien-Dynamik höherer Ordnung, die wir selbst nicht ganz durchschauen?

    Eine ungemein wohltuende und sachlich höchst gebotene Ruhe bringt in diese Materie - Pardon! - in diesen Geist der bibliophil in der "Anderen Bibliothek" erschienene Großessay "Die Wissenschaft vom lieben Gott" des Berliner Politikwissenschaftler Otto Kallscheuer. Im Untertitel nennt er sein glanzvolles Opus raffiniert "Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten" was logisch gesehen eine Tautologie darstellt, genauso wie Nietzsches berühmter Untertitel "Ein Buch für Alle und Keinen". In der Tat ist sein Buch ein Buch für alle. Zehn Jahre hat Kallscheuer an seinem opus magnum gefeilt und gebrütet und auch immer wieder aktualisiert, so dass der Leser nicht nur theologiegeschichtlich überwältigend profund informiert wird, sondern auch die neueren Strömungen und Entwicklungen berücksichtigt findet.

    Kallscheuer hat eine überzeugende Form für seine 487 erstaunlich leichtfüßigen Buchseiten gefunden. Er führt zwei para-sokratische Dialogpartner ein, nicht etwa Künstler und Teufel wie Thomas Mann in seinem theologiegesättigtem "Doktor Faustus", sondern einen theologisch Versierten und einen mehr oder weniger agnostischen Zwischenfrager. Der Gebildete ist wie sein Autor, der schon einige vielbeachtete Veröffentlichungen zur Religion und Religionssoziologie vorgelegt hat, ein metaphysikgeschichtlicher Allesfresser, gleichwohl ein höchst subtiler. Auf jede noch so kaltschnäuzige Zwischenfrage reagiert er mit einer weiteren Quelle und Gegenquelle oder einer neuen dialektisch-didaktischen Volte.
    Oder er schiebt ein traktatartiges Zwischenkapitel ein - zur Belehrung und gelehrten Unterhaltung.

    Eine ausführliche Bibliographie für jedes Kapitel gibt ausgezeichnete Lesetipps aus Theologie und Philosophie und bildet einen hochinteressanten Quellenkanon für das was der jüdische Religionswissenschaftler Jakob Taubes einen "heißen Diskurs" genannt hat.

    - Seit einigen Jahrzehnten wird ja bei manchen "fortschrittlichen"
    Theologen auch die Lehre vom Sohn als Heilsbringer immer mehr auf die ethischen Gebote Jesu reduziert.
    - Kräuselt da etwa Missmut Ihre Stirn? Was missfält Ihnen daran? Haben Sie vielleicht etwas gegen Friedensliebe?
    - Ach nein, gegen eine freundlich "jesuanische" Aufforderung zur Nächstenliebe oder solidarischen "Spiritualität" ist doch überhaupt nichts einzuwenden. Aber hätte man sich da den Lieben Gott nicht sparen können?
    Der gute Mann Jesus tut's doch auch. Am Ende würde sich ein derart "jesuanisch" reduziertes mainline-Christentum in der Tat kaum mehr von einem spiritualistisch verdünnten Judentum unterscheiden. Wenn der Herr Jesus nicht im interreligiösen New Age auch noch zu einer Art Kollegen Buddhas mutiert.
    - Um so besser: Dann ist es ja auch nicht mehr weit bis zum "Weltethos".
    Also erübrigen sich gleich die meisten theologisch quälenden Fragen nach der gott-menschlichen Doppelnatur (in) der Person Jesu. Wird in der hebräischen Bibel nicht auch das Volk Israel mitunter als Sohn Gottes bezeichnet? Und sind wir nicht alle Kinder Gottes, von IHM geschaffen nach Seinem Bilde?


    Bei aller theologischen Liberalität der "Wissenschaft vom lieben Gott" - die göttlichen Personalpronomina werden bei Kallscheuer großgeschrieben.

    Nach dem knappen Halbtausend unterhaltener wie belehrender Seiten steht
    fest: Die göttlichen Majuskeln sind keine ironische Marotte mehr wie sie bei Feuilletonglossisten eines theologischen Sujets Gang und Gäbe ist. Vom absoluten "Gott der Philosophen" bis zum kabbalistischen En-Sof der Juden und der Gotttmenschlichkeit des Erlösers: Kallscheuer nimmt Gott ernst, so ernst, dass ihm Phänomene wie das "spirituelle New Age" oder die "weichgespülte" Kirchentagsfrömmigkeit für ihn intellektuelle wie theologische Ärgernisse sind. New Age ist bei Kallscheuer fast schon ein Kampfbegriff - und er gilt bei ihm im Grunde für die antidogmatischen Synkretismen aller Zeiten und Räume, die andere Religionswissenschaftler wie etwa der Ägyptologe Jan Assmann viel freundlicher als "Renaissancen"
    bezeichnen:

    Es geht beim Auferstehungsglauben gerade nicht in erster Linie um die Unsterblichkeit der Seele, einen in der hellenistischen Antike recht populären Mythos. Schon damals kannte ja das New Age diverse orientalische Seelenwanderungslehren und Mysterienkulte.

    Kallscheuers Sympathien liegen ganz klar beim Monotheismus, vielleicht auch beim dreieinigen Christengott, auch wenn hier das Hinterfragen dieses Dogmas eine eigene Dignität gegenüber der bloßen frommen Affirmation entfaltet, ja möglicherweise als eine List der Vernunft beziehungsweise des heiligen Geistes verstanden wird. Der Autor bietet einen Überblick über die Vielfalt theologischen Denkens im Mittelalter. Er verteidigt überzeugend die Liberalität des Katholizismus im Mittelalter, soweit das theologisch gefährliche Denken innerhalb der Klostermauern blieb. Tendierte es "nach draußen" in die Öffentlichkeit - was vor Gutenbergs Erfindung sowieso kaum möglich war - rauchte ja alsbald der Scheiterhaufen. Auf diese unschönen Komponenten der "christlichen Aufklärungsgeschichte" wie überhaupt auf all die Grässlichkeiten des Christentums als politischer Theologie legt Kallscheuer geringeren Wert, aber er erwähnt sie immerhin hie und da. Jeder theologisch interessierte Leser wird natürlich einen anderen Lieblingskirchenvater vermissen. So verzichtet Kallscheuer etwa bei der Diskussion des Freiheitsbegriffs auf den eigentlich unverzichtbaren Häretiker Pelagius aus dem fünften Jahrhundert, der noch Goethe inspirierte, und der die Freiheit von Erbsünde postulierte.
    Alles Fundamentale ist Kallscheuer ein Greuel. Sogar im Judentum, das sich ja theologisch als Gottes erwähltes Volk im Leiden und Dulden und als friedlicher Bewahrer und Ausleger der Schrift versteht, sieht er die Möglichkeit des Fundamentalismus:

    - Sollte diese Gestalt einer interpretativen theologischen Vernunf "ohne Zentrum" für unsere multireligiöse Zukunft nicht bedeutsamer werden als jeder herrschaftlich verfasste Monotheismus von Kirche oder Kalifat?
    - Ich gebe zu, die Idee klingt sympathisch. Sollten Sie damit allerdings die Annahme verbinden, die religiöse Diaspora neige per se zur pluralistischen Gelassenheit, dann täuschen Sie sich gewaltig:
    Normalerweise ist das Gegenteil der Fall. Die zerstreute Minderheit, die um ihr Überleben bangt, kann genauso gut auch Brutstätte des Fundamentalismus werden.


    Kallscheuer entwirft so etwas wie einen postmodernen Katholizismus - wobei er einen ernsthaften Begriff von theologischer Wahrheit pflegt - und ist in dieser Hinsicht Ratzinger recht nahe, der zumindest laut dem Philosophen Peter Sloterdijk dabei ist, ein demokratiekompatibles Pontifikat zu entwickeln. Naheliegende Gedankenfiguren, wie die des Theologiehistorikers Kurt Flasch, dass die Kirche auffälliger Weise erst ihre friedlichen Aspekte entwickle, genau seitdem sie ihre weltliche Macht eingebüßt habe, fehlen. Für Mystiker jeder konfessionellen Couleur hat Kallscheuer wenig übrig, genauso wenig wie für apokryphe Evangelien. Die US-amerikanische Religionswissenschaftlerin und Nag-Hammadi-Expertin Elaine Pagels wird zwar einmal erwähnt, aber ihre sensationellen Hypothesen zum Thomas-Evangelium scheinen Kallscheuer kaltgelassen zu haben.

    Die Wahrheitssuche ist selbst für eingefleischte Monotheisten im Fluss, und wie sie im Fluss ist, das zeigt Kallscheuer auf ebenso sympathische wie absolut anregende Weise. Wo wenn nicht hier wäre das auszumachen, was Habermas "verkapselte Sinnpotentiale" nennt. Nein, mehr als nur "verkapselt" - unter Kallscheuers Theologie-Kaskade blüht etwas auf, was für unsere Zeit maßgeblich werden könnte: Dass das inspirierte Interesse an Religion allmählich an die Stelle von Religion selbst zu treten hat.