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Die Würde des Menschen und seine Rechte

Was bedeutet es, dass ausnahmslos jeder Mensch eine unantastbare Würde besitzt? Mit einem Aufsatz von Jürgen Habermas und der Rede von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag gab es in jüngerer Zeit zwei bedeutsame Stellungnahmen. Sie können eine notwendige Debatte weiter voranbringen.

Von Christoph Böhr | 02.02.2012
    Als Jürgen Habermas seine Gedanken zur "deliberativen Demokratie" vor fast genau zwei Jahrzehnten veröffentlichte, ging es ihm um die Frage, wie wir die Menschenrechte - bei uns und weltweit - begründen können. Der Begriff der Menschenwürde spielte bei Habermas damals keine Rolle. Und das, obwohl die Menschenwürde in unserer Verfassung - wie auch in anderen - die Überzeugung von der Geltung der Menschenrechte begründet. Dieser Verzicht auf den Begriff der Würde hatte seinen Grund: Der metaphysische Gehalt, der mitschwingt, wenn wir von Menschenwürde sprechen, war mit der postmetaphysischen Grundüberzeugung von Habermas nicht zu vereinbaren.

    Jetzt hat Habermas einen lesenswerten Essay über "Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte" veröffentlicht. Das Bemerkenswerte an diesem Aufsatz ist: Habermas argumentiert, dass ein politisches Konzept, in dessen Mittelpunkt die Menschenrechte stehen, ohne den Begriff der Menschenwürde nicht auskommen und nicht aufgehen kann. Wörtlich heißt es:

    "Die Menschenwürde bildet gleichsam das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird. Die Idee der menschlichen Würde ist das begriffliche Scharnier, welches die Moral der gleichen Achtung für jeden mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtsetzung so zusammenfügt, dass aus deren Zusammenspiel unter entgegenkommenden historischen Umständen eine auf Menschenrechte gegründete politische Ordnung hervorgehen konnte."

    Der Begriff der Menschenrechte, so Habermas weiter, verdankt sich einer Synthese von zwei Elementen: auf der einen Seite der verinnerlichten, im subjektiven Gewissen verankerten und rational begründeten Moral. Und auf der anderen Seite dem zwingenden, positiv gesetzten Recht, das als Organisationsmittel der modernen Staatsanstalt dient. Habermas fährt fort:

    "Und diese Verbindung hat sich über das begriffliche Scharnier der 'Menschenwürde' vollzogen."

    Hier findet sich eine Weiterentwicklung, ja, eine Weitung früheren Denkens bei Habermas, die aufhorchen lässt. Zwar gilt Habermas die Rede von den "angeborenen" und "unveräußerlichen" menschlichen Rechten, die in der Erkenntnis seiner Würde wurzeln, heute nur deshalb noch als bedeutsam, insofern sie einen Raum schafft für die Erinnerung daran, dass Recht immer mehr ist als das, was im Gesetz steht und Grundlage staatlicher Zwangsgewalt ist. Prädikate wie "angeboren" oder "unveräußerlich"

    "erinnern an den kognitiven, staatlicher Verfügung entzogenen Modus einer allgemein zustimmungsfähigen Begründung des überschießenden moralischen Gehalts dieser Rechte."

    Aber reicht es tatsächlich aus, die Würde des Menschen nur als eine Erinnerung an die moralische Dimension des Rechts zu verstehen?

    Vor sechzig Jahren, als der Begriff politisch Kontur gewann, blickte man noch ganz unverkrampft auf die metaphysischen Quellen der Erkenntnis menschlicher Würde. Der französische Philosoph Jacques Maritain hat bei der Ausarbeitung des Entwurfs der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" aus dem Jahr 1948 eine maßgebliche Rolle gespielt. Sie ist heute nahezu vergessen. Maritain war überzeugt, dass die Würde des Menschen nicht anders begründet werden könne als in seiner Natur. Er glaubte, dass deren Achtung auf Dauer nicht gewährleistet werden könne, wenn Menschenrechte ausschließlich als das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Würde und Recht können leicht mit Füßen getreten werden, wenn sie nur als Konvention gelten - wie nicht zuletzt die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts gezeigt haben.

    Deshalb plädierte Maritain unmissverständlich dafür,

    "dass wir den Begriff des Naturgesetzes in seinen wahren metaphysischen Nebenbedeutungen, in seiner realistischen Lebendigkeit und der Demut seiner Verbindung mit Natur und Erfahrung wiederfinden."

    Anders, so vermutet Maritain kann der universale Anspruch der Menschenrechte nicht begründet werden - außer dieser Anspruch findet sich in der Natur des Menschen verwurzelt, um so zur Grundlage einer moralischen Forderung zu werden, die

    "überall in der Welt der Erfahrung, der Geschichte und der Wirklichkeit Geltung haben und die für das Gewissen wie für das geschriebene Gesetz ein dauerndes Prinzip und die wichtigsten und universellen Normen von Recht und Pflicht begründen kann."

    Um die Geltung dieses Anspruchs ringen wir bis heute. Der jüngste Versuch von Habermas, die Bedeutung des Würdebegriffs zu begründen, ohne auf eine Lex naturalis - also eine Begründung in der Natur der Sache - Bezug zu nehmen, bleibt, so ist zu befürchten, am Ende dann doch auf Sand gebaut. Denn wenn Würde nicht auf ein fundamentum in re - eine Grundlage in der Sache selbst - aufbauen kann, bleibt ihre Achtung so zerbrechlich wie die Vereinbarung, auf deren Anerkennung sie gründet.

    Ist der Würdebegriff, wie Habermas meint, wirklich nur eine begriffliche oder ist er nicht, wie Maritain glaubt, auch eine sachliche Brücke? Dass jede Antwort auf diese Frage weitreichende Folgen hat, zeigt sich im Begriff des Gewissens: Ist es, wie die Stelle aus der Würde-Schrift von Habermas zum Ausdruck bringt, der Ort einer verinnerlichten, in ihm verankerten und vernünftig begründeten Moral? Es kann kein Zweifel sein: Habermas meint, wenn er von Verinnerlichung spricht, die subjektive Aneignung einer konventionellen Überzeugung. Er hat nicht jenen anderen Begriff des Gewissens im Blick, der in ihm den Ort der subjektiven Verlebendigung einer objektiven Natur im Licht der menschlichen Vernunft erkennt.

    Hier steht aber, wie Walter Schweidler ist seinem jüngsten Buch "Über Menschenwürde" treffend schlussfolgert, mit der Frage nach dem Grund unseres Handelns die originär ethische Differenz selbst, die Differenz zwischen Gut und Böse, auf dem Spiel. Es ist nicht nur die Konvention, sondern vor allem ist es unsere Natur, die sich im Gewissen - als subjektive Erfahrung eines objektiven Inhalts - zu Gehör bringt.

    Dennoch ist die Schrift von Habermas ein Meilenstein, und zwar deshalb, weil sie angekommen ist bei jener Vorstellung, über deren Begründung und Entfaltung sich anthropologisch, sozialphilosophisch und politisch alles entscheidet: dem Begriff der Würde. Umso wichtiger ist es, jetzt nicht stehen zu bleiben, sondern voranzugehen und die Argumente wechselseitig weiter auszutauschen.

    Einen wichtigen Anstoß dazu hat Papst Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag gegeben, wenn er auf die Frage, wie wir erkennen, was recht ist, den Zusammenklang von subjektiver und objektiver Vernunft einfordert - und schlussfolgert: Der Wille des Menschen ist

    "recht, wenn er auf die Natur achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat."

    Benedikt erinnert an die schon in der Antike bei Aristoteles begründete Verständnisweise von Natur. Das Gewissen ist, wenn man diesem Denken folgt, die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft, sodass Paulus im Brief an die Römer sagen kann: Menschen, die nichts von Gott wissen, sind sich selbst Gesetz: "ipsi sibi sunt lex". Ihr Gewissen legt Zeugnis ab von dem, was ihnen ins Herz geschrieben wurde: als die subjektive empfundene Erfahrung eines objektiven gegebenen Inhalts.

    Beide Dokumente, die Rede des Papstes und der Aufsatz von Habermas, bieten Stoff für eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Befassung mit der nicht nur für unsere eigene, deutsche Verfassung entscheidenden Frage: Was heißt es, dass ausnahmslos jeder Mensch eine unantastbare Würde hat? Alles für unser Selbstverständnis als Mensch und Bürger hängt davon ab, dass wir uns im Fortgang der Auseinandersetzung auf ein gemeinsames Verständnis in der Beantwortung dieser Frage hinbewegen.

    Der Autor unterrichtet Sozialwissenschaften an der Universität Düsseldorf und Philosophie an der Hochschule Heiligenkreuz bei Wien.