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Die Wunde sauber halten

Die pharmazeutische Industrie hat eine Vielzahl von Produkten entwickelt, die eine Infektion einer Wunde verhindern soll. Ob eine Desinfektion notwendig ist, hängt von der Art und der Größe der Wunde ab.

Von Mirko Smiljanic | 02.10.2012
    Ende Oktober, irgendwo zwischen Leverkusen und Köln. Es dämmert, Nieselregen und Dunst lassen die Straße fast verschwinden. Mit moderaten 40 Kilometern pro Stunde nähert sich der Wagen einer weiten Rechtskurve. Kein Problem für den Fahrer. Trotzdem macht er fast alles falsch. Der Wagen kollidiert mit einem ausgewachsenen Wildschwein, das urplötzlich aus dem Dickicht auftaucht und die Straße überquert. Der Fahrer hatte keine Chance, Bremsen oder Ausweichen waren nicht mehr möglich, trotzdem hat er Glück im Unglück: Der Airbag verhinderte Schlimmeres, mehr als eine blutende Wunde am Kopf trägt er nicht davon:

    "Wir kommen an der Einsatzstelle an, inspizieren den Patienten, wo die Verletzungen beim Patienten sind. Gucken uns die Wunde an. Je nach Verletzungsmuster, sprich nach einem Sturzgeschehen, bekommt der Patient auch eine Halskrause von uns angelegt, um die Halswirbelsäule zu stabilisieren, damit es da nicht zu weiteren Verletzungen kommen kann."

    Alltag für Tim Erwin, Rettungsassistent bei der Kölner Berufsfeuerwehr. Sind Knochen gebrochen? Stehen die Unfallbeteiligten unter Schock? Wie sehen die Wunden aus?

    "Wenn es eine stark blutende Wunde ist, haben wir halt sterile Abdeckmaterialien, die auch extra verpackt sind auf dem Fahrzeug, die reißen wir auch erst vor Ort auf, dass sie nicht keimbesiedelt sind. Und decken dann die Wunde damit ab, machen dann einen Kopfverband, dass dann halt die Blutung ein bisschen komprimiert wird. Und dadurch kommt es meist zu einer Blutreduzierung. Oder wenn es richtig stark blutet, gibt es halt einen Druckverband, wo man wirklich mit Druck auf die Wunde diese Wundränder komprimiert und auch die Gefäße komprimiert und es zu einer Blutstehung kommt bis ins Krankenhaus."

    Wo der Notarzt alles Weitere veranlasst, auch die Desinfektion der Wunde. Bis vor einigen Jahrzehnten war Jod dafür das Mittel der Wahl, sagt Professor Alex Lechleuthner, Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Kölner Berufsfeuerwehr.

    "Jod ist ein sogenanntes Halogen. Das ist ein chemisches Element, was sehr stark mit der Umwelt reagiert. Da gehören auch noch andere dazu wie Chlor und Fluor, die haben einen entscheidenden Vor- und Nachteil. Der Vorteil ist, sie reagieren mit biologischen Strukturen in der freien Form sehr stark und inaktivieren dann auch zum Beispiel Bakterien und andere Kleinstlebewesen und Viren und so weiter."

    Der Nachteil ist, dass Halogene in gasförmigem Zustand für Menschen hochgiftig sind. Sie zerstören nicht nur Keime, sie führen eingeatmet auch zu lebensbedrohlichen toxischen Lungenödemen. Hinzu kommt, dass nicht jeder Mensch Jod verträgt:

    "Sie haben eine Schilddrüsenerkrankung, weil Jod auch wichtig für die Schilddrüse ist. Und deswegen sollte man im Umgang mit Desinfektionsmitteln, übrigens ist es auch in Kontrastmitteln drin, sollte man immer vorsichtig sein und danach fragen, ob die Leute Störungen im Bereich der Schilddrüse aufweisen."

    Neben Jod gibt es mittlerweile eine breite Palette unterschiedlicher Wunddesinfektionsmittel. Wasserstoffperoxid zählt zu den sehr wirksamen Mittel gegen Bakterien, Viren, Pilze und Sporen, wird aber ebenfalls kaum noch eingesetzt. Im Vordergrund stehen heute Alkohole – Ethanol und Isopropanol etwa –, aber auch Polihexanid und Chlorhexidin. Eine weiter Klasse von Wunddesinfektionsmitteln sind Metalle wie Kupfer und Silber. Die bakterizide Wirkung von Kupfer kannten übrigens schon Ärzte in der Antike, deren Operationsbestecke aus Kupfer gefertigt waren. Silber zur Wunddesinfektion findet heute vor allem in der Verbrennungsmedizin Anwendung.

    Warum ist die Desinfektion von Wunden überhaupt notwendig? Weil Myriaden Kleinstlebewesen wie Bakterien und Pilze unsere Haut besiedeln. Solange sie sich auf der äußern Haut tummeln, sind sie ebenso notwendig wie nützlich, ihre Stoffwechselprodukte bilden eine mikroskopisch dünne Schutzschicht:

    "Neben diesen Bakterien, die normalerweise wichtig sind, gibt es auch Bakterien, die dort eigentlich nicht hingehören, die es aber trotzdem dort gibt, die man aus der Umwelt oder aus dem Darm zum Beispiel kennt, nach dem Toilettenbesuch. Und da gibt es eben Bakterien, die in Wunden eindringen, wenn die Möglichkeit besteht, wenn die Haut als Schutzbarriere durchdrungen ist, dass sie eindringen, sich dort vermehren und dass sie dann eben eine Infektion auslösen."

    Bakterien vermehren sich in Wunden, bilden Gifte, Abwehrzellen treten auf den Plan, die binnen kürzester Zeit Entzündungen auslösen.

    "Wenn die Abwehr jetzt nicht einen zweiten Wall aufbaut, der erste Wall, die Haut, ist durchdrungen, der zweite Wall bildet die körpereigene Abwehr, wenn die nicht steht, die Bakterien das überwinden, dann können die ins Blut gelangen und eine sogenannte Blutvergiftung auslösen."

    Die früher fast immer zum Tod führte. Aber keine Angst, nicht jede unbehandelte Wunde führt zu einer Blutvergiftung.

    "Wenn eine Wunde stark blutet, dann reinigt die sich im Prinzip selbst-, an muss deswegen nicht jede Wunde sofort desinfizieren, insbesondere wenn sie sauber ist. Hier genügt oft auch ein Abdecken mit einer sterilen Wundauflage. Und bei entsprechend kleineren Wunden ist es so, dass die auch ohne Desinfektion abheilen können."

    Bei größeren und tieferen Wunden ist eine Desinfektion notwendig, wobei es aber auch da Grenzen gibt. Etwa bei Tetanus beziehungsweise beim Wundstarrkrampf.

    "Tetanus sind auch Bakterien, die in die Wunde kommen können, aber dort produzieren sie ein bestimmtes Gift, das Tetanusgift. Und das wirkt sehr stark neurotoxisch. Wenn man das erleidet, ist das eine lebensbedrohliche Vergiftung, weil die Nerven im Körper lahmgelegt werden."

    Da helfen nur regelmäßige Impfungen. Die Desinfektion einer Wunde ist ein Abwägungsprozess: Manchmal ist sie zwingend notwendig, manchmal kann man aber auch drauf verzichten. Ist die Wunde klein und das Immunsystem intakt,

    "reicht im Prinzip auch nur die Wundreinigung und dann das sterile Abdecken. Man kann auch bei ganz kleinen Wunden das offen lassen, dass es verschorft, verheilt, das ist auch möglich. Aber immer dann, wenn die Wunden tiefer sind, wenn Dreck reingekommen ist, wenn die Gefahr besteht, dass eine Infektion leichter angeht, dann sollte man auch eine Wunddesinfektion mit diesen Substanzen durchführen.""

    Tausendfach trainierte Handgriffe für den Rettungsassistenten Tim Erwin. Trifft er am Unfallort ein, geht es um Minuten. Nachdenken kommt später.

    "Die meisten schweren Unfälle sind einfach, sobald Kinder beteiligt sind oder wirklich Schwerstverletzte, wo es dann wirklich auf Kippe steht, ob die Patienten mit uns überhaupt bis ins Krankenhaus gebracht werden können. Aber da funktioniert man in dem Moment einfach nur. Man arbeitet halt die Situation ab. Die Gedanken kommen einem dann erst nach Abgeben des Patienten im Krankenhaus dann wirklich."