Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Die Zauberformel der Liebe

Eine "Verheißung" nennt die in Paris lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber ihren zweiten Roman. Mit poetischer und analytischer Sprengkraft nähert sich das präzise komponierte Buch dem Diesseitigen und Jenseitigen der Liebe.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 11.09.2012
    "Mit jeder zurückflutenden Welle wurde die von weißem Schaum ins schlürfende Wasser gezeichnete Schlangenlinie einen Atemzug lang sichtbar. Der Leuchtturm bleckte die Zähne, wie um das Meer in Schach zu halten. Am Fuß des Leuchtturms war das Wasser fast schwarz.”

    Der erste Eindruck beim Lesen von Anne Webers Roman "Tal der Herrlichkeiten” ist die Präzision ihrer Sprache, eine Präzision, die auch die von ihr gewählten Bilder erfasst und ihnen eine scharfe Kontur verleiht. Bedachtsam nähert sich die in Paris lebende Autorin über die Geräusche, die Fische machen sollen, und über das unheimliche Schauspiel eines die Erde bespringenden Hundes der Hauptfigur Sperber, die sich, angezogen und abgestoßen von diesem Schauspiel, mit sich selbst konfrontiert, mit einem "Ich-Selbst ohne Scham, ohne Hemmungen”.

    "Die zwei Hauptfiguren meines Buches, Luchs und Sperber, sind keineswegs total neurotisch. Aber sie sind beide, Luchs übrigens auch, wie die meisten unter uns, mit kleinen Macken oder Schwächen versehen, mit Ticks eben, die von ihrer Lebensgeschichte herrühren. Bei Luchs ist es diese Art, dieser Detailblick, den sie hat. Sie kann immer nur ganz winzige Einzelheiten wahrnehmen, und diese Einzelheiten versperren ihr manchmal den Blick aufs Ganze."

    Sie, eine berückend schöne Frau, taucht eines Tages wie aus dem Nichts auf, küsst ihn auf den Mund und verschwindet wieder spurlos. Die Begierde (auch gepaart mit Ärger und Zorn) wird in ihm - den es von Paris in ein Hafenstädtchen am Nordatlantik verschlagen hat - geweckt und gibt von nun an alle seine Bewegungen und Gedanken vor. So entsteht das real-imaginäre Liebespaar.

    "Den Anfang einer Charakterisierung liefern ja schon die Namen. Sperber hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vogel, dem gleichnamigen, und Luchs hat diesen besonders scharfen Blick, diesen Detailblick. Mit dem Orpheus des alten Mythos hat Sperber gemeinsam, dass er seine Geliebte sehr bald, nachdem sie zusammengekommen sind, wieder verliert und dass er sich aber mit diesem Tod nicht abfinden kann und sich aufmacht ins Reich der Toten, um seine Geliebte wieder zu den Lebenden zurück zu holen."

    Anne Webers Sprache knüpft (mit ihrer Klarheit, die immer auch das Pathos berührt) ein fein gesponnenes Band zwischen der auf Genauigkeit angewiesenen Anordnung in den Zwangshandlungen von Sperber und der verschwommenen, vagen und amorphen Figur der Fremden. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat davon gesprochen, dass die Zwangsneurose - also die Zuspitzung von Zwangshandlungen - "eine Frage ist, die das Sein dem Subjekt stellt”. Es ist die Frage nach dem Tod: "Sein oder nicht sein?”, "Bin ich tot oder lebe ich?”, "Warum existiere ich?” Dabei verliert die Wirklichkeit ihre festen Konturen.

    "Ich mache keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Imagination. Das heißt, das eine geht in das andere über, ohne dass der Leser es merkt und ohne dass ich selbst es wirklich merke. Sperber erträgt diese Trennung von seiner Geliebten nicht. Und der Wunsch, sie wiederzufinden, ist so groß, dass er darüber ganz vergisst, dass dieses Unterfangen ja eigentlich unmöglich ist. Und Sperber, nach einer Phase , in der er völlig verzweifelt ist und fast wahnsinnig wird, beginnt nachzudenken über den Zugang zu der Welt der Toten wie über eine Reise. Vielleicht nicht wie über eine gewöhnliche Reise, aber sagen wir mal, wie über eine schwierige Expedition. Dieser Übergang ist dann fließend. Man merkt nicht, man merkt ihn eigentlich nicht. Ist er noch bei den Lebenden? Das heißt vielleicht auch "in der Wirklichkeit”? Oder ist er schon im Reich der Toten angelangt? Und es hat eigentlich auch keine Bedeutung, in welcher dieser Welten er sich bewegt. Ganz starke innere Bilder können, glaub ich, einen höheren Wirklichkeitsgrad erreichen in der Beschreibung als die sogenannte Wirklichkeit."

    Seine gleichermaßen analytische und poetische Sprengkraft erhält dieser Roman dadurch, dass er die Modernität der auftretenden Figuren - ihre Diesseitigkeit und das heißt auch: ihre Neurosen - mit der Jenseitigkeit eines großen Mythos, des Mythos von Orpheus und Eurydike verbindet, beide Ebenen übereinander lagert. Orpheus - Inbild der Liebe und des Sich-Sehnens, auch der Macht der Musik und des Tanzes - betörte mit seinem Lyra-Spiel nicht nur die Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine, sondern auch die Götter. Und es war der Gott Hades, der ihm seine tote Geliebte, die Nymphe Eurydike, zurückgab - verknüpft mit der Bedingung, dass er beim Aufstieg in die Oberwelt vorangehen müsse und sich nicht nach ihr umschauen dürfe. Genau so taucht auch die Fremde vor Sperber auf - wie aus dem Nichts -, und so wie Orpheus Eurydike nicht kommen hörte, so vernimmt auch Sperber ihre Schritte nicht und verliert sie erneut. Wer aber ist die Frau, die dann wieder neben ihm liegt: das Bild, an dem er festhält, ein Phantombild, das er in andere Frauen hineinprojiziert? Ist sie ein Symbol für seine "namenlose Begierde”, viel umfassender noch für seine Sehnsucht nach dem Leben, für seinen Wunsch, von etwas Unbekanntem, von der Welt erreicht zu werden?

    "Ja, ein Spannungsfeld entsteht ja eigentlich immer zwischen Gegensätzen, und es entsteht zum Beispiel, wenn Sperber, der Lebendige, für den es also eine Zeit gibt, in das Reich der Toten eindringt, wo es keine Zeit gibt, wo es weder Tag noch Nacht gibt, wo tatsächlich Zeitlosigkeit herrscht. Oder auch Sperbers Liebe und sein Verlangen, die den Tod seiner Geliebten ja überdauern. Was passiert mit diesen Gefühlen, mit dieser Anziehung, wenn der Mensch, dem sie ja gelten, nicht mehr da ist. Und das ist eine Spannung, die ins Leere führt oder eben zu sich zurück in die eigene Vorstellung führt. Und diese schmerzliche Spannung ist mir beim Schreiben auch spürbar geworden."

    Über dem ganzen Roman liegt die Atmosphäre einer ebenso herbeigesehnten wie bedrohlichen Zeitlosigkeit, einer Zeit zwischen zwei Atemzügen. Einmal heißt es sogar vom Meer, dass es zu atmen aufgehört, die Brandung ausgesetzt hatte. Der Gesang, den Sperber hört, ist der Gesang der Sirenen, die ihn anlocken. Die Ereignisse der Natur - vor allem die anrollenden und zurückflutenden Wellen und das symbolbeladene Wechselspiel von Ebbe und Flut - sind in diesem Roman aufs Engste mit dem Erleben der Menschen verbunden. Alles scheint in einem Prozess ständiger Transformation zu sein. So rückt diese Welt in die Nähe des Mythos, und es überrascht nicht, dass auch die Sprache des Mythos Eingang in die Erzählung findet und diese mitformt:

    "Weichende Wasser, weichende Wasser, wovon zehrst du, Feuer, du brennst und brennst ... Lass die Wasserflammen brennen, lass die Wasserflammen brennen. Einmal sagt das Feuer: Es ist gut.”

    Die Namen des Paares - Sperber und Luchs - verstärken noch den Eindruck, dass in der Welt dieses Romans Menschen, mythische Figuren, Naturereignisse und Tiere (Fische, dicht über das Wasser flitzende Kormorane, Einsiedlerkrebse und Hunde) einander sehr nah sind und einen Kosmos bilden. Eine tote Möwe und eine tote Taube erscheinen wie Boten aus dem Reich der Toten, dem "Dämmerland”, und zugleich wie Hoffnungsträger: wenn in ihnen auch nur "ein Funken oder eine Feder Leben” steckte, konnte dies dann nicht auch für die tote Geliebte gelten? Und der Regenbogen: Sieht so der Zugang zum Reich der Toten, der Entrückten aus? War es mit den Toten vielleicht so wie mit dem Schiffswrack, das man bei Ebbe immer übersehen hatte? Vielleicht ist Metamorphose das Zauberwort, das als geheime Triebfeder in all diesen Bewegungen zwischen der Welt der Lebenden (mit ihren Ticks und Begierden) und dem Reich der Toten wirkt.

    "Also wenn es eine Zauberformel gibt in diesem Buch, dann ist es, glaub ich, das Wort 'Liebe'. Und dass die Liebe, die Liebe als Heilung. Denn erst durch die Kraft der, also die Liebe gibt ja Sperber erst die Kraft, ins Reich der Toten aufzubrechen, und übrigens macht auch erst die Liebe Orpheus’ Gesang so schön, so schön, dass er von den Göttern dann etwas erreicht, was sonst keinem Sterblichen möglich ist. Aber natürlich hat Liebe etwas mit Verwandlung zu tun. Wer liebt, verwandelt sich."

    Das Abenteuer der Lektüre dieses Romans besteht darin, sich unablässig in andere Welten entführen zu lassen und Teil eines unendlichen Gestaltwandels zu werden. Manchmal kann es dem Leser vorkommen, als halte er sich in einer Zeit zwischen zwei Atemzügen auf, in einem gedehnten, mit Figuren, Phantasien und Sehnsüchten, mit Träumen, Einbildungen und fixen Ideen reich bevölkerten Raum. Der Leser erfährt die Bedrohlichkeit, die in den "fiebrigen Trugbildern” von der toten aber ganz nahen Geliebten, in dem Wahn, sie den Toten entreißen zu können, in der Halluzination einer Rettung für beide, beschlossen liegt. Und wie es sich anfühlt, wenn die tote Geliebte einfach alles ist: die Landstraße, der Sommer, der Winter, einfach alles, Inbild einer romantischen Männerphantasie.

    Da in diesem Roman nichts zufällig ist und jedes Wort (mit seinem ganzen auratischen und symbolischen Umfeld) wie in einem Schachspiel äußerst bedächtig gesetzt ist, muss man dem Wort, das den Roman beschließt, die größte Aufmerksamkeit schenken. Es lautet "Verheißung”. Die Verheißung, dass der Tod nicht endgültig und das Gesicht der Geliebten der "Herrlichkeit der aufgehenden Sonne zugewandt” ist?

    "Ja, das ist ein Wort, das ich an den Schluss gesetzt habe wie einen Hoffnungsstrahl. Es ist aber auch ein Wort, das verweist, das auf ein Geheimnis verweist. Und man kann ein Geheimnis nicht zerlegen und analysieren. Ich habe, dieses Wort am Ende meines Buches steht da wie ein Licht, es ist etwas Unerklärliches, diese Verheißung, es ist aber das Licht eines Versprechens."

    "Tal der Herrlichkeiten", der Titel des Romans, geht zurück auf den Namen der Endstation einer Buslinie. Der abfahrbereite Bus ist übervoll besetzt mit "Aufbruchbereiten", und Sperber ist sich sicher, unter ihnen seine Geliebte aufzuspüren und sie ins Leben zurückzuführen, sie mit sich fortzuziehen.

    "Es gibt in diesem "Tal der Herrlichkeiten”, dem wirklichen in Südfrankreich, gibt es vorzeitliche Zeichnungen an den Wänden und ich glaube, dadurch bin ich auf die Idee gekommen, dass die Toten in die Mauern, die sie dort in ihrer Welt anfinden, Botschaften, Nachrichten einritzen. Aber natürlich steckt auch in diesem Ausdruck 'Tal der Herrlichkeiten' eine Verheißung, eine Verheißung, von der man nicht weiß, ob sie eingelöst wird. Aber, ja, das Buch ist auch das: eine Verheißung."

    Sperbers waghalsige Aufgabe besteht darin, eine "seiltanzende Schlafwandlerin” in ihrem äußerst labilen Balanceakt zu belassen und doch seiner grenzenlosen Sehnsucht nachzugeben, das willenlose, sinnenlose Wesen innig zu umarmen und den "Bildern einer zweisamen, entschwundenen, schmerzerfüllten Zukunft” zu folgen.

    "Sie sah ihn nicht an. Sie hörte ihn nicht. Aber sie war da, eine in sich selbst versunkene Tote ... Im selben Moment fing die erste Veränderung an. Die Finsternis wurde, statt sich aufzuhellen, tiefer ... Als der Morgen ... der Lebenden dämmerte ..., lag in seinen Armen nichts als seine alte Winterjacke, ... darin ein toter Falter."

    In einem Endzeitfinale vollendet sich die Metamorphose zwischen dem Menschen und der Natur. Sie übernimmt die Herrschaft, und das Meer spricht anstelle von Sperber, dem die Sprache versagt, weil er mehr vom Tod gesehen hatte, als den Lebenden erlaubt war. Sperber lauscht dieser Stimme und erkennt sich darin, auch in der natürlichen Nähe zum Tod (zu dem "Du wirst gelebt haben”), wieder.

    Er tritt ein in einen letzten Kampf mit dem Meer, das ihn mit seinen "Schaumballen” unter Beschuss nimmt und dem er seine "inneren, lautlosen Schaumsätze” entgegenwirft. Das Reich der Toten, das Sperber erkundete, in dem er seine Geliebte suchte, aber auch seiner Mutter sowie der Mutter seines Kindes und dem Dichter Max Jacob, dem "doppelt Unerreichbaren”, begegnet, ist

    " ... ein nach außen gekehrtes Inneres, ein im Herzen des Sichtbaren verstecktes Unsichtbares".


    Anne Weber: "Tal der Herrlichkeiten"
    Roman. S. Fischer Verlag 2012. 256 S., 19,99 Euro.