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Die Zettel des Bosses

Wie beängstigend die Machenschaften der italienischen Mafia sind, hat Roberto Saviano vor zwei Jahren in seinem Buch Gomorrha beschrieben. Nun sind zwei weitere Bände auf den Markt gekommen, die sich auf die sizilianische Cosa Nostra konzentrieren.

Von Mirko Smiljanic | 20.07.2009
    Was für eine Weitsicht! Anfang der 70er-Jahre drehte Francis Ford Coppola nach dem gleichnamigen Roman von Mario Puzo den Film "Der Pate". Die Geschichte eines Mafia-Clans, die in den USA spielt, dessen Boss Don Vito aber aus einem kleinen Dorf auf Sizilien stammt: aus Corleone. Und genau hierher kommt Bernardo Provenzano, der zunächst gemeinsam mit Salvatore Riina, nach dessen Verhaftung im Jahre 1993 dann alleine die Cosa Nostra führte.

    Was ist der 1933 in Sizilien geborene für ein Mensch? Die einen sagen, er könne gut schießen, habe aber das Gehirn eines Huhns. Andere dagegen vergleichen ihn mit Einstein. Auf jeden Fall ist er ein Chamäleon, ein Mensch, der sich neuen Situationen sofort anpasste, vor allem aber ist er einer, der immer unsichtbar blieb.

    Diesem Leben gehen der sizilianische Schriftsteller Andrea Camilleri und die britische Journalistin Clare Longrigg nach. Im Alter liegen sie fast 40 Jahre auseinander - Camilleri ist der ältere - in der Art und Weise, wie beide den Stoff bearbeiten, trennt sie weit mehr.

    Di Christina versuchte der Polizei zu helfen, Provenzano zu fassen,

    schreibt die im investigativen Journalismus gestählte Clare Longrigg.

    An einem Sonntag habe ihn der junge Giovanni Brusca in einem Mercedes dorthin gefahren. Bernardo Brusca, der Vater des Fahrers, war der Boss von San Giuseppe Iato und einer von Riinas treuesten Verbündeten, laut Di Christina ein "Unberührbarer". Dies war ein wichtiger Hinweis, doch Provenzano hatte zu diesem Zeitpunkt noch viele andere Schlupfwinkel, und den Carabinieri gelang es nicht, ihn in Bagheria aufzustöbern.

    Das Buch von Clare Longriggs ist gespickt mit Informationen über Provenzano und die Cosa Nostra, über historische Entwicklungen und politische Hintergründe. Eine Fleißarbeit, die knapp 400 Seiten füllt. Ganz anders dagegen der Literat Andrea Camilleri. Sein Buch ist mit etwas mehr als 208 Seiten nur halb so dick, und Camilleri nähert sich Provenzano und der Mafia mit einem originellen Kunstgriff. "M wie Mafia" ist ein Lexikon, das die Kommunikationsform Provenzanos nachahmt. Der Mafia-Boss kommunizierte mit der Außenwelt über Zettel, sogenannte "pizzini". Mehr als 200 fanden die Fahnder, teilweise mit der Hand geschrieben, teilweise mit Schreibmaschinen, säuberlich geknickt und mit Tesafilm versiegelt - von der Erlaubnis zu heiraten, über verklausulierte Todesurteile, bis hin zur schlichten Feststellung, wen er unterstützt.

    Vor einiger Zeit hast Du über RA Bevilacqua gesprochen, ich weiß nicht mehr genau, warum. Ich habe gehört, dass er ein ehrenwerter Mensch ist. Hiermit teile ich Dir das mit.

    Camilleris Buch besteht aus 61 Lexikoneinträgen, der kürzeste ist eine Seite lang, der längste vier. Er beginnt mit "A wie Abschrift" und endet bei "Z wie Zichoriengemüse". Dazwischen sind Begriffe wie "Befehlsgewalt", "Familie", "Lachen", "Prostata", "Religiosität" und "Töten". In den kurzen Artikeln beschreibt er nicht nur Provenzanos Leben, sondern auch die ebenso brutale wie widersprüchliche Welt der Cosa Nostra. Beim Stichwort "Bibel" zitiert Camilleri etwa einen Bibel-Vers, der auf Provenzano offenbar einen großen Eindruck gemacht hat: "Bitten wir unseren gütigen Gott, dass er uns leite, Gutes zu tun. Gutes für uns alle."

    Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Unter "Gutes tun" verstand Provenzano nämlich nicht etwa das Verteilen von Zuwendungen an Waisenhäuser oder Obdachlosenheime und noch viel weniger das Sammeln größerer Spenden für die Comboni-Missionare oder sonstige ehrenamtliche Organisationen. Nein, seine Worte bezogen sich auf gute Geschäfte, auf den ständigen Zufluss von Geld in die Kassen der Mafia und die gleichmäßige Aufteilung dieser Summen.

    Vor dem Hintergrund dieses Bibel-Zitas stellt Calilleri Mutmaßungen darüber an, ob Provenzano möglicherweise seine weltliche Macht als Mafia-Boss mit einer Mission verwechselt. Zumindest unterhielt er beste Kontakte zum Institut IOR, das - besser bekannt als Vatikanbank - Anfang der 80er-Jahre in einen "Finanzskandal unter Beteiligung der Mafia verwickelt war.

    Camilleri beschreibt Provenzanos Leben in Schlaglichtern, die wie Mosaiksteine zusammengesetzt, den Hintergrund, den "Geist" der Cosa Nostra ausleuchten. Und er bewertet die Vorkommnisse, denn anders als die Journalistin Clare Longrigg versteht er sich als Opfer der blutigen Geschichte Siziliens.

    Die Form des Lexikoneintrags gestatte ihm dabei Distanz auch dort, wo das Leid fast unerträglich wird: Bei den tausendfachen Morden auf offener Straße etwa.

    Fast immer konnte man die Urteilsbegründung an der Leiche des Verurteilten ablesen: Ein Stein im Mund hieß, er war ein Verräter; ein Schuh auf der Brust bedeutete, er wollte fliehen; abgeschnittene Genitalien zeigten ein Sittlichkeitsverbrechen an; das Schaufelblatt eines Feigenkaktus besagte, er hatte die Mafia um Geld bestohlen.

    Clare Longrigg arbeitet anders. Sie beschreibt das Leben Provenzanos in allen Details - engagiert zwar, aber doch auch mit dem notwendigen journalistischen Abstand. Wo und wie er aufwuchs, warum er erst den Spitznamen "der Traktor" und später "der Buchhalter" bekam, dass er sich in seinen jungen Jahren als Killer einen Namen gemacht hat, mit wem er verkehrte, wie sein Familienleben aussah und wie sich nach und nach die Schlinge um den Paten der Paten enger zog.

    Während des gesamten Frühjahrs 2006 arbeiteten Spürhunde und die anderen Spezialagenten rund um die Uhr, beschatteten ihre Verdächtigen in und um Corleone, ohne selbst gesehen zu werden. In einem Auto durfte nur ein Beamter sitzen - mit zwei Leuten drin hätte man sofort Aufsehen erregt.

    Bernardo Provenzano wurde im April 2006 verhaftet, allerdings fragt sich Longrigg, ob dies wirklich ein vernichtender Schlag gegen das Organisierte Verbrechen ist. Provenzano sei die Symbolfigur aus einer anderen Zeit, sagen die einen, ob er frei herumläuft oder im Gefängnis sitzt, spielt keine Rolle; andere wiederum haben ihn noch lange nicht abgeschrieben und glauben, dass mit ihm weiterhin zu rechnen sei.

    Im Dezember 2007 wurde Provenzanos Sicherheitsstatus erhöht, nachdem die Behörden entdeckt hatten, dass er mit anderen Mafiosi im Gefängnis kommunizierte. Dass er es tatsächlich geschafft hatte, seinen Verbündeten Botschaften zukommen zu lassen, wurde als äußerst alarmierend bezeichnet. Und es beweist, dass Bernardo Provenzano, der zu mehreren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurde, immer noch der Pate der Paten ist.

    Beide Bücher sind lesenswert, gerade weil sie dasselbe Thema aus verschiedenen Perspektiven ins Visier nehmen. Wer eine detaillierte Geschichte rund um die spektakuläre Fahndung nach Provenzano sucht, der sollte "Der Pate der Paten" lesen; wer Hintergründiges literarisch stilvoll aufgearbeitet zur Cosa Nostra sucht, dem sei "M wie Mafia" empfohlen.

    Mirko Smiljanic war das über: Andrea Camilleri: "M wie Mafia". Erschienen im Kindler Verlag, 200 Seiten für Euro 16,90 und: Clare Longrigg: "Der Pate der Paten. Wie Bernardo Provenzano die Mafia organisierte", Herbig-Verlag, knapp 400 Seiten. Euro 22,95