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Die Zukunft auf dem Tisch

Dioxin in Eiern, BSE im Fleisch, EHEC-Erreger in Sprossen – die Liste der Lebensmittelskandale ist lang. War das vorhersehbar? Und was wird uns morgen kulinarisch erwarten? Mit diesen Fragen hat sich der internationale Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens beschäftigt.

Von Dörte Hinrichs | 15.09.2011
    Es heißt zwar, viele Köche verderben den Brei. Dies ist aber nicht der Fall, wenn Vertreter verschiedenen Disziplinen über den jeweiligen Tellerrand hinausdenken. Ökotrophologen, Sozialpsychologen, Volkskundler, Agrarwissenschaftler, Soziologen und Kulturwissenschaftler haben den Essalltag von morgen als Feld interdisziplinärer Ernährungsforschung entdeckt - und bereichert.

    Auch wenn es seit dem 19. Jahrhundert schon wissenschaftlich begründete Ernährungsleitlinien gibt, die besagen, welche Nährstoffe, Vitamine und Fette Menschen zu sich nehmen sollten - zwischen Wissen und Wirklichkeit klafft oft eine Lücke, so Gunther Hirschfelder, Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg:

    "Als Gesellschaft und auch in individueller Hinsicht wissen wir eigentlich genug darüber, wie man sich ernähren sollte. Aber Menschen ernähren sich nicht so, weil Ernährung eine kognitive Sache ist, Essen aber eine emotionale Sache ist. Das heißt, wir können nicht nach Plan essen, und wir können letztlich genauso wenig uns nach einem wissenschaftlichen Plan ernähren, wie wir uns nach einem wissenschaftlichen Plan verlieben können."

    Ernährungspläne und -visionen sind nichts Neues. Doch die, die zum Beispiel im 20. Jahrhundert über die Ernährung von morgen angestellt wurden, sind längst kalter Kaffee: Die Nationalsozialisten propagierten Eintopfsonntage, die die Volksgemeinschaft stärken sollten, dazu den Verzehr von Schwarzbrot und Rohkost. Denn alles Weichgekochte galt als semitische Kost und wurde abgelehnt. In Osteuropa sollte Kantinenkost für alle das alte Küchensystem ablösen.

    Heute verunsichern BSE oder Dioxin-Skandale die Verbraucher. Besonders die gebildete Elite und Stadtbevölkerung reagiert darauf: Immer mehr werden zu Vegetariern, ein Teil ernährt sich sogar vegan und verzichtet ganz auf Tierprodukte.

    Auch wenn wir bei gemeinsamen Mahlzeiten vielleicht noch versuchen, uns ausgewogen und einigermaßen gesund zu ernähren – unser Essalltag sieht meistens anders aus. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen allein leben und immer mobiler sind, sind feste Essenszeiten und –orte selten geworden.

    "Die Gegenwart und vor allem die Zukunft sind dadurch bestimmt, dass wir weniger Mahlzeiten haben, mehr ungeordnete Verzehrsituationen. Und in den ungeordneten Verzehrsituationen ist ein deutlicher Trend zu beobachten, sich ungesund und zu reichhaltig zu ernähren: noch mehr Fast Food, noch mehr Fingerfood, noch mehr minderwertige Produkte, wobei es im Augenblick den Anschein hat, als sei die absolute Talsohle der Fehlernährung durchschritten und als würden die vielen Aufklärungsprogramme und die permanente mediale Thematisierungskonjunktur allmählich Erfolge zeitigen. Es sieht doch so aus, als wäre eine gesündere und ausgewogenere Kost zumindest für einen Teil der Bevölkerung deutlich auf dem Vormarsch."

    "Ein schönes Beispiel liefern ja letztlich auch die ganzen Kochshows. Die sind natürlich auch deshalb so beliebt, weil sie die soziale Verlusterfahrung zum Ausdruck bringen, das, was ich im eigenen Alltag wenig erlebe. Das Essen in der Familie, das Essen in der Gruppe kann ich im Fernsehen konsumieren und trägt ein Stück weit dazu bei, dass es im Rahmen einer Eventkultur doch wieder in den Alltag zurücktransportiert wird – wenn nämlich Konsumenten sich wieder zusammenschließen und im Freundeskreis, wie beim 'Perfekten Dinner', versuchen wieder zusammen zu kochen."

    Ergänzt Lars Winterberg, Volkskundler an der Universität Bonn. Allerdings gibt er zu bedenken, dass es sich dabei um subkulturelle Nischen handelt. Wie sieht aber nun konkret die Ernährung der Zukunft aus?
    "Die Bilder von glücklichen Bauernhöfen verschwinden langsam aus unserem kollektiven Bewusstsein, Ernährung in Zukunft ist sicherlich technischer. Wir können jetzt davon ausgehen, dass wir in Zukunft durch die großen Nahrungsmittelhersteller Spezialnahrung haben für Figurbewusste, für Genussbewusste, aber vor allem auch für Diabetiker oder für Menschen mit Bluthochdruck usw. Das heißt, wir haben ein ausdifferenziertes Nahrungsangebot. Convenience ist sowieso stark im Kommen. Und die Ernährung der Zukunft wird ganz anders als die Ernährung der Gegenwart, und wir werden in den nächsten Jahrzehnten viele Überraschungen erleben."

    Zukunftsvorstellungen über das Essen sind meistens pessimistisch, so Gunther Hirschfelder - und werden manchmal vom Lauf der Geschichte überholt.

    "Ein schönes Beispiel aus der Krisenzeit der 1970er und 80er Jahre ist Carl Friedrich von Weizsäcker, der ja 1983 den viel beachteten Band "Der bedrohte Friede" herausgegeben hat. Und Weizsäcker entwirft ja eine Zukunftsprognose vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, wo er sagt, Welternährung wird in Zukunft Spielball von Politik sein, Hunger wird politisch eingesetzt, und wir werden ein politisch intendiertes Massensterben haben. Heute sehen wir: Massensterben gibt es, aber nicht politisch intendiert, sondern sozusagen als weltgeschichtlicher Unfall. Der Kalte Krieg ist längst vorbei.""

    Nicht aber der Kampf um begrenzte Rohstoffe und Lebensmittel. Denn Ernährung ist stärker denn je von globalen Herausforderungen geprägt, so Lars Winterberg:
    "Grundsätzlich gibt es momentan genug Nahrungsmittel, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Das ist in Zukunft möglicherweise anders: Man denke an Wassermangel, man denke an Bodenerosionen, Dürre. Natürlich ist das ein politisches Problem, und man muss hier auch schon die Verbindungen sehen zwischen sogenannter Dritter und sogenannter Erster Welt: Hier sind die Verbindungen im Prinzip klar, die Frage ist, ob das Wissen darum politisch gewollt ist."

    "Egal wie wir es drehen und wenden: Ernährung der Zukunft, das wird bedeuten müssen, wenn wir als Weltbevölkerung überleben wollen: weniger Fleisch, mehr Ökologie, mehr Regionalität. Wir werden in Zukunft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Nahrungsengpässe bekommen, wir werden bekommen schwere Konflikte um Nahrungsmittelressourcen, wie wir es jetzt schon im östlichen Afrika sehen, und es wird sich auf unseren Alltag auswirken."

    Vom Überfluss, den wir jetzt als Gesamtbevölkerung haben, müssen wir uns wahrscheinlich verabschieden. Mehr als eine Milliarde Menschen hungern weltweit, Tendenz stark steigend. Gleichzeitig landen 50 Prozent aller Lebensmittel in Deutschland in den Mülll. Wohlstandsabfall, der die Wertschätzung des Essens mit Füßen tritt. Eine Haltung, die wir uns nicht mehr lange leisten können angesichts begrenzter Ressourcen.
    Der Kulturwissenschaftler Professor Gunther Hirschfelder prognostiziert eine weitere Dimension, die unserem Essen von morgen einen Beigeschmack geben wird:

    "Hinzu kommt, dass in Zukunft Nahrung und Energie in ein Konkurrenzverhältnis treten werden. Das heißt, es gibt verhungernde Menschen in Afrika - und auf der anderen Seite fahren wir mit Biosprit, der eben auch in Afrika produziert wird. Das wird zur Folge haben, das wir ganz neue Diskussionen bekommen werden um die Ethik des Konsums überhaupt: Was dürfen wir konsumieren, wie dürfen wir konsumieren, wenn mediale Bilder von verhungernden Menschen uns langfristig erschüttern werden? Für die Zukunft sehe ich hier eine unglaubliche Dynamik."


    "Die Zukunft auf dem Tisch."
    Analysen, Trends und Perspektiven der Ernährung von morgen.
    Herausgegeben von Gunther Hischfelder, Angelika Ploeger und Gesa Schönberger
    Verlag für Sozialwissenschaften 2011
    ISBN: 978-3-531-17643-7, 29,95 Euro