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Die Zukunft des Holocaust-Gedenkens

Obwohl unsere Erinnerungskultur als relativ intakt gilt, tauchen häufiger grundsätzlichere Fragen auf. In unserer vierteiligen Serie "Grenzen der kollektiven Erinnerung" gehen wir diesen Fragen nach. Den Auftakt macht die Frage nach den Möglichkeiten des künftigen Holocaust-Gedenkens, wenn Überlebenden und Zeitzeugen aussterben.

Von Judith Klein | 03.02.2013
    Die Lebenden, unter ihnen Überlebende des Holocaust, geben dem kollektiven Gedenken die Gestalt, die der Zukunft vorausliegt. Seit einiger Zeit zeigen sie sich besorgt, weil das Ende unmittelbarer Zeitzeugenschaft naht. In einer großen deutschen Tageszeitung hieß es im Jahre 2011:

    "Das Thema [ist] fraglos drängend, und es führt in den kommenden Jahren kein Weg an der Diskussion vorbei, wie Deutschland mit seiner Erinnerungskultur, insbesondere mit dem Gedenken an den Nationalsozialismus umgeht, wenn mit dem Tod der Zeitzeugen Erinnerung nur noch aus zweiter und dritter Hand stammt."

    Hier klingt die Meinung an, der Holocaust könne allein im Medium der persönlichen Erinnerung der Überlebenden authentisch bezeugt werden; und die Furcht dringt durch, die mühsam entstandene Gedenkkultur könnte in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn die Stimme der Zeitzeugen verstummt. Der Schriftsteller Jorge Semprun warnte im Jahre 2002:

    "dass sich das kollektive Bewusstsein, das konkrete Wissen um die Vernichtung verändern werden, wenn es keine Zeugen mehr gibt, wenn die lebendige Quelle der Erinnerung versiegt ist."

    Bei all dem Fragen wurde und wird die Frage, die sich die Überlebenden an ihrem Lebensende selbst stellen, kaum wahrgenommen - die nämlich, ob und wie sie die Pflicht der Zeugenschaft erfüllt haben, die ihnen das Überleben auferlegt hat. Der Schriftsteller Imre Kertész formulierte in diesem Zusammenhang, der Holocaust Überlebende stelle sich die Frage:

    "Was hinterlässt er, was für ein geistiges Erbe? Hat er das menschliche Wissen mit seiner Leidensgeschichte bereichert? Oder nur Zeugnis abgelegt von der unvorstellbaren Erniedrigung des Menschen, in der keine Lehre steckt und die man besser möglichst rasch vergisst?"

    Diese Fragen am Lebensende klingen wie Echos auf die Zweifel, die lange Zeit die Überlebenden bedrängten, doch heute nur noch eine geringe Rolle spielen - Zweifel daran, ob die Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung überhaupt mitteilbar sei und ob das Mitgeteilte Gehör finden werde:

    "Vom Dasein der Verlorenen ist nichts in eine Sprache zu übertragen, die draußen jemand verstünde,"

    schrieb im Jahr 1948 Hans Günther Adler, der das Getto Theresienstadt, Auschwitz und das Lager Langenstein bei Halberstadt überlebt hatte; denn die "draußen" gängige Sprache, die der Mitteilung und dem Verstehen dienen soll, entspricht nicht der Erfahrung der Überlebenden. So bleibt ihnen nur die Möglichkeit, die Wörter und Sätze aus den Angeln zu heben, sie zu erschüttern und zu beschneiden oder sie neu zu erfinden und ironisch umzukehren.

    Mit den Texten, die sie noch im Zittern und Beben des jüngst Erlebten schrieben, blieben die Überlebenden meist unter sich oder allein. Das galt auch für Hans Günther Adler: Seine überragenden literarischen und wissenschaftlichen Werke mussten jahre- oder gar jahrzehntelang auf Veröffentlichung warten.

    Es waren Zeiten, in denen es unter der deutschen Bevölkerung üblich war, die deutschen Opfer und die Opfer der Deutschen gleichzusetzen oder sie gegeneinander aufzurechnen, zehn Jahre etwa, die, so der Althistoriker Christian Meier, nötig waren, um aus dem "unmittelbaren Schatten" der eigenen Verbrechen "heraus zu sein". Sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands behandelte man - sei es zur eigenen Entlastung, sei es im Zeichen des antifaschistischen Selbstverständnisses - die Juden als Opfer unter anderen.

    Die offizielle Haltung der DDR fasst der Soziologe Michal Bodemann zusammen:

    "Die Regierung der DDR [hat sich] nie ernsthaft mit den Verbrechen am jüdischen Volk auseinandergesetzt. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Verbrechen muss dieses Desinteresse tatsächlich als eine anti-jüdische Politik angesehen werden."

    In der Bundesrepublik kam es schließlich - wenn auch mühsam und "hinter einem Wall aus Waren", wie Günther Anders schrieb - zur öffentlichen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Sie führte einerseits zur Identifikation von Teilen der jüngeren Generation mit den Juden und andererseits zu Schuldeingeständnissen und zur politischen Übernahme der Verantwortung für die Taten.

    Die Publizisten Natan Sznaider und Daniel Levy kommentieren die schließlich in den achtziger Jahren vollzogene "Aneignung" der eigenen Geschichte:

    "Die Nationalisierung des Holocaust erreichte [...] ihren vorläufigen Höhepunkt. Dadurch waren auch Sicherheiten geschaffen. Deutschland hatte gesündigt und es zeigte Reue. Es entsann sich seiner Vergangenheit und versuchte dadurch, sich als Nation an die Moderne anzuschließen."

    Nach der Wiedervereinigung verstärkten sich diese Prozesse und gewannen zugleich eine neue Dimension: Das öffentliche Gedenken wurde zum Maßstab des demokratischen Selbstverständnisses und zum Prüfstein der europäischen und internationalen "Zukunftsfähigkeit" der Bundesrepublik. Wissenschaftler und Politiker waren sich darin einig, dass das Gelingen der deutschen Einheit und der Integration des geeinten Deutschland in Europa das Gelingen eines unmissverständlichen öffentlichen Verhaltens zur deutschen Vergangenheit voraussetzte, insbesondere zu den jüdischen Opfern. Der Historiker Michael Jeismann schreibt:

    "Nicht in Absetzung von der deutschen Geschichte wie die 'alte' Bundesrepublik, sondern in ihrer symbolischen und staatspolitischen Aneignung liegt der Schlüssel zum Verständnis der Bundesrepublik seit 1990. [...] Vergangenheitspolitik wurde in einem bislang nicht gekannten Maß zur Voraussetzung gegenwärtiger Politik."

    Die Institutionalisierung "kommemorativer Staatsakte", der Ausbau von Gedenkstätten und die Gründung von Forschungsinstituten und Archiven schritten voran und mündeten – nach heftigen Debatten – in die Eröffnung der zentralen Holocaustgedenkstätte in Berlin im Jahre 2005.

    Den monumentalen und ritualisierten Erinnerungsformen entgegengesetzt sind die "Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig, die seit 1995 in ihrer Bescheidenheit und scheinbaren Negativität - Verzicht auf jede Ästhetisierung, symbolisches Stolpern - aller Erhabenheit widersprechen. Die mit einer Messingplatte versehenen Betonquader in der Größe eines Pflastersteines werden in die Zugänge der letzten selbst gewählten Wohnungen oder Wirkungsstätten von Menschen eingelassen, die später in der nationalsozialistischen Todesmaschinerie ermordet wurden oder an den Folgen der KZ-Haft starben. Eingraviert in die Messingplatte ist die Zeile "Hier wohnte" oder "Hier wirkte", gefolgt von Name, Geburtsdatum, Datum der Ermordung.

    Ein "Stolperstein" ist - wie der ungleiche Pflasterstein in einer Episode von Marcel Prousts "Die wiedergefundene Zeit" - geeignet, die Vergangenheit in das Gedächtnis zu rufen. Keine mildernden Girlanden, keine hochtönenden Reden, keine Werbung für die herrschende Kultur, keine vom Alltag losgelöste Zeremonie, keine explizite Unterscheidung zwischen Opferkategorien in der notwendigen Bescheidung der Steine: Das Singuläre schreckt allein im Namen und in den Daten auf.

    Eine im "Übergang von der alten zur neuen politischen Zeit der Bundesrepublik" - so Jeismann - immer wieder auflebende Debatte kreiste um die Frage, ob der Mord an den europäischen Juden als ein singuläres - unvergleichbares oder bislang beispielloses - Geschehen aufzufassen sei. "Jeder Genozid ist singulär", lautete eine Antwort, die gewiss der Leidenserfahrung der Opfer jedweden Genozids entspricht. "Der Mord an den Juden ist die grösste Massentötung in der uns überlieferten Geschichte", lautete eine andere Antwort.

    In ihrem Aufsatz "The Uniqueness of the Holocaust" von 1995 lassen der Philosoph Avishai Margalit und der Historiker Gabriel Motzkin quantitative und technische Argumente hinter sich und gelangen zu einer überzeugenden Antwort: Die Singularität des Holocaust erklärt sich

    "aus der ihm eigentümlichen Verschmelzung von kollektiver Erniedrigung und Massenvernichtung. Der Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen ist nämlich eine Spannung zwischen Erniedrigung und Tod eingeschrieben. Normalerweise werden Täter versuchen, ihren Opfern entweder das eine oder das andere zuzufügen. [...] Aus ideologischen Gründen strebten die Nationalsozialisten beides an: sowohl die Erniedrigung als auch den Tod des 'Rassenfeindes'. Ihre Wurzeln hat diese außergewöhnliche Verbindung [...] in der beispiellosen Rassenvorstellung der Nationalsozialisten, die dem 'jüdischen Feind' die Zugehörigkeit zur Menschheit absprach."

    Aus der Leugnung der einen gemeinsamen Menschheit und aus der Verschmelzung von Erniedrigung und Mord ergibt sich eine Singularität, in der zugleich die Universalität des Holocaust als Verbrechen gegen die Menschheit begründet liegt - eine Universalität, die wiederum als singulär gelten kann.

    Die universalistischen Deutungen des Holocaust, die seit den 1990er-Jahren mehr und mehr Gewicht gewannen, beruhten auf weiteren Einsichten, die prägnant von Imre Kertész, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2002, und von Zygmunt Bauman, dem berühmten Soziologen, zum Ausdruck gebracht wurden.

    Zunächst als bloßen "Verdacht" formulierte Bauman Folgendes:

    "Der [...] Verdacht lautet, der Holocaust könne ein verborgenes Antlitz derselben modernen Gesellschaft zutage gefördert haben, deren Erscheinungsbild uns so vertraut ist. Als hätten wir es mit zwei Gesichtern eines einzigen Organismus zu tun. [...] Viele wagen nicht den letzten Schritt bis zu dieser schrecklichen Wahrheit."

    Robert Antelme nannte den Bericht, den er 1947 über seine Deportation in das Lager Buchenwald veröffentlichte, nicht ohne Grund "Das Menschengeschlecht" und bezeichnete das Lageruniversum als Zuspitzung von Haltungen und Situationen, wie sie die andere, die "normale" Welt beherrschten.

    Primo Levi zog immer wieder eine Linie von Auschwitz nach "überallhin". Als Metapher ließ er - wenn auch unter Vorbehalt - die Aussage gelten, dass das Konzentrationslager ein "Spiegel der äußeren Situation, aber ein Zerrspiegel" sei.

    Hans Günther Adler vermied in seinem 1948 entstandenen Werk "Panorama" ethnische und religiöse Zuschreibungen: Die Deportierten werden die "Ausgeplünderten", "die Verlorenen", "die Verloschenen", selten "Juden" genannt, die Deutschen sind die "Eroberer", die "Verschworenen", denen "Helfer" zur Seite stehen, "um das unübersehbare Gewoge der Namenlosen zu erpacken und zu verwalten".
    In einem Roman von Romain Gary stellt die Hauptperson fest:

    "Was an den Deutschen kriminell ist, das ist der Mensch."

    Mit einer solchen Feststellung ist die Frage nach den konkreten Bedingungen der Vernichtungspolitik und nach der Verantwortung nicht beiseitegeschoben; im Anschluss an den Historiker Götz Aly könnte sie lauten: Warum und wann genau haben sich die "verbrecherischen Energien" des Menschen für die Deutschen in einen politisch-sozialen Willen und in konkrete Aktivität verwandelt?

    Die Versuche, den Holocaust universalistisch zu deuten, gewannen erst in einer neuen politischen und kulturellen Konstellation - Generationenwechsel, Entfaltung der globalen Medien, Kosmopolitisierung der Lebenswelten, Konfrontation mit genozidalen Ereignissen in Europa und auf der Welt - kulturelle und politische Relevanz. Und sie gewannen Brisanz, als sie mit einer neuen "Menschenrechtskultur" verknüpft wurden, die sich der weltweiten Verteidigung der Menschenrechte verschrieb und den Holocaust als eine "unermessliche moralische Reserve" - so Kertész - verstand, als eine Verpflichtung, den rettenden Eingriff in die physische und gesellschaftliche Welt zu wagen.

    Weitere universelle Deutungen des Holocaust ergaben sich aus dem Nachdenken über seine moralischen und geistigen Folgen. Die westliche Zivilisation sei selbst Auschwitz-Überlebende – so hat es Imre Kertész im Jahre 2000 ausgedrückt:

    "Schließlich hat sich Auschwitz nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern im Rahmen der westlichen Kultur, der westlichen Zivilisation, und diese Zivilisation ist ebenso Auschwitz-Überlebender wie einige zehn- oder hunderttausend über die ganze Welt verstreute Männer und Frauen, die noch die Flammen der Krematorien sahen und den Geruch von verbranntem Menschenfleisch einatmeten. In diesen Flammen wurde alles zerstört, was wir bis dahin als europäische Werte schätzten, und an diesem ethischen Nullpunkt, in dieser moralischen und geistigen Finsternis erweist sich als einziger Ausgangspunkt gerade das, was diese Finsternis erzeugte: der Holocaust."

    Durch die universalistischen Sichtweisen wird die kollektive Erinnerung aus den nationalen Diskursen gelöst und in einen nationenübergreifenden oder kosmopolitischen Kontext gestellt. In Deutschland wurde dieser Prozess durch die Zuwanderung von Menschen begünstigt, die keine familiengeschichtlichen Bezüge zur deutschen Geschichte besaßen, doch plötzlich in deren besonderen Verantwortungs- und Interessenzusammenhang gestellt waren. Aus ethisch universellen Gründen - aber auch aus neuen eigenen Erfahrungen mit rassistischer Gewalt - konnten und können sie die Notwendigkeit des Gedenkens an den Holocaust anerkennen.

    In anderen europäischen Ländern verabschiedete man sich von den Gründungsmythen der Nachkriegszeit und übernahm Anteile an Schuld und die Pflicht, die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren - Voraussetzungen für die Teilhabe am politischen Europa und seiner neuen kosmopolitischen Gedenkpolitik. Deren weltweite Ausbildung und Indienstnahme für die Verteidigung der Menschenrechte kommentiert Michael Jeismann, nicht ohne auf die Möglichkeit zu verweisen, dass auch machtgestützte strategische Interessen im Spiel sind:

    "Zwar geht es noch immer um eine spezifische, deutsche Vergangenheit; sie dient aber in erster Linie als ein Exemplum für genozidale Tendenzen, die auf der ganzen Welt aufbrechen können. Die deutsche Vergangenheit wird zu einem globalen Lehrstück."

    Oft wird - aus eingeschränkter publizistischer und wissenschaftlicher Perspektive - die Existenz eines einheitlichen jüdischen Narrativs behauptet, dem man unterstellt, es beharre auf der Partikularität des Erfahrenen, erhebe "Besitzansprüche am Holocaust" - so Sznaider/Levy - und widersetze sich der "nicht-jüdischen Kosmopolitisierung des Holocaust-Gedächtnisses".

    Von einer einheitlichen Orientierung kann indessen nicht die Rede sein. Gerade Juden haben den Holocaust als ein europäisches Trauma bezeichnet, aus dem nie mehr zu unterdrückende universelle Lehren zu ziehen seien. Lange bevor sich der offizielle deutsche Gedenkdiskurs an die Sinti und Roma erinnert hat, haben Schriftsteller jüdischer Herkunft, beispielsweise Arthur Koestler, die Zigeuner als Opfer benannt – noch vor den Juden – und partikularistische Hierarchisierungen abgelehnt.

    Imre Kertész hat im Jahre 2000 seine Position so umrissen:
    "Meiner Ansicht nach wird die Tragödie des Judentums nicht beschädigt und auch nicht geschmälert, wenn wir den Holocaust heute, mehr als fünf Jahrzehnte danach, als globale Erfahrung, als europäisches Trauma betrachten."

    Manche Überlebende befürchten indessen, das Holocaust-Gedenken könnte ohne Rückgriff auf das jüdische Gedächtnis verfälscht oder verwässert werden. Solche Befürchtungen sind verständlich, denn die Rede vom "Verbrechen gegen die Menschheit" und von den vernichteten Menschen breitet sich im öffentlichen Diskurs aus, ohne dass die Herkunft und die spezifischen Leidenserfahrungen dieser Menschen erwähnt würden.

    Im kosmopolitischen kulturellen Gedenken sollten die Singularität und die Universalität des Holocaust einen Platz finden: sein Ursprung in der deutschen Geschichte und Bevölkerung; seine spezifischen Formen; das singuläre Leiden der Juden und derjenigen, deren Leidensgeschichte bis vor Kurzem verdunkelt oder hintangestellt wurde; aber auch sein Ursprung im allgemeinen Potenzial des Menschen, das in der modernen Gesellschaft, wie nie zuvor, zutage getreten ist, und seine - in der Leugnung der einen gemeinsamen Menschheit angelegten - menschheitlichen Bezüge.

    Vielleicht spiegelt sich in der heute anzutreffenden doppelten Bedeutung des Wortes "Holocaust", das als sprachliches Zeichen für die Ermordung der europäischen Juden und für den Mord an den anderen verfolgten Gruppen benutzt wird, eine wichtige Erkenntnis wider: dass die Singularität der Vernichtung der europäischen Juden die generelle menschliche Möglichkeit von Massenmord deutlicher, heftiger, ja schmerzlicher bezeugt als alle anderen Massenmorde es tun könnten.
    Einer philosophischen Tradition des Okzidents zufolge ist die konkrete Präsenz des Menschen in der Stimme besser aufgehoben als in der Schrift. Diese ebnet den Weg zu den Anderen nicht so unmittelbar und intensiv wie jene. Der Ausdruck "eigene lebendige Stimme" - nie heißt es "eigene lebendige Schrift" - steht für die ganze erlebnishafte Individualität einer Person.

    In zahlreichen europäischen und amerikanischen Instituten führten der nahende Verlust lebendiger Zeugenschaft, das Prestige der Stimme und die immensen Speicherkapazitäten digitaler Medien zu hektischen Aktivitäten, um Berichte von Überlebenden und Interviews audiovisuell aufzuzeichnen. Währenddessen schwächte sich die Bedeutung ab, die den schriftlichen Zeugenberichten und der sogenannten Holocaustliteratur seit den neunzehnhundertsechziger Jahren zugesprochen worden war.

    Übersehen wird häufig, dass der mündliche Bericht, der die lebensgeschichtliche Katastrophe von Verfolgung und Vernichtung bezeugt und der seinerseits in einen Text münden kann, viel mit dem schriftlich niedergelegten Zeugnis gemein hat. Beide beziehen sich auf eine Erfahrung, die den Anderen mitgeteilt werden soll; beide benutzen Sprache, um Erfahrung zu repräsentieren und zugleich ein Stück Welt zu erschaffen - durch Re-Imagination, die den Bezugsrahmen von Ort, Zeit und gegenwärtigen Lebensumständen voraussetzt.

    Hier wie dort stehen die erinnerte Gegenwart und die Gegenwart der sich erinnernden Person in einer Spannung, die lediglich in Tagebüchern, Memoiren und Notizen aus der Zeit der Verfolgung oder in Sätzen, die in den Konzentrationslagern auf Papierfetzen gekritzelt wurden, aufgehoben ist.

    Nicht anders als der mündliche Zeugenbericht enthält die Zeugenliteratur - ob in berichtenden, fiktional-romanhaften, dichterischen oder dramatischen Formen - Erinnerung an gelebte Erfahrung aus erster Hand. Nach einer Phase höchster Wertschätzung wird die Zeugenliteratur heute überflogen, kaum wirklich gelesen. Das zeigte sich kürzlich, als Primo Levis autobiografisches Buch "Ist das ein Mensch? (Se questo è un uomo)" neu aufgelegt wurde. Ein Rezensent schrieb:

    "Bei Levi ist die Hölle bedeutungslos. Nur einmal kommt sie vor."

    Dabei durchziehen Wörter wie Hölle, Vorhölle und infernalisch Levis gesamten Bericht. Bereits die Ankunft in Auschwitz wird so evoziert:

    "Dies ist die Hölle. Heute, in unserer Zeit, muss die Hölle so beschaffen sein."

    Sozialwissenschaftler - Sozialpsychologen ausgenommen - erwähnten und erwähnen in ihren Studien zum Holocaust die Zeugenliteratur nicht oder höchst selten, wobei die Soziologie, wie Zygmunt Baumann 1989 feststellte, "den Holocaust nahezu vergessen oder an 'Spezialgebiete' delegiert" hat. Die "Spezialisten" aber schotteten sich gegen literarische Werke weitgehend ab, sodass die in der Zeugenliteratur mitgeteilten Erkenntnisse zunächst an ihnen vorbeigingen.

    Die Literaturwissenschaftler trugen nicht selten engstirnige Lesarten und eingefahrene Vokabularien an die sogenannte Holocaustliteratur heran. In" Weiter leben. Eine Jugend" hat Ruth Klüger, die als Elfjährige im September 1942 zusammen mit ihrer Mutter in das Lager Theresienstadt verschickt und von dort etwa eineinhalb Jahre später nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, einige bedauerliche Tendenzen der Erinnerungskultur aufgedeckt:

    "Da ist eine Trennung von Einst und Jetzt, von uns und denen, die nicht der Wahrheit, sondern der Faulheit dient. Absolut getrennt werden die Beschauer von den Opfern, auch das womöglich eine Funktion der KZ-Museen, die damit das Gegenteil ihrer vordergründigen und angeblichen Aufgabe erreichen. Es ist einfacher für das Fassungsvermögen, wenn das Wort 'Lager' alles Wissenswerte über diese Anstalten umreißt. Und so werden alle Opfer, alle Lager in der Zusammenfassung nivelliert. [...] Auch das Schreckliche bedarf der näheren Untersuchung. Hinter dem Stacheldrahtvorhang sind nicht alle gleich, KZ ist nicht gleich KZ. In Wirklichkeit war auch diese Wirklichkeit für jeden anders."
    Ein Schlüsselkapitel aus Primo Levis Zeugenbericht trägt den Titel "Der Gesang des Ulyss". Es berichtet davon, wie der Häftling Primo Verse aus Dantes "Hölle", dem ersten Teil der "Göttlichen Komödie", für seinen Mithäftling und Freund Pikkolo rezitiert. Dieses Kapitel hat erstaunliche wissenschaftliche Missverständnisse hervorgerufen, die durch die Kenntnis anderer Zeugenberichte hätten vermieden werden können. Denn viele Überlebende haben erzählt, wie sie sich und den Mithäftlingen während der Lagerhaft einst geliebte Texte - und sei es nur einzelne Splitter - in Erinnerung riefen und rezitierten. Ruth Klüger beschreibt in "Weiter leben" eine solche Rezitation:

    "Aufregend war [in Theresienstadt] eine Rezitation der Kapuzinerpredigt aus 'Wallensteins Lager'. Der schallende Beifall nach der letzten Zeile, über den Friedland, der keinen Fried im Land aufkommen lässt, war die erste Protestkundgebung, der ich beiwohnte. Die Entdeckung, dass alte Texte in den Dienst von aktuellen Bezügen gestellt werden können."

    Alte Texte in den Dienst von aktuellen Bezügen zu stellen - das war Trost und Widerstand, manchmal Erkenntnis. So auch im Fall des Häftlings Primo Levi. Beim Rezitieren der Verse Dantes, in denen die Gebote einer universalistischen Ethik ebenso anklingen wie das kosmisch omnipotente Gehabe der Macht, erkennt er in einer intensiven "Intuition" das "Warum unseres Schicksals, unseres heutigen Hierseins". Er ahnt plötzlich, dass die nationalsozialistischen Machthaber die jüdische Ethik hassen, die zu Tugend, Gerechtigkeit und Wissen verpflichtet; er erkennt, dass sie versuchen, diese Ethik aus der Welt zu schaffen: durch Vernichtung der Juden.

    Den Häftling Primo drängt es, seine Intuition dem Freund und Mithäftling mitzuteilen:

    "Ich muss ihm vom Mittelalter Bericht und Erklärung geben, von dem so menschlichen, so notwendigen und doch unerwarteten Anachronismus."

    Der Begriff Anachronismus meint hier nicht das Veraltetsein, das Überholt- und Ungültigsein der Verse Dantes, sondern umgekehrt ihre Aktualität in der Jetztzeit. Ein Literaturwissenschaftler schreibt jedoch:

    "Angesichts des "vollkommenen Unglücks', angesichts der Situation des Lagers, in der die Geschichte stehen geblieben ist [...], muss die Weltauslegung Dantes versagen, als Anachronismus erscheinen. Die Frage nach dem Warum [...] scheitert an der im Text vergegenwärtigten Erfahrung der Opfer."

    Der Wissenschaftler verkennt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, den anachronen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die sich - gerade auch in der Situation des Lagers - begegnen und gegenseitig erhellen können.

    Etwa fünfzig Jahre nach der Erkenntnis des Häftlings Primo Levi werden bekannte Genozidforscher - in unterschiedlichen Ansätzen - den Holocaust als den Versuch der Nationalsozialisten erklären, die jüdische Ethik, wie sie in den Schriften der Propheten und im Dekalog niedergelegt ist, aus der europäischen Zivilisation herauszuschneiden.
    Auf Primo Levi, der diesen Versuch - wenn auch nur in einer blitzartigen Intuition, ohne Alleinanspruch auf Wahrheit und ohne sämtliche Implikationen - gleichsam vorweggenommen hat, bezogen sie sich nicht. Wem käme nicht die Warnung in den Sinn, die Elias Canetti 1971 an die den Holocaust untersuchenden Wissenschaftler richtete:

    "Die Strenge der Fachdisziplinen erweist sich hier als Aberglaube. Was ihnen entschlüpft, ist eben das, worauf es ankommt. Eine unzerteilte Anschauung des Phänomens selbst ist oberste Voraussetzung. Jede Arroganz des Begriffs, wo immer sonst er sich bewährt haben mag, ist schädlich."

    In den archetypischen Geschichtserzählungen der Menschheit wird der Holocaust einen bleibenden Platz einnehmen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass er in eine mythische Außerzeitlichkeit rücken oder aber zum Ausgangspunkt einer neuen Zeitrechnung werden wird - einer Zeitrechnung, die mit dem Zerbrechen des Fundaments der einen gemeinsamen Menschheit beginnt.

    Als Teil archetypischer Narrative wird der Holocaust der Versuchung einer "Sinngebung des Sinnlosen" ausgesetzt sein, wie der Philosoph Theodor Lessing sie während des Ersten Weltkriegs enthüllte:

    "Geschichte als Erinnerung des Menschengeschlechts [ist] auch nur ein heilsamer Akt der Selbsttäuschung. Daher stammt die allgemeine Erfahrung, dass das Grässliche, Grausame, Sinnlose der Geschichte nach einigen Geschlechtern verschwindet, bis man von blutigen Barbareien und Metzeleien zuletzt wie von alten Märchen liest."

    Solchen Tendenzen, die sich im Übrigen in Reden und Prospekten bereits andeuten, sollten Gegengewichte entgegengesetzt werden: nicht nachlassendes Forschen über Ursprung, Raum und Zeit der verübten Verbrechen und dem Widerstand gegen sie; Bewahren der Lebenswelten und Kulturen, die vernichtet wurden.

    Doch nichts könnte die mythifizierenden Wirkungen der vergehenden Zeit und die Folgen des Endes persönlicher Zeitzeugenschaft so sehr ausgleichen wie die mündlichen und die schriftlichen Zeugnisse der Überlebenden. Mehr als alle neu entstehenden Werke über den Holocaust bürgen sie dafür, dass sich die Geschehnisse nicht im Archetypischen verlieren - vorausgesetzt, die gegenwärtigen und die zukünftigen Generationen lernen, sie zu lesen.

    Texte müssen - nicht anders als Bilder und Hörbilder - jahrelang in der sie aufnehmenden Person gelebt haben, ehe die in ihnen niedergelegten Erfahrungen diese Person durchdringen und zu Teilen des individuellen und kollektiven Lebens werden. Diejenigen, die sich durch solche Ansprüche überfordert fühlen, sollten Thomas Bernhards Diktum folgen:

    "Es ist besser, zwölf Zeilen eines Buches mit höchster Intensität zu lesen und also zur Gänze zu durchdringen [...], als wir lesen das ganze Buch wie der normale Leser, der am Ende das von ihm gelesene Buch genauso wenig kennt wie ein Flugreisender die Landschaft, die er überfliegt."

    Primo Levis Kapitel "Der Gesang des Ulyss" umfasst weniger als zwölf Seiten - vielleicht nicht zu viel für die noch ein wenig lesende Menschheit.
    Jorge Semprun
    Jorge Semprun (AP Archiv)
    Der Schriftsteller Günther Anders
    Der Schriftsteller Günther Anders (picture alliance / dpa)
    Passanten laufen an vier von 15 neuen "Stolpersteinen" im Bezirk Mitte in Berlin vorbei
    Passanten laufen an vier von 15 neuen "Stolpersteinen" im Bezirk Mitte in Berlin vorbei (AP Archiv)
    Der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit
    Der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit (picture alliance / dpa)