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Dienstleistungsproletariat in Deutschland

Gut zwei Drittel der Deutschen arbeiten im Dienstleistungsbereich. Am unteren Ende stehen Kassiererinnen, Putzfrauen und Wachleute. Gibt es ein Dienstleistungsproletariat in Deutschland und was verbindet dieses? Hamburger Soziologen haben eine Untersuchung angestellt.

Von Isabell Fannrich-Lautenschläger | 14.07.2011
    "Es gibt sozusagen das was wir uns klassisch unter Dienstleistungsarbeit vorstellen. Weiße Krägen. Büroarbeit, sauber, auch durchaus mit Experten bestückt: Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte und dergleichen. Aber wir sehen eben auch, dass es sozusagen da eine Spaltungslinie gibt und unten Leute übrig bleiben, die dann diese einfachen Dienste verrichten."

    Es ist nicht die Welt der Ärzte und Medienleute, die Philipp Staab und Friederike Bahl interessiert. Die beiden Soziologen schauen vielmehr auf jene Menschen, die im unteren Dienstleistungsbereich arbeiten: in der Pflege, als Sicherheitskräfte, Gebäudereiniger und Verkäufer oder in der Postzustellung.

    Die Nähe zu Günther Wallraffs Buch "Ganz unten" ist erwünscht. Bahl und Staab, beide Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, wollen die Welt der einfachen Dienstleistungen erkunden. Sie gingen teils offen, teils inkognito in zehn verschiedene Betriebe hinein. Dort beobachteten sie die Menschen bei der Arbeit, sprachen mit ihnen oder ließen sie miteinander über ihre Arbeit und ihr Leben diskutieren.

    "Ja, das ist nicht immer einfach, weil das tatsächlich auch ein Bereich ist, der mit gewissen Sorgen verbunden ist. Also da sprechen die Leute nicht immer so gern, weil das oft mit einer Kurzfristigkeit der Arbeitsverträge einhergeht, und der Chef – zumindest ist das die Idee der Arbeitnehmer – nicht immer gerne hört, wenn man darüber spricht, wie die Arbeit funktioniert."

    Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung ist die Frage, inwieweit diese Menschen am unteren Rand der Arbeitsgesellschaft einer Art "Dienstleistungsproletariat" zuzuordnen sind – ein sozialwissenschaftlicher Begriff, der zwar schon in den 90er-Jahren diskutiert wurde, sich aber damals nicht hat durchsetzen können.

    "Sehen wir in dem Bereich in Anführungszeichen einfacher Dienstleistungsarbeit eigentlich mittlerweile vielleicht sozusagen irgendwie proletarische Logiken? Kann man eigentlich von Proletarität sprechen? Und da bringen wir interessanterweise eine Disziplin mit ins Spiel, nämlich die Arbeitssoziologie, die sich jahrzehntelang an diesem Begriff abgearbeitet hat und ihn abgearbeitet hat, ihn sozusagen dekonstruiert hat. Und auf der anderen Seite eine Disziplin, nämlich die Ungleichheitsforschung, die mit diesem Begriff in weiten Teilen operiert. Und die Frage ist, wie die sich zusammenbringen lassen, ob sich da eine Symbiose finden lässt oder nicht."

    Gut zwei Drittel der Erwerbstätigen arbeiten in Deutschland gegenwärtig im sogenannten tertiären Sektor, dem Dienstleistungsbereich. Zwölf Prozent der Arbeitnehmer, so zitieren Staab und Bahl andere wissenschaftliche Untersuchungen, seien im unteren Dienstleistungsbereich beschäftigt.

    Anders als in der nach wie vor männlich dominierten Industriearbeiterschaft sind es hier überwiegend Frauen, die mit traditionell weiblichen Tätigkeiten wie "Sorgen, Säubern und Service" ihr Geld verdienen. Außerdem finden die Hamburger Wissenschaftler einen hohen Migrantenanteil sowie eine "deutliche qualifikatorische Durchmischung" vor: Neben der Studentin, die sich durch das Sortieren von Kleidung im Verkaufsraum etwas dazu verdient, finden sich ausgebildete Kaufleute aber auch ungelernte Aushilfen. Einfachste Tätigkeiten wie das Zeitungsaustragen werden professionalisiert:

    "Man stellt sich das vor als Schülerjob, jedenfalls hab ich mir das früher so vorgestellt. Und was wir in dem Bereich eigentlich sehen, ist, dass das zunehmend auch von Leuten gemacht wird, die dann tatsächlich davon leben. Die sind möglicherweise in mehreren unterschiedlichen Betrieben aktiv, die haben möglicherweise drei Verträge, sozusagen immer Mini-Jobs, bei unterschiedlichen Arbeitgebern. Aber die leben von dieser Arbeit."

    Im Vergleich zur heutigen Industriearbeiterschaft seien die Pflegekräfte, Verkäuferinnen und Wachschützer in ihrer sozialen Sicherheit "enorm" benachteiligt, betonen die beiden Wissenschaftler: Arbeiten sie doch häufig ohne tarifliche Bindung, nur halb so oft gewerkschaftlich organisiert wie ihre Kollegen in der Industrie und seltener als diese an Parteien gebunden. Sie werden schlechter bezahlt, ein persönliches Vermögen besitzen sie im seltensten Fall.

    Inwiefern unterscheidet sich diese postindustrielle Arbeiterschaft vom Prekariat? Letzteres beziehe sich auf unsichere Arbeitsverhältnisse auf allen gesellschaftlichen Ebenen, sagt Bahl. Demgegenüber nehme Proletarität nicht nur eine spezielle Gruppe in den Blick, sondern auch deren gesamten Lebenszusammenhang:


    "Und zwar ist es so, dass der Prekaritätsbegriff genau genommen aus der Analyse von Beschäftigungsverhältnissen vordergründig argumentiert. Und der Proletaritätsbegriff zielt eigentlich schon immer auf mehr. Er fragt nämlich nach einer Lebensweise. Das heißt, wenn man mit Proletarität operiert, fragt man immer nach einem Brückenschlag von der Arbeitswelt in die Lebenswelt."

    "Der Akzent ist ein neuer. Das ist genau der sozusagen, die Leute zu begleiten, tief in ihre Lebens- und Arbeitspraxis rein zu sehen. Also wir begleiten die natürlich auch nicht nur während der Arbeit. Sondern sofern sich das machen lässt, begleiten wir die auch in der Freizeit. Wir gehen etwa mit ihnen zu Stammtischen oder treffen uns privat mit denen in ihrem Privatleben und schauen eigentlich, wie die Arbeit sich auch auf weitere Lebenszusammenhänge auswirkt. Und das ist natürlich was, was einem eine statistische Erhebung ganz und gar nicht bieten kann."

    Mangelnde Struktur bestimmt nach der Beobachtung von Bahl und Staab die Arbeit und das Leben im Dienstleistungsproletariat. Im Ernstfall gibt es keinen Betriebsrat, die Arbeit ist unklarer organisiert und definiert als früher im Industriebetrieb. Wann etwa ist ein Gebäude sauber? Oder: Wie oft muss in der Pflege nach dem Kunden gesehen werden?

    Der Arbeitgeber ist häufig weit weg und für solche Fragen nicht erreichbar, zeigt die Untersuchung. Stattdessen hängen die Beschäftigten von ihrem Vorarbeiter oder Filialleiter ab, der - kaum besser bezahlt als sie – für die Führungsrolle nicht qualifiziert ist. Wer welche Arbeit macht, das verhandeln sie selber - unter erheblichen Konflikten.

    Entsprechend negativ betrachten die Dienstleistungsarbeiter die gesellschaftliche Realität. Sie sprechen von chaotischen Zuständen und beklagen einen Mangel an sozialen Strukturen. Anders als die Industriearbeiter der 50er-Jahre, die mit einem sozialen Aufstieg rechneten, sehen sie ihre Zukunft düster:

    "Wenn man mal diese 1950er-Jahre-Studien der Industriearbeiter mit Dienstleistungsarbeitern der heutigen Zeit vergleicht, zeigt sich auch ein ziemlicher Kontrast, weil der Zukunftsoptimismus, den man noch in den 1950er-Jahren gefunden hat, ist eigentlich einer ziemlichen Ernüchterung gewichen. Insofern als wir teilweise die Frage, wo sie sich in 15 Jahren sehen und wie sie die Zukunft einschätzen die Kommentierung bekommen: "Ja, Scheiß-Frage. Keine Ahnung." Also da ist dieser Zukunftsoptimismus auch ziemlich geschwunden beziehungsweise wird vielleicht noch anstatt einer besseren Zukunft naja das Fortwähren der momentan nicht so guten aber immerhin passablen Gegenwart erwartet und erhofft."

    Auf der unteren Dienstleistungsebene bestimmt die Arbeit das Leben in massiver Weise. Es sind zudem Tätigkeiten, die am Ende nicht auf ein fertiges Produkt verweisen. Viele der hier Beschäftigten, so bilanzieren die Soziologen, erachten ihre Arbeit nicht als wertvoll.

    "... einfach weil sehr viel gearbeitet wird, nachts gearbeitet wird. Auf der anderen Seite weil sie sehr auf die Körper geht – man muss nur an die Gebäudereinigung denken: Die Leute werden da nicht sehr alt in dieser Branche. Und auf der anderen Seite ist das eine Arbeit, die nicht mehr die Chancen eines klassischen Berufs bietet. Das ist auch die Brücke zur Teilhabe, zur Frage der Teilhabe, weil die Leute sich natürlich abrackern, um an der Arbeitsgesellschaft teilzuhaben, ihre Jobs ihnen aber selber nicht mehr wirklich das bieten, was ein klassischer Beruf einem bietet, nämlich eine Identifikation mit ihrer Arbeit."