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Dienstleistungsrichtlinie ist ein Wahrnehmungsproblem

Vor dem heutigen EU-Gipfel in Brüssel sind die Gemüter erhitzt. Vor allem die geplante Dienstleistungsrichtlinie stößt in Ländern wie Frankreich oder Deutschland auf Kritik. EU-Industriepolitikkomissar Verheugen versichert aber, dass es keine Richtlinie geben wird, die zu Lohn- oder Sozialdumping führen wird. Es handele sich hierbei vor allem um ein Wahnehmungsproblem.

Moderation: Doris Simon | 22.03.2005
    Doris Simon: Da haben die Finanzminister der Europäischen Union am Wochenende gerade einen besonders dicken Brocken aus dem Weg geräumt. Nach jahrelangem Streit erlaubt der Stabilitätspakt, den heute wohl die Staats- und Regierungschefs absegnen sollen, nun bestimmte sagen wir mal mildernde Umstände, unter denen das Haushaltsde-fizit auch mal über 3 Prozent liegen darf. Aber pünktlich zum EU-Gipfel, der eben heute beginnt, der nächste Brocken. Es könnte gut sein, dass die Franzosen am 29. Mai in einem Referendum nein sagen zur europäischen Verfassung, und ein Nein in diesem wichtigen Gründungsstaat der Gemeinschaft wäre wohl das Aus für die Verfassung. Für französische Politiker aus allen Lagern ist ein Projekt aus der EU-Kommission Schuld daran: die Dienstleistungsrichtlinien. Wer in einem EU-Land seine Dienstleistungen legal und sozialversichert anbietet, soll das bald in allen EU-Ländern dürfen. Einige Bereiche werden dabei ausgenommen. Derzeit ist das alles noch in der Diskussion, aber der Aufruhr ist schon jetzt groß und mindestens so groß ist auch die Angst vieler Menschen, ihre Arbeit zu verlieren, wenn billige Anbieter aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten überall arbeiten dürfen. - Am Telefon ist nun EU-Industriekommissar Günter Verheugen. Ich grüße Sie!

    Günter Verheugen: Guten Morgen!

    Doris Simon: Herr Verheugen, der Druck wegen der Dienstleistungsrichtlinie wächst nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Alt-EU-Ländern. Präsident Chirac hat gesagt, dass er das auch zum Thema heute machen will. Wer will eigentlich diese Dienstleistungsrichtlinie?

    Günter Verheugen: Fast alle wollen sie. Widerstand gibt es eigentlich nur in ganz wenigen Ländern, vor allen Dingen in Frankreich, und nicht gegen eine Dienstleistungsrichtlinie an sich, sondern gegen den Entwurf, der von der früheren Kommission vorgelegt worden ist. Das Ding ist ja uralt. Ich glaube nicht, dass hier noch sehr viel Diskussionsbedarf besteht, denn die Kommission hat ja längst gesagt, jetzt die neue Kommission, dass sie bereit ist, auf die Sorgen und die Befürchtungen, die es zum Beispiel in Frankreich und in Deutschland gibt, einzugehen und im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Ich wiederhole jetzt zum ixten Male, was ich in Deutschland schon sehr oft gesagt habe: Diese Kommission garantiert, dass es keine Dienstleistungsrichtlinie geben wird, die in irgendeiner Form zu Lohndumping, zu Sozialdumping, zu Qualitätsdumping oder zum Verlust von irgendwelchen Rechten der Betroffenen führen wird, sondern es geht darum, Hindernisse zu beseitigen, die heute noch dem Projekt der Verwirklichung des Binnenmarktes für Dienstleistungen im Wege stehen.

    Doris Simon: Also ist das ein Wahrnehmungs- oder sagen wir ein Vermittlungsproblem, denn am Wochenende haben ja 60.000 in Brüssel gegen diese Dienstleistungsrichtlinie demonstriert?

    Günter Verheugen: Das ist nach meiner Meinung inzwischen in erster Linie ein Wahrnehmungsproblem, aber man muss auch zugeben, dass der Entwurf der Richtlinie aus dem vergangenen Jahr an einigen Stellen unklar ist. Aber noch einmal: die Kommission hat schon in ihrem Vorschlag für die Neufassung der Wachstums- und Beschäftigungsinitiative gesagt, dass sie zu den notwendigen Änderungen bereit ist. Mehr können wir nun im Augenblick wirklich nicht tun.

    Doris Simon: Die Furcht ist groß vor Arbeitsplatzverlust. Zugleich geht es heute auf dem Gipfel um die Lissabon-Strategie. Dort steht im Mittelpunkt ein neues Konjunkturprogramm, was bis zu sechs Millionen Arbeitsplätze schaffen soll bis 2010. Das klingt sehr schön. Werden da denn auch Arbeitsplätze für Deutschland dabei sein?

    Günter Verheugen:Erstens würde ich das nicht als ein Konjunkturprogramm betrachten. Das ist ein ziemlich irreführender Begriff. Es werden ja keine neuen Mittel zur Verfügung gestellt, um Arbeitsplätze zu schaffen, sondern es ist ein Vorschlag, bei dem es darum geht, die politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die europäische Wirtschaft so zu verbessern, dass sie wettbewerbsfähiger wird. Das Schlüsselwort bei dem ganzen Projekt heißt Wettbewerbsfähigkeit und ich bin fest davon überzeugt, wenn diese Vorschläge heute und morgen angenommen werden - und das werden sie wohl - und dann auch verwirklicht werden, dann wird das Auswirkungen haben auch auf den Arbeitsmarkt in Deutschland und zwar in einer beträchtlichen Größenordnung.

    Doris Simon: Wieso sind Sie da so sicher? Es hat ja schon mal vor fünf Jahren mit dem Lissabon-Programm einen Ansatz gegeben, der aber nichts gebracht hat.

    Günter Verheugen: Das haben wir ja auch genau analysiert, woran das gelegen hat. Die Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2000, die das Ziel hatte, bis zum Jahre 2010 aus Europa den leistungsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, hat ihre Ziele nicht erreicht, wird sie auch bis 2010 nicht mehr erreichen. Erstens, weil es viel zu viele Prioritäten gab und im Endergebnis dann keine, vor allen Dingen aber deshalb, weil es keine definierte Aufgabenverteilung gegeben hat zwischen der europäischen Ebene und den Mitglieds-staaten. Das Neue an dem Vorschlag, den die Kommission gemacht hat, ist ja dies, dass wir in einer Partnerschaft zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten nicht nur einen europäischen Wachstums- und Beschäftigungsplan haben wollen, sondern 25 maßgeschneiderte jährliche nationale Pläne, die sich auf gemeinsamen Zielen aufbauen.

    Doris Simon: Für wie sinnvoll halten Sie es denn, dass jetzt schon von der Kommission auch Zahlen genannt werden, eben diese Zahl, bis 2010 sechs Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, denn bei der derzeitigen Situation, wo jeder danach schielt, werden da nicht falsche Hoffnungen geweckt?

    Günter Verheugen: Das ist eine makroökonomische Berechnung, die unsere Abteilung für Wirtschaft und Finanzen vorgenommen hat. Ich selber stehe solchen Zahlen außerordentlich skeptisch gegenüber, weil es so viele unbekannte Faktoren gibt, die das Ergebnis einer solchen Politik beeinflussen können, dass eine solche Zahl nur dann stimmt, wenn alles ganz genau programmgemäß verläuft. Es kann auch genauso gut etwas mehr sein und es kann auch etwas weniger sein. Ich halte die Zahl nicht für entscheidend, sondern ent-scheidend ist, dass uns in den nächsten Jahren die Trendwende gelingt und Europa im Vergleich zu den USA, aber auch zu anderen dynamischen Wirtschaftsräumen der Welt wieder besser wird bei Produktivität, Wachstum und Beschäftigung.

    Doris Simon: Zurzeit herrscht in den beiden großen Ländern Deutschland und Frankreich eine gehörige Angst. Die Angst - ich sagte es eingangs - drückt sich auch aus in den zunehmenden Ablehnungen der europäischen Verfassung in Frankreich. Dort steht ein Referendum Ende Mai an. Glauben Sie, dass die Signale heute von dem Gipfel wirklich etwas in Frankreich bewirken können? Wird das ausreichen, die Leute zu einer positiveren Einstellung gegenüber Europa zu bewegen?

    Günter Verheugen: Ich glaube schon, dass die Signale, die von dem Gipfel ausgehen werden, positiv sind, weil sich einmal zeigt, dass die Europäische Union die Kraft hat, zu gemeinsamen Aktionen zu kommen und eine gemeinsame weitreichende ökonomische Strategie zu entwickeln, zum anderen, weil auch die Reform des Stabilitätspakts, die Sie am Anfang so ein bisschen wegwerfend behandelt haben, eine ganz, ganz wichtige Frage ist. Diese Reform des Stabilitätspaktes wird es nämlich einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern erlauben, eine Politik zu betreiben, die stärker als bisher auf Wachstum gerichtet ist.

    Doris Simon: Wo ganz Deutschland heute aufschreit, also zumindest die Opposition, die Wirtschaftsverbände. Ein einziger kollektiver Aufschrei, diese so genannte Verwässerung, wie es von dieser Seite genannt wird, des Stabilitätspaktes würde Deutschland ins Unglück stürzen.

    Günter Verheugen: Das ist eine muss ich nun sagen wirklich sehr schwer verständliche, außerordentlich orthodoxe Reaktion. Ich finde, dass beim Stabilitätspakt ökonomische Grundregeln beachtet werden müssen. Die ökonomische Grundregel heißt, dass nicht dieselbe Haushalts- und Finanzpolitik angemessen ist, wenn man sich in Zeiten einer Krise oder Rezession oder wenn man sich in Zeiten der Hochkonjunktur befindet. Die Reform, die hier gefunden worden ist, bedeutet ja nichts anderes, als dass die Kommission das tut, was meiner Meinung nach immer schon notwendig war, bei der Bewertung eines Defizits die gesamtwirtschaftliche Lage fair und objektiv zu beurteilen. Es heißt nicht ein Freibrief für Defizite, sondern es wird zum Beispiel berücksichtigt, ob ein Land sich in einem Struk-turwandel befindet, ob Investitionen notwendig sind, um mittelfristig mehr Stabilität und mehr Wachstum zu erzeugen. Das sind doch Dinge, die berücksichtigt werden müssen.

    Doris Simon: Und die Kritik von den Finanzinstituten oder von der europäischen Zentralbank halten Sie in dem Zusammenhang auch nicht für gerechtfertigt?

    Günter Verheugen: Nein, halte ich nicht.

    Doris Simon: Heute kommt auch der türkische Regierungschef Erdogan nach Brüssel. Er wird sich mit den konservativen EU-Regierungschefs am Vorgipfel treffen. Des Weiteren haben die EU-Außenminister letzte Woche die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien bis auf weiteres aufgeschoben. Es soll erst der flüchtige General Gotovina dem Jugoslawien-Tribunal überstellt werden. Die Diskussion um Beitrittstermine, einmal Aufschub, einmal der Termin 3. Oktober für die Türkei, haben Sie den Eindruck, dass da im Augenblick die Entwicklung in die richtige Richtung geht?

    Günter Verheugen: Ich bin nicht mehr zuständig für dieses Thema und ich enthalte mich hier jeden öffentlichen Urteils. Ich kann nur sagen in beiden Fällen ist es so, Türkei und Kroatien, dass die Bedingungen für beide Länder vollkommen klar sind. Beide Länder wissen ganz genau, was von ihnen erwartet wird und dass die Termine für die Eröffnung von Verhandlungen an Bedingungen geknüpft waren. Das war im vergangenen Jahr schon so; das ist nichts Neues. Wenn jetzt die Außenminister oder der Rat zu dem Ergebnis kommt, dass diese Bedingungen nicht erfüllt sind, dann ist es notwendig, sich auch konsequent zu verhalten.

    Doris Simon: Das war Günter Verheugen, Kommissar in der EU-Kommission, zuständig für Industriepolitik. Vielen Dank für das Gespräch Herr Verheugen!

    Günter Verheugen: Gern geschehen!

    Doris Simon: Auf Wiederhören!