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Diese eine Nacht

Komm, sieh mich an, mach die Augen auf, komm schon, hörst du? ... ich bin´s der Vogel, dein Vogel... - warum sagst du nichts, wo treibst du dich herum?"

Claudia Kramatschek | 28.05.2003
    Sie müssen mit ihm sprechen, hat der Arzt zu Vera gesagt. Ihrer Stimme lauschen wir im neuen Roman von Ulrike Kolb, während sie da sitzt im Zimmer einer Intensivstation, am Bett ihres besten Freundes und einstigen Geliebten Zott, der dort in einer Art Koma liegt, in das ihn kurz zuvor ein Autounfall jäh gerissen hat. Eine Nacht lang wird Vera sprechen mit Zott - wie eine moderne Sirene, die nur eines erhofft: den Freund zurück zu rufen ins Leben, ihm dem Tod noch einmal zu entlocken.

    Es ist immer reizvoll, die Prozesse zu verfolgen, in denen etwas kaputt geht, und was damit angefangen wird mit diesem Zerstörtsein. Aber hier in diesem Roman, ist die Zerstörung nicht das Ende (..), sondern es ist eine Öffnung. (..) Es ist eine fnung zu neuen Möglichkeiten.

    Es ist dabei eine so schlichte wie erzählerisch ergiebige Rahmenhandlung, die Ulrike Kolb sich ausgedacht hat für ihren Roman, für Diese eine Nacht . Denn was wie ein Kammerspiel inszeniert ist auf engstem Raum, entfaltet sich zugleich als gelungener Sprechgesang, der sich mit nur einer Stimme erhebt und doch durch seine Vielschichtigkeit betört: Weil dieser Gesang mäandernd ausholt in Zeit und Raum, und gesättigt ist von Erinnerung und Erfahrung, von Vergangenem und Gegenwart.

    Drei Jahre lang hat Schweigen geherrscht zwischen Vera und Zott, und das, obwohl sie sich kennen seit Kindertagen, und die liegen mittlerweile rund 40 Jahre zurück. Freundschaft und Liebe verbinden sie; doch wo sie, die Journalistin, noch jetzt im Leben eine eher Suchende, ja Fragende ist, hat Zott sich schon als junger Mann eingeschlossen in die radikale Sprache seiner Kunst./ Bei aller Verbundenheit also zwei unterschiedliche Wege auch, das Leben zu begehen - und Kolb erzählt uns beider Geschichte, indem sie Vera sich ihrer vergewissern lässt.

    Indem sie zu ihm spricht, vergewissert sie sich ihrer selbst. Und immer wieder anders. Als würde sie in ein Kristall gucken, das sie dann dreht (..) und wo sich an jeder Seite ihr Gesicht immer anders spiegelt, aber es ist immer das selbe Kristallobjekt, in dem sie sich spiegelt.

    Ob die ersten Schritte ins rettende Reich der Fantasie, in das die beiden Kinder gemeinsam fliehen, als sie sich in einem katholisch geprägten Internat als Außenseiter verbünden; ob ihre Vorstellungen von einein Leben jenseits gesellschaftlicher Norm, ob ihre gemeinsamen Reisen oder dann ihrer beiden Ehen, die letztlich doch zerbrechen: All das hat, bruchstückhaft zwar, seinen Platz in dieser Nacht. Den eigentlichen Reiz dieser Rückschau aber macht aus, dass ihrer beider Leben sich unter der Hand als mehr erweisen wird als die Summe dieser Einzelteile. Denn was als Individualgeschichte beginnt, weitet Ulrike Kolb behutsam aus: Da ist zum einen die erneute kritische Befragung ihrer eigenen Generation - einer Generation, die auch und vor allem geprägt ist durch das Stichwort '68.

    Keiner dieser Themenstränge aber führt tatsächlich die Oberstimme an. Das allerdings hat System bei der Erzählerin Kolb, die stets über ein Moment des Unentschiedenen in ihren Texten verfügt, um /&hne Wort-e zu illustrieren, wie jene Wahrnehmung funktioniert, ohne die es letztlich keine Geschichte gäbe und die doch nie mehr sein kann als reine Fiktion: ^



    Es geht ja in diesem ganzen Buch um Wahrnehmung. Und es geht auch darum, wie verschieden jemand Dinge und Begebenheiten wahrnimmt, wenn er jung ist und wenn er alt wird Wie verschieden zum Beispiel Zott die Dinge wahrgenommen hat, und sie die Dinge wahrgenommen hat, und ihre Tochter die Dinge wahrnimmt und ihr Sohn die Dinge wahrnimmt. Und es geht ja auch darum, was man dann mit dieser Wahrnehmung anfängt. Mit dem, was man sieht und hört und empfindet.

    Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, ohne die doch keine Geschichte und damit die Arbeit am Sinn des menschlichen Lebens zu haben ist - das ist ein Thema, das sich durch alle Romane von Ulrike Kolb hindurch verfolgen lässt. Immer bleibt darin das Jetzt ein Mosaik des Gewesenen: Stückwerk wie das Leben selbst, darin voller Schrecken und Faszination zugleich. Es ist bezeichnenderweise Zott, der als Künstler sein Leben in Kunst verwandelt hat und dafür eine Sprache findet, indem er sich auf jene torsohaften Körper bezieht, wie sie der griechische Philosoph Empedokles entwirft.

    Das Bild völlig - für unsere Gefühle - falsch zusammen gesetzter Körperteile ist ja auch für uns ein Bild der Zerstörtheit. (..) Das erschreckt uns ja. Und (..) natürlich hat mich das selbst fasziniert, die Vorstellung von falsch zusammen gesetzten Körperteilen. Und ich gestatte mir, indem ich den Zott das tun lasse, ein Spiel mit diesen Fantasien, obwohl sie so schrecklich sind. Das kann man sich nur erlauben, wenn man Künstler ist: also homo ludens. Das ist der Künstler, der selbst aus den Schrecken für sich ein Spiel machen kann.

    Zott dürfte überhaupt die faszinierendere Figur von beiden sein; einer, der vibriert vor innerer Spannung, ein noch im Scheitern fast prometheischer Mensch, der immer wieder aufersteht wie Phoenix aus der Asche, als wollte Kolb an ihm den Triumph des Glaubens über die Macht des Faktischen zelebrieren. Von eher zwitterhafter Natur dagegen sind erneut die Gefühle ihrer beider Protagonisten; man erinnere sich nur an den ambivalenten Eros, der bereits im letzten Roman den jungen Mann namens Max an seine geliebte Ziehmutter band.

    Das trifft eigentlich auf alle meine Romanfiguren zu, dass sie nie einen eindeutigen Charakter haben. Es sind immer unberechenbare gemischte Charaktere, die auch oft nicht wissen, was Liebe ist, was Freundschaft ist. Und es geht immer um die Gefühlsschichten, die unter den sichtbaren vibrieren, wenn man so will und die entscheide ich nicht als Schriftstellerin. Eher geht es mir so: Je mehr ich nachdenke über die Person, desto mehr muss ich erkennen, wie schwer es ist, überhaupt jemanden zu definieren. Und diese Zweifel, die entstehen beim empfindlichen Wahrnehmen eines Menschen.

    Für dieses an den Rändern seiner selbst immer wieder offene Denken, das auch im neuen Roman weder der innerlichen Verlustrechnung noch der Ignoranten Abrechnung verfällt, hat sie zugleich auch eine eigene Sprache gefunden: Einen Monolog, der ohne Punkt den atemlosen Fluss der Gedanken wiedergibt - und dennoch erstaunlich vielfarbig in seinen Tonlagen ist. Denn wie es sich für eine Sirene gehört, lockt Vera mit allen Mitteln der weiblichen Kunst: Mal flirtet, mal schimpft sie, mal ist sie heiter, mal melancholisch, mal zärtlich gurrend, mal wagt sie zotige Witze. Fast hat man daher den Eindruck, der Roman gilt auch der mythischen Kraft der menschlichen Stimme selbst.

    Als wäre diese eine Nacht erfunden nicht mit einer Stimme, sondern für eine Stimme - zumal auch Zotts Arbeiten allesamt Installationen mit menschlichem Stimmmaterial sind. Die Stimme aber, das weiß man, ist jener Sinn des Menschen, mit dem das Leben beginnt und endete Daher fügt es sich wie ein kleineres Steinchen im Mosaik, wenn ausgerechnet Vera vorzudringen vermag in das Zwischenreich von Leben und Tod, in dem auch Zott sich bewegt: Weil sie ihr Schreiben als eine fortgesetzte Suche nach all jenen versteht, die nicht mehr sind - einen Gang durch den Hades im Medium der Sprache.

    Es geht nicht immer um Tod, aber es geht (..) um das, was wirklich unwiederbringlich vorbei ist. Je älter man wird und je mehr man realisieren muss, ja: dass es so viele Unwiederbringlichkeiten gibt, desto näher fühlt man sich dem, was man Tod nennt. Wir wissen ja alle nicht, was das ist. Und deswegen ist die Fantasie darüber so reizvoll. Und mich reizt es sehr. Weil mich das Leben interessiert.