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Diesmal einvernehmlich?

Am 25. Juli haben die Verfassungsrichter die Reform des Bundestagswahlrechts ohne Übergangsfrist gekippt. Am morgigen Dienstag (28.08.) treffen sich die Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen nun zu einem ersten Gespräch über eine Neuregelung. Denn die Zeit drängt: 2013 steht die nächste Bundestagswahl an.

Von Annette Wilmes | 27.08.2012
    O-Ton Beck: "Wir sollten uns jetzt als Parteien wirklich zusammen raufen, auch sagen, was die unterschiedlichen Interessen von großen und kleinen Parteien sind."

    O-Ton Oppermann: "Ich glaube, wir kriegen das hin beim Wahlrecht. Wir sind bereit, im Gespräch mit den anderen Parteien jetzt ein verfassungskonformes Wahlrecht zu verabschieden."

    O-Ton van Essen: "Wir müssen ein gültiges Wahlrecht für die in einem Jahr stattfindende Bundestagswahl haben, und darum müssen wir uns mit aller Kraft bemühen."

    Morgen treffen sich die Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen zu einem ersten Gespräch über das neue Wahlrecht. Es ist noch ruhig im parlamentarischen Berlin. Die erste Sitzung des Bundestages nach der Sommerpause findet erst am 10. September statt. Das frühe Treffen der Grünen, der SPD, der FDP, der Linken und der CDU kommt zustande, weil die Politiker unter Zeitdruck sind. Denn am 25. Juli hat das Bundesverfassungsgericht das erst im vergangenen Jahr in Kraft getretene Wahlgesetz in wichtigen Punkten für nichtig erklärt, ohne jede Übergangsfrist. Deshalb muss jetzt ganz schnell ein neues Wahlgesetz her, schließlich steht die nächste Bundestagswahl 2013 bevor.

    O-Ton Enkelmann: "Es müssen sich wirklich alle Fraktionen zusammensetzten, es müssen sich die Experten in Sachen Wahlrecht zusammensetzen und relativ schnell, weil ansonsten die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl zu eng wird."

    O-Ton Krings: "Erst mal ist mir wichtig, dass wir offen in die Gespräche reingehen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, ich hätte auch gern schon noch früher den ersten Beratungstermin anberaumt, aber ich wollte jetzt auch nicht allen Kollegen zumuten, ihren Jahresurlaub da zu verschieben."

    Gegen das neue Wahlgesetz, von der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP erst im vergangenen Jahr gegen die Stimmen der Opposition verabschiedet, waren SPD, Grüne und mehr als 3000 Einzelpersonen nach Karlsruhe gezogen. Sie hatten teilweise Erfolg. Drei zentrale Elemente verstießen gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 25. Juli im Rahmen der Urteilsverkündung:

    "Das betrifft die Zuweisung von Ländersitzkontingenten nach der Wählerzahl, weil sie weiterhin den Effekt des negativen Stimmeffekts ermöglicht. Die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Absatz 2a Bundeswahlgesetz, weil die damit einhergehende Reststimmenverwertung einem Teil der Wählerstimmen eine weitere Chance auf Mandatswirksamkeit einräumt sowie die ausgleichslose Ermöglichung von Überhangmandaten durch § 6 Absatz 5 Bundeswahlgesetz soweit der Umfang den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben kann."

    Das sogenannte negative Stimmgewicht war nicht zum ersten Mal Prozessgegenstand in Karlsruhe. Bereits 2005, kurz nach der damaligen Bundestagswahl, war dieses Phänomen zum ersten Mal ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Weil in einem Dresdener Wahlkreis eine Kandidatin gestorben war, musste dort noch einmal gewählt werden. Dabei kam heraus, dass die aufgeklärten Wähler taktisch wählten und ihrer Partei, der CDU, nur die Erststimme gaben, die Zweitstimme aber der FDP. Mit weniger Stimmen zu mehr Sitzen zu kommen, oder umgekehrt mit mehr Stimmen Mandate zu verlieren, das war nach dem Wahlgesetz möglich. Theoretisch schon immer, nur war dies bisher nicht aufgefallen. Die Sache landete vor dem Bundesverfassungsgericht. Im Juli 2008 erging das Urteil: Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtige die Gleichheit der Wahl zum Deutschen Bundestag, urteilten die Richter. Drei ganze Jahre ließen sie den Parlamentariern damals noch Zeit für die notwendige Gesetzesänderung. Im September 2009 wurde der Bundestag noch nach altem Recht gewählt. Die Zeit verging, ohne dass nennenswerte Fortschritte gemacht wurden. Die Frist konnte dann nicht mehr eingehalten werden. Erst am 3. Dezember 2011 trat das geänderte Gesetz in Kraft und hatte nicht lange Bestand. Andreas Voßkuhle merkte dazu am 25. Juli an:

    "Trotz einer großzügig bemessenen dreijährigen Frist für den Wahlgesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, ist das Ergebnis, das ist übereinstimmende Auffassung im Senat, ernüchternd."

    Eine deutliche Kritik in Richtung Parlament. Jörg van Essen, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP, nimmt die Kritik - zumindest teilweise - an:

    "Es ist zulange Zeit verstrichen, das Bundesverfassungsgericht hatte uns ausreichend Zeit gegeben. Aber es war vollkommen klar, das erste Jahr ist verstrichen, da gab es noch die große Koalition, da stand man vor einer Bundestagswahl und da hat man sich natürlich an das Wahlrecht nicht herangetraut. Wir in der Koalition haben damit begonnen. Und es hat sich aber gezeigt, dass bei jedem Stellschräubchen, das wir angegangen sind, die Konstruktion doch sehr ins Schwanken gekommen ist, und deshalb jedes Mal nachgerechnet werden musste, welche Auswirkungen hat das. Wer ist davon bevorzugt, wer hat davon Nachteile, das muss ja alles beantwortet werden, bevor man sagen kann, das ist eine vernünftige Lösung und das erfordert immer ganz intensive Rechenoperationen, die auch zeitlich lange dauern."

    Mit diesem Luxus ist es jetzt vorbei. Auch dazu fand der Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle deutliche Worte:

    "Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahlen sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürgerinnen und Bürger. In ihm manifestiert sich das Ideal gleicher Freiheit und Würde. Auch die Komplexität der Regelungsmaterie vermag eine dauerhafte Relativierung dieses Grundsatzes daher nicht zu rechtfertigen."

    Die parlamentarischen Geschäftsführer haben offensichtlich daraus gelernt. Seit dem 25. Juli, dem Tag der Urteilsverkündung, sind gerade erst vier Wochen verstrichen, wenn morgen das erste Treffen stattfindet. Thomas Oppermann, SPD, geht schwungvoll in die erste Beratungsrunde:

    "Wir haben drei Prinzipien, die uns bei diesen Gesprächen leiten werden, erstens, wir wollen ein faires Wahlrecht, ein Wahlrecht, das nicht einzelnen Parteien Sondervorteile gibt oder anderen Parteien Nachteile zufügt. Zweitens, wir wollen ein gleiches Wahlrecht, das heißt, die Proportionalität des Zweitstimmenergebnisses muss erhalten bleiben. Und drittens, wir wollen, dass das neue Wahlrecht im Konsens aller im Bundestag vertretenen Fraktionen gefunden wird. Das ist uns besonders wichtig, weil wir glauben, wir können uns nicht noch eine streitige Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht erlauben. Wir sind verpflichtet, hier einen guten Kompromiss zu finden und das Urteil umzusetzen."

    Wie Oppermann sieht auch Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, gute Chancen für eine Einigung:

    "Ein erneuter Streit um das Wahlrecht an den Linien Opposition-Koalition würde von den Bürgerinnen und Bürgern nicht verstanden. Weil dann würde deutlich werden, dass die Koalition erneut versuchen würde, sich mit einem Trick im Wahlrecht eine Mehrheit zu ergaunern. Und ich glaube, das würde das Ansehen der repräsentativen Demokratie extrem beschädigen. Und wir sollten uns jetzt als Parteien wirklich zusammen raufen, auch sagen, was die unterschiedlichen Interessen von großen und kleinen Parteien sind, und dann überlegen, wie wir das Ziel erreichen können, dass allein der Bürger und die Bürgerin mit ihrer Stimme bei der Bundestagswahl entscheiden, wer wie stark im Deutschen Bundestag ist und wie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament aussehen."

    Und auch die dritte Oppositionspartei, Die Linke, ist morgen an der Beratung beteiligt. Dagmar Enkelmann ist parlamentarische Geschäftsführerin:

    "Wir werden sehen, ob es einen neuen Vorschlag gibt, zum Beispiel von der Koalition, die ist ja jetzt eigentlich gefordert, weil die Vorschläge der Oppositionsfraktionen, auch einschließlich der Vorschlag der Linken, liegen auf dem Tisch. Wie weit man sich darauf zu bewegt, das werden wir abwarten, und wie viele Gespräche wir dann noch brauchen, um dann zu einem Vorschlag zu kommen, der vielleicht sogar einvernehmlich durch den Bundestag geht, das wäre sicher gut, auch glaube ich im Interesse der Akzeptanz für das Wahlrecht, sollte das einvernehmlich sein."

    Ursprünglich war die Partei Die Linke nicht zu der parlamentarischen Gesprächsrunde eingeladen. Dann hat sich die Union, die zunächst auf die Partei verzichten wollte, eines Besseren besonnen. Günter Krings, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion:

    "Das Ziel ist auf jeden Fall da, möglichst alle Oppositionsfraktionen, möglichst viele Oppositionsfraktionen einzubeziehen. Im Übrigen war selbst das Wahlrecht, das verabschiedet worden ist im letzten Jahr auch insofern schon parteiübergreifend, weil eine kleine Partei, die FDP, eine Regionalpartei, die CSU, die Partei CDU dabei waren. Das heißt, es waren da auch schon strukturell sehr unterschiedliche Interessen mit am Tisch. Ich glaube, dass strukturell die Interessendivergenz zwischen Union und FDP eigentlich größer ist als zwischen Union und SPD, denn die sind beides Fraktionen, Parteien, die durchaus auch Direktmandate gewinnen, das tun Grüne, FDP, Linke nur in ganz, ganz geringem Maße, wenn überhaupt. Insofern geht es immer auch darum, Interessen auszugleichen und vor allem ein faires System zu finden. Und ich bin da zuversichtlich, dass wir das hinbekommen werden."

    Die Zuversicht und den Optimismus teilen tatsächlich alle Parteien. Ist das Zweckoptimismus? Oder haben sie eingesehen, dass nun wirklich etwas passieren muss, dass sich das Parlament keine weitere Korrektur aus Karlsruhe leisten darf.

    "In politischen Rechten sind die Menschen strikt gleich zu behandeln. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt der Demokratie. Und insofern ist der Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit der Wahl ein besonders wertvoller Wahlrechtsgrundsatz","

    sagt Hans Meyer, emeritierter Professor für Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzrecht. Der frühere Präsident der Humboldt-Universität Berlin befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Wahlrecht und wird als ausgewiesener Kenner der Materie immer wieder als Sachverständiger und Gutachter herangezogen, auch im vergangenen Jahr bei der Anhörung im Rechtsausschuss. Vor dem Bundesverfassungsgericht trat er im jüngsten Prozess um das Wahlrecht als Bevollmächtigter der SPD und der Grünen auf.

    O-Ton Meyer: ""Gleichheit ist natürlich das Fundamentalste am Wahlsystem, weil es die politischen Möglichkeiten der einzelnen Parteien ändert oder beschränkt, je nachdem, wie ungleichmäßig man das Wahlrecht macht und das sauberste Wahlrecht ist, das sich möglichst gleichheitsmäßig verhält. Und das ist bei uns im Augenblick nicht der Fall."

    Der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts sorgt für Verschiebungen. Sie kommen nach Auffassung des Gerichts zustande, weil die Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl zugewiesen werden. Das sieht auch Hans Meyer so:

    "Übrigens ist das ein Punkt, wo die alte Regierungsmehrheit eine kleine Gaunerei begangen hat. Denn sie hat damals über das Innenministerium ein sehr renommiertes staatliches Institut für die Sicherheit im Informationswesen Rechnungen anstellen lassen mit dem Ergebnis, dass relativ unbedeutende negative Stimmgewichte entstehen können. Bei dieser Rechnung ist nicht eingesetzt worden, und das war dem Institut offensichtlich verboten, dass die Wahlbeteiligung zwischen den Ländern in einer Wahl erheblich sich verändern kann. Also in einer Wahl können Abweichungen zwischen Hessen und Nordrhein-Westfalen von etwa zehn Prozentpunkten entstehen. In dem Augenblick aber, da nun überall verrechnet wird über die Landesgrenzen hinweg, können negative Stimmgewichte entstehen, und das hat das Gericht auch erkannt und deshalb diese Art von Möglichkeit für verfassungswidrig erklärt."

    Das Gesetz sieht also vor, dass die Wählerzahlen, die am Wahltag festgestellt werden, Grundlage für die Sitzkontingente sind. Das kann zu absurden Gegenläufigkeiten führen. Der Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim aus Augsburg, der vor dem Bundesverfassungsgericht als Sachverständiger auftrat, hat diesen Effekt durch ein Beispiel veranschaulicht:

    "Wähler, die in Bayern für die Bayernpartei oder für die ÖDP stimmen, wissen, dass ihre Stimme höchstens als Protest-Signal wirken wird, weil die Parteien ihrer Wahl regelmäßig an der Fünfprozenthürde scheitern. Aber indem diese Wähler sich an der Wahl beteiligen, holen sie mehr Sitze nach Bayern und vergrößern am Ende die Sitzzahlen der etablierten Parteien. Das Wahlgesetz verkehrt den Wählerwillen ins Gegenteil: Proteststimmen verlieren ihren Protestcharakter und erzeugen Rückenwind für die etablierten Parteien."

    Aber auch in der Frage der Überhangmandate verlangt Karlsruhe Abhilfe.

    "In dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sind Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWG) nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt. Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke verletzt."

    Das System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl und das Zustandekommen von Überhangmandaten erklärt Verfassungsrechtler Hans Meyer so:

    "Das Bundeswahlgesetz geht davon aus, dass es 299 Direktmandate und 299 Listenmandate im Bundestag gibt und zugleich aber, dass wir ein Verhältniswahlsystem haben. Um dem gerecht zu werden, werden alle 598 Mandate nach dem Proporz aller Zweitstimmen auf die Parteien verteilt. Die gewonnen Direktmandate aber von den theoretisch erzielten Listenmandaten abgezogen. Normalerweise führt das dazu, dass es keine Überhangmandate gibt."

    Normalerweise. Aber bei der Bundestagswahl 2009 war es anders, da erhielten die CDU 21 und die CSU 3 Überhangmandate. Die entstehen immer dann, wenn es zu wenige Listenmandate gibt, die Direktmandate also nicht von der Liste abgezogen werden können.

    O-Ton Meyer: "Die Überhangmandate bedeuten ja, dass es ein Verstoß gegen die Wahlgleichheit ist, weil ja die Wähler nicht mehr werden, sondern nur die Verteilung der Stimmen oder die Umrechnung der Stimmen in Mandate dazu führen, dass eben hier in diesem Falle die CDU 21 Überhangmandate hat. Das entspricht ungefähr einem Wert von 1,6 Millionen Wählern, die sie nicht hatte, sondern die nur dadurch erzielt worden sind, dass das System diesen Erfolg ermöglicht."

    Früher gab es kaum Überhangmandate. Das habe sich erst mit der Wiedervereinigung geändert, sagt Hans Meyer:

    "Früher hatte die CSU immer 50 plus als Wahlziel ausgegeben und in der Regel auch erreicht. Wenn man aber 50 Prozent der Stimmen als Zweitstimmen bekommen hat, kann man keine Überhangmandate erzielen. Die CDU und die SPD lagen immer über 40 Prozent. Bei der letzten Wahl sind sie aber unter 40 Prozent gesunken. Das heißt, die Zustimmung zu den Parteien ist gesunken, zu den Parteien, die überhaupt nur Direktmandate erreichen können, sind erheblich gesunken, aber die Anzahl der Direktmandate sind geblieben, sodass die Diskrepanz außerordentlich groß geworden ist."

    Eine Partei kann also mehr Mandate im Bundestag erreichen, obwohl sie weniger Zustimmung bekommt. Ein widersinniges Ergebnis. Dazu müssen sich die Parlamentarier jetzt etwas einfallen lassen. Das Gericht hat eine Zahl genannt, etwa 15 ausgleichslose Überhangmandate seien zulässig, diese Zahl aber nicht näher erklärt, sogar an einer Stelle geschrieben:

    "Der Senat ist sich bewusst, dass die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann."

    O-Ton Krings: "Das ist eigentlich ein Hammer, das gab es glaube ich noch nie in einem Urteil in über 60 Jahren Verfassungsgericht. Das zeigt, wenn das Gericht selbst nicht begründen kann, wie soll man das als Politik voraussehen können. Also der Punkt jedenfalls war höchst überraschend."

    Der CDU-Politiker Günter Krings vermisst klare Handlungsanleitungen des Gerichts. Das jedoch hat sich mit Lösungsvorschlägen bewusst zurückgehalten. Andreas Voßkuhle:

    "Angesichts der überaus zahlreichen Möglichkeiten und Varianten unter Einhaltung der Gewährleistung des Grundgesetzes eines neues Wahlrecht zu kreieren, ist es primär Aufgabe der Politik, der Parteien und des Parlaments, hier tätig zu werden. Dass die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl knapp bemessen ist, vermag an diesem Umstand nichts zu ändern."

    Wenn man sich an die Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen aus dem vergangenen Jahr erinnert, können tatsächlich Zweifel aufkommen, ob es in der kurzen Zeit, die den Parlamentariern zur Verfügung steht, jetzt zu einer tragfähigen Einigung kommen kann. Die meisten von ihnen halten die Chancen jedoch für gut. Auch Gero Neugebauer, Politologe aus Berlin, ist zuversichtlich:

    "Es muss diesen Kompromiss geben. Es darf nicht der Zustand eintreten, dass eine Wahl stattfindet, die keine Legitimation durch ein Gesetz hat. Wir haben gegenwärtig kein Wahlrecht. Insofern muss eins geschaffen werden. Und in der kurzen Zeit eins zu schaffen, angesichts der kontroversen Interessen, das geht nur, wenn jede Seite bereit ist zu verzichten und gleichzeitig sagt: Vielleicht setzen wir in einem nächsten Verfahren unsere Interessen oder auch andere Interessen besser durch."

    In einem nächsten Verfahren, das nach der Wahl 2013 beginnen könnte. Dann könnten die Parteien die Strukturen des Gesetzes den neuen Gegebenheiten anpassen. Einvernehmlich, wie es der Tradition bei so grundsätzlichen Fragen entspricht.

    O-Ton Neugebauer: "Hier taucht in der Tat ein Problem auf, das man vielleicht auch aufgreifen kann: Ob man die Frage des Wahlrechtes nicht den Parteien aus der Hand nehmen sollte, sondern in eine Kommission übergibt, die dann einen Vorschlag vorlegt, mit konkurrierenden Mathematikern und Staatsrechtlern, Politikwissenschaftlern und Politikern, die dann sich aber einigen. Das einzige, was man ihnen vorgeben muss, ist: Ihr werdet in drei Jahren fertig, damit wir wenigstens für ein Jahr noch Zeit haben für Entscheidungen im Parlament, und es wird durch einen öffentlichen Diskurs immerhin in den Medien begleitet, sodass das auch als ein Problem von Relevanz erkannt wird."

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