Samstag, 20. April 2024

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Dieter Fuchs/Edeltraud Roller/Bernhard Wessels (Hrsg.): Bürger und Demokratie in Ost und West. Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess, Westdeutscher Verlag, Bonn und Thomas Meyer:

Die Antwort der Europäer auf die weltpolitischen Umwälzungen setzt voraus, dass man intern erst mal zu einer Ordnung, zu gemeinsamen Nennern, zu einem archimedischen Punkt findet, von dem aus die beiden so lange getrennten Teile Europas eine Perspektive nach vorne, nach Übersee und in die Welt hinein wagen können. Die Europäer und ihre politischen Systeme sind noch auf der Suche nach diesem neuen Ausgangspunkt. Die Schwankungen bei den Wahlen der letzten Jahre weisen ebenso darauf hin wie die Verhandlungen um die Ost-Erweiterung. Aus der Fülle der Literatur über die Suche der Europäer nach einem neuen internen Gleichgewicht hat sich Reinhard Backes drei exemplarische Werke herausgegriffen:

Reinhard Backes | 17.06.2002
    Die Bilder haben nichts von ihrer Kraft verloren: Ungarn öffnet im Sommer '89 den Eisernen Vorhang. Zigtausend kehren der DDR den Rücken, reisen über Österreich in den Westen. Im September stürmen Tausende in Prag die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland und erzwingen ihre Ausreise. Am 4. November demonstrieren in Ostberlin 5oo.ooo gegen das DDR-Regime. Wenige Tage später, am Abend des 9. November, fällt die Mauer. 1989 ist ein Jahr epochaler Ereignisse. Eine neue Zeitrechnung hat begonnen.

    Auch diese Bilder werden wir nicht los. Sie sind uns näher und doch weit weniger fassbar: Am 11. September 2oo1 rasen zwei voll besetzte Passagierflugzeuge in das World Trade Center, ein weiteres wird gezielt in das Pentagon gesteuert; ein viertes, wohl im Anflug auf das Weiße Haus oder das Capitol, stürzt - nach beherztem Einsatz der Passagiere - im Bundesstaat Pennsylvania ab. Nichts wird sein, wie es war, sagen die Kommentatoren.

    Berlin und New York sind Wendemarken. Europa, die Welt hat sich verändert. Doch nicht das Singuläre ist Ausgangspunkt des Neuen, sondern dokumentiert Entwicklungen, die früher einsetzten - und andauern. Zwischen den Bildern aus Berlin und New York liegen Jahre, die es zu ordnen gilt, will man Veränderungen in Gesellschaften, zumal denen in Osteuropa, die auf den ganzen Kontinent wirken, erkennen und verstehen. Der Buchhandel bietet zahlreiche Titel an, die dies zu versuchen vorgeben; drei, die es auch leisten, seien exemplarisch herausgegriffen:

    1. Bürger und Demokratie in Ost und West. Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess", ein Sammelband mit Beiträgen von Autoren aus Ost- und Westeuropa sowie den USA in deutscher und englischer Sprache 2. Soziale Demokratie und Globalisierung" von Thomas Meyer und 3. Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang von Karl Schlögel.

    Die Bücher könnten unterschiedlicher nicht sein - thematischer Schwerpunkt, Preis und Umfang fallen deutlich auseinander - und doch sind sie gerade in der genannten Zusammenstellung ein Gewinn. Eine Analyse bundesdeutscher Verhältnisse wie gesamteuropäischer Befindlichkeiten ist das Anliegen aller drei Publikationen sowie - als Ergebnis der Untersuchungen und Beobachtungen - ein vorsichtiger Ausblick auf möglicherweise Kommendes. Die Autoren sind Professoren. Thomas Meyer und Dieter Fuchs Politikwissenschaftler an den Universitäten Dortmund und Stuttgart, Karl Schlögel Professor für ost-europäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

    Greifen wir zunächst zum Werk von Dieter Fuchs, einer umfangreichen, 599 Seiten umfassenden Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse in Ost und West, die schon deshalb lohnt, an den Anfang gestellt zu werden. Wie geht es weiter mit Europa? Überwiegen die Chancen oder die Risiken? Welche Entwicklung haben die osteuropäischen Staaten in post- kommunistischer Zeit genommen, frei von sowjetischer Bevormundung? Sind Verunsicherung und Besorgnisse im Westen begründet? Fuchs verweist auf die Arbeiten seines Kollegen Hans-Dieter Klingemann:

    Angesichts der umfassenden politischen, sozialen und ökonomischen Wandlungsprozesse in den neuen Demokratien ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Unzufriedenheit mit der Performanz der Politik in Unzufriedenheit mit der Demokratie als politische Ordnung umschlägt. Der zunächst beruhigende Befund für 17 mittel- und osteuropäische politische Systeme war, dass es mehr Befürworter der Demokratie als Autokraten (die der Demokratie andere Ordnungsmodelle vorziehen) gibt, wenngleich in einigen Ländern ihr Anteil relativ hoch ist und in Russland fast 4o Prozent erreicht. Weniger beruhigend war hingegen das Ergebnis, dass in allen Ländern die Unzufriedenheit mit der politischen Performanz des Systems die Zufriedenheit überwiegt. Positiv wiederum - und für die Leistungsfähigkeit der politischen Parteien sprechend - ist der Befund, dass dies in der Mehrzahl nicht zur Unterstützung extremistischer Parteien führt.

    Thomas Meyer stellt die neue Zeitrechnung nach der Überwindung des Kommunismus sowjetischer Prägung in einen globalen Zusammenhang. Er konstatiert in seinem 129 Seiten starken Buch "Soziale Demokratie und Globalisierung": die bestimmende Auseinandersetzung der Gegenwart sei nicht mehr geographisch zu fassen; der vorherrschende Konflikt des 21. Jahrhunderts sei der zwischen liberaler und sozialer Demokratie. Meyer wörtlich:

    Dieser seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Beginn der gegenwärtigen Welle der Globalisierung sich immer deutlicher abzeichnende Konflikt wird mit größtem ideologischen, wissenschaftlichen und politischen Einsatz ausgetragen. Er ist durch die wirtschaftliche Globalisierung weltweit auf die politische Tagesordnung getreten und letztlich in wesentlichen Fragen auch nur im Weltmaßstab zu entscheiden. Anders als der alte Ost-West-Konflikt zwischen kommunistischer Diktatur und pluralistischer Demokratie ist er jedoch kein Alles-oder-Nichts-Spiel, bei dem jeder der Beteiligten scheinbar nur alles gewinnen oder verlieren kann.

    Die Begründung liefert der Autor gleich mit. Meyer, ein klarer Befürworter einer dem sozialen Gedanken verpflichteten Demokratie, die die Gestaltungs- und Innovationsrechte des Staates gegenüber Märkten und wirtschaftlicher Macht bejaht, findet sie nicht zuletzt in der Programmatik sozialdemokratischer Parteien:

    Kernelemente sozialer Demokratie lassen sich, sobald der von beiden Modellen anerkannte Rahmen rechtsstaatlicher Demokratie erst einmal gesichert ist, auch schrittweise und unter Druck im Kompromiss mit denen, die an ihr kein Interesse haben, gegen die Vertreter der reinen liberalen Demokratie durchsetzen.

    Karl Schlögels Werk, das 256 Seiten umfasst, sei an den Schluss gestellt. Der Grund: Es hebt sich von den beiden ersten ab. Weniger die Analyse als die Reflexion liegt dem Autor am Herzen. Seine Erkundungen, wie er selbst es nennt, entstammen dem Jahr- zehnt zwischen Berlin und New York, dem Ende des 2o. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Lösungen verspricht Schlögel nicht, er warnt vor schnellen Urteilen:

    Alle sind überfordert, auch wenn es so aussieht, als seien es nur die Intellektuellen oder die Politiker oder die Ökonomen oder die einfachen Hausfrauen. Wer die Dinge nicht benennen kann, sucht Ersatz: in der Vergangenheit, in der Zukunft, in der Moral. Im radikalen Wandel ist die Sprachlosigkeit besonders groß. Das Innehalten, das Schweigen können, das Ertragen der Offenheit ist nicht jedermanns Sache. Man hat die alten Moralen zugrunde kritisiert und kreiert im gleichen Atemzug schon die neue. Die Europäer des 2o. Jahrhunderts sind so gesehen alle Idioten, Kretins und Subalterne - nur selbst ist man weit darüber hinaus. Aber schon bei der ersten Probe zeigt sich: Nichts ist neu. Es gibt nichts Neues. Das ideologische Bewusstsein wandert weiter - in anderer Montur und unterwegs zu weiteren Geisterschlachten.

    Fazit: Die Analysen von Dieter Fusch und Thomas Meyer sind hilfreich, das, was sich geändert hat, nüchtern zu betrachten; die Reflexionen Karl Schlögels eine Aufforderung zur Zurückhaltung im Urteil. Wer vermag schon zu sagen, was sein wird? Nicht nur manchen Zeitgenossen, die stets großspurig mit den passenden Antworten daher kommen, sei die Lektüre der vorliegenden Werke daher wärmstens empfohlen.

    Reinhard Backes besprach den von Dieter Fuchs, Edeltraud Roller und Bernhard Wessels herausgegebenen Band "Bürger und Demokratie in Ost und West", erschienen im Westdeutschen Verlag in Bonn, 599 Seiten zu 49 Euro, ferner das Buch von Thomas Meyer "Soziale Demokratie un Globalisierung" aus dem Dietz-Verlag in Bonn, 192 Seiten zu 9 Euro achtzig, und das Werk von Karl Schlögel "Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang erschienen im Hanser-Verlag in München, 256 Seiten zu 21 Euro fünfzig.