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Dieter Grimm Die Verfassung und die Politik - Einsprüche und Störfälle.

In der Vergangenheit hat er sich wiederholt zu Wort gemeldet, der Verfassungsjurist Dieter Grimm. Als Richter am Bundesverfassungsgericht, dem er zwölf Jahre lang bis 1999 angehörte, fiel er erstmals 1989 mit einem Sondervotum auf. Es ging um das Reiten im Walde, und Grimm kritisierte die Tendenz, jedes erdenkliche menschliche Verhalten "unter den Schutz des Grundgesetzes" zu stellen. Und immer wieder geißelt Grimm "Deformationen des Parteienstaates", kritisiert leichtfertige Grundrechtsänderungen als Verstoß gegen demokratische Spielregeln, macht sich stark für mehr plebiszite Elemente in der Verfassung. Seine Aufsatzsammlung "Die Verfassung und die Politik" erschien jetzt zum 50. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts.

Renate Faerber-Husemann | 22.10.2001
    Schnell werden Texte, die sich mit Problemen von politischer und staatsrechtlicher Tragweite befassen, zu Makulatur, wenn die Zeiten sich ändern, wenn eine brutale Realität über intellektuelle Theorien hinwegfegt. Und da ist es ein außergewöhnlicher Glücksfall, ein Buch in die Hand zu bekommen, das sich gerade in diesen Wochen mit Freiheitsrechten, mit Toleranz, mit Fundamentalismus beschäftigt und mit der fatalen Neigung der jeweiligen politischen Mehrheit, am Grundgesetz herumzubasteln. Das Buch "Die Verfassung und die Politik" analysiert den Zustand unserer Verfassung und damit unserer Republik. Die Sammlung von Essays entstand lange vor dem 11. September 2001, und doch gibt es nichts, was der Autor Dieter Grimm, Professor für Öffentliches Recht und neuer Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin, korrigieren müsste. Im Gegenteil, seine Warnungen, die Wertschätzung der Freiheitsrechte schwinde sowohl bei der politischen Klasse als auch bei ihren Wählern, sind von beklemmender Aktualität. Dieter Grimm war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, und eine Reihe von Urteilen zur Meinungsfreiheit, zu Freiheitsrechten im weitesten Sinne, tragen seine Handschrift. Die Sorgen, die er sich um das Grundgesetz macht, lassen sich ablesen an Kapitelüberschriften wie" Hütet die Grundrechte !", "Wieviel Toleranz verlangt das Grundgesetz?", "Wie man eine Verfassung verderben kann" oder "Ist der Parteienstaat verfassungsrechtlich begrenzbar?". Grimm beschreibt, wie die Deutschen im Laufe der Jahrzehnte zu "Verfassungspatrioten" wurden - und wie diese Achtung vor dem Grundgesetz, dieser gemeinsame Stolz auf die so noblen wie klaren Sätze in den letzten Jahren immer mehr in Gleichgültigkeit umzuschlagen droht. Das hat einmal zu tun mit den zahlreichen Korrekturen an Artikeln, die als eherne Fundamente gegolten hatten - vom "großen Lauschangriff" bis zu den Änderungen beim Asylrecht. Das hat aber, so die Warnung des gleichermaßen angesehenen und unbequemen Juristen schon 1990, vor allem zu tun mit der versäumten gemeinsamen Verfassungsdebatte:

    "Als Kristallisationskern für kollektive Identität wird die Verfassung nach der Wiedervereinigung weniger benötigt als früher. Der Patriotismus ist nicht mehr auf das Grundgesetz angewiesen. Die Verfassung auch zu einer Sache der ostdeutschen Bevölkerung zu machen, hat man in der Wiedervereinigungsphase ohnehin versäumt. ... Die ostdeutsche Bevölkerung ist infolgedessen weithin verfassungsindifferent geblieben."

    Der rote Faden in der Sammlung von Aufsätzen ist das Thema Toleranz. Natürlich hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 keine Vorstellung vom komplizierten Leben in einer multikulturellen Gesellschaft. Und doch geben, so Grimms leidenschaftliche Überzeugung, die damals formulierten Grundrechte auch Antworten für das Zusammenleben höchst unterschiedlicher Gruppen von heute:

    "Andersartigkeit muss im Prinzip ertragen werden. Jeder kann seine Lebensform wählen und seine Auffassung vertreten. Jeder kann auch andere Auffassungen und Lebensformen ablehnen, nicht aber ihr Existenzrecht verletzen. Der Staat hat die Freiheit aller zu garantieren und darf für keinen Partei ergreifen."

    Das bedeutet nun keineswegs, dass alles möglich ist, dass Minderheiten Mehrheiten dominieren können. Das Grundgesetz ist nicht wertneutral, es ist, so schreibt der Verfassungsjurist, auf die pluralistische Demokratie festgelegt. Und das bedeutet eine eindeutige Absage an jede Form von Fundamentalismus. Als hätte er die Sätze in diesen Wochen geschrieben, heißt es in einem Essay:

    "Fundamentalismus ist das Gegenteil von Toleranz. Die Abwehrmechanismen des Grundgesetzes gegen Fundamentalismus, die Möglichkeit des Partei- und Vereinsverbots sowie der Grundrechtsverwirkung, gelten daher auch dann, wenn der Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung unter Berufung auf kulturelle Imperative geführt wird."

    Grimm macht es sich nicht leicht. Er wägt sorgfältig ab zwischen berechtigten Sicherheitsbedürfnissen und den Freiheitsrechten, die es auch dann zu schützen gilt, wenn die allgemeine Konjunktur dagegensteht. "Es ist die Freiheit, die Sicherheitsrisiken schafft", schreibt er in seiner Bilanz zu 50 Jahren Grundgesetz und weiter:

    "Die größten Freiheitsprobleme entstehen unterdessen durch die steigenden Sicherheitserwartungen in der Gesellschaft, auf die der Staat schon seit längerem mit einer Wende zur Prävention reagiert. Prävention zielt darauf ab, Gefahren bereits an der Quelle aufzuspüren und ihrer Entstehung möglichst zuvorzukommen. Gleichwohl sind die Vorteile der Prävention nicht kostenlos zu haben. Da die Gefahrenherde ungleich zahlreicher und ungleich verborgener sind als die manifesten Gefahren, ist der Übergang zur Prävention mit einer Tendenz zum omnipräsenten und omniinformierten Staat verbunden."

    Freiheit und Sicherheit lassen sich nicht gleichermaßen optimieren. Es droht die Gefahr, dass Prävention jene Freiheit, die sie schützen möchte, aufzehren könnte, warnt Dieter Grimm. Manche Kapitel sind für juristische Laien schwer zu lesen, die meisten aber wünschte man sich als Grundlage für den Politikunterricht an den Schulen. Denn stets ist die große Liebe zu diesem Grundgesetz spürbar, unter dessen Dach sich jahrzehntelang die unterschiedlichsten politischen Grundströmungen, Parteien, Meinungen zu Hause fühlen konnten. Dass sich dies ändern könnte - vielleicht schon geändert hat, ist die große Sorge von Dieter Grimm. "Wie man eine Verfassung verderben kann", heißt deshalb ein Kapitel seines Buches. Man spürt die Trauer darüber, dass Juristen und Politiker aus Ländern, die sich in den letzten Jahren auf den schwierigen Weg von der Diktatur zur Demokratie gemacht haben, das deutsche Grundgesetz zum Vorbild genommen haben - das gilt unter anderem für Russland und für Südafrika - im eigenen Lande aber die Wertschätzung schwindet. Fast beschwörend schreibt der radikale Demokrat, der sich mit dieser von ihm diagnostizierten Entwicklung nicht abfinden mag:

    "Das Grundgesetz ist eine der erfolgreichsten Verfassungen der Welt, das Bundesverfassungsgericht ein weit über die deutschen Grenzen hinaus bewunderter Garant von Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechten."

    Die Aufsatzsammlung von Dieter Grimm: Die Verfassung und die Politik - Einsprüche und Störfälle ist erschienen im Münchner Beck-Verlag, hat 250 Seiten und kostet 38 Mark.