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Dieter Langewiesche
"Der gewaltsame Lehrer"

250 Jahre lang führte Europa Kriege, um die Welt zu gestalten. Im 19. Jahrhundert gelang es, diese Kriege einzugrenzen – wodurch dies gelang und warum es seit 1914 nicht mehr wirkte, erklärt der Historiker Dieter Langewiesche. Und er erinnert an einen Ausweg, den die Gegenwart bietet.

Von Michael Kuhlmann | 04.03.2019
Buchcover: "Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne". Hintergrundbild: Ein Soldatenfriedhof
Die Lektüre offenbart, welch ein Trümmerfeld der Nationalismus als Weltanschauung hinterlassen hat. (Buchcover: C.H.Beck Verlag / Hintergrund: dpa)
Dieter Langewiesche geht von einem zutiefst realistischen Weltbild aus: Wenn politische Akteure in den letzten 250 Jahren die Szenerie gestalten wollten, dann griffen sie offenkundig am liebsten zu einem Mittel. Langewiesche schreibt:
"Das unermeßliche Leid, das Kriege […] über Menschen gebracht haben, hielt sie nicht davon ab, immer wieder aufs neue ihre Zukunftshoffnungen mit dem Instrument des Krieges verwirklichen zu wollen. Je entschiedener ihr Bruch mit der Vergangenheit, umso entschiedener ihre Bereitschaft, dafür Gewalt einzusetzen – Revolutionsgewalt und Kriegsgewalt. Mit ihr wollte man, und will man auch weiterhin, eine bessere Zukunft erzwingen."
Nach einem chronologischen Aufriss widmet sich Langewiesche einem Zentralthema seines Geschichtsabschnitts: den Revolutionen, sei es die amerikanische, die französische oder die russische. Alle behaupteten sich in Kriegen, nach innen oder nach außen. Auch 1848 hätte es den großen europäischen Krieg gebraucht, um ein demokratisches Europa zu schaffen. Davor aber schreckte die Mehrzahl der Revolutionäre zurück - ihr Anliegen scheiterte. Der Autor bilanziert:
"Wer eine radikale Revolution will, muß zur radikalen Gewalt bereit sein. Ab wann die Gewalt eine Eigendynamik entwickelt, kann niemand wissen."
Die Klugheit des 19. Jahrhunderts
Langewiesche hebt hervor, dass Europas Politiker es im 19. Jahrhundert noch vermochten, den Krieg einzuhegen - aller revolutionären Dynamik zum Trotz. Das schafften sie nach Langewiesches Beobachtung, weil kein Staat sich in die innere Ordnung eines anderen einmischte: Ob ein Staat Monarchie oder Republik sein wollte, entschied er selbst. Bis zum Ersten Weltkrieg: In ihm kämpften politische Ordnungsmodelle gegeneinander. Denkbar schlechte Voraussetzungen für die Friedenssuche von 1919:
"Die Verbindung von Kriegsbeendigung, Staatszerstörung und Staatsbildung mit Nationalisierung, Demokratisierung und Republikanisierung führte dazu, daß der Weg aus dem Krieg sich nicht allein von den Staaten und ihren Repräsentanten steuern ließ. Den Siegerstaaten misslang mit ihrem Demokratisierungsprogramm eine gesamteuropäisch pazifizierende Ordnung."
Die Kehrseite der Demokratisierung
Denn anders als 1815 waren 1919 breite Bevölkerungskreise politisiert, etliche radikalisiert: eine Schattenseite der neuen Teilhaberechte, wie Langewiesche skizziert:
"Der Wille zur demokratischen Partizipation und die Bereitschaft zur Aggression liefen in der Idee Nation zusammen - und machten den Nationalismus als politisches Mobilisierungs- und Handlungsprogramm zu einer mächtigen Kraft."
Diese Kraft bewerten möchte Langewiesche in seinem Buch nicht. Er will gerade keine - so wörtlich - Gouvernanten-Historie schreiben, die den Akteuren ihre Fehler unter die Nase reibt. Dennoch offenbart die Lektüre, welch ein Trümmerfeld der Nationalismus als Weltanschauung hinterlassen hat. Langewiesche zeigt nämlich, wie sehr Nationaldenken und Gewalt von jeher Hand in Hand gingen:
"Nation ist eine Kraft, die kulturelle Einheit nach innen durch Abgrenzung nach außen erzeugt. Die Normalität bestand im Zwang, in der dominanten Nation aufzugehen, oder es kam zur gewaltsamen Ausstoßung bis hin zur Vernichtung. Ethnische 'Säuberung' ist in dieser Perspektive kein Unglücksfall der Geschichte, sondern im nationalen Einheitsgebot angelegt."
Die Idee der Nation habe also zwei Seiten: Demokratieverheißung und die Intoleranz gegen kulturelle Andersartigkeit. Langewiesches Studie macht den ganzen Bankrott dieser Weltanschauung erfahrbar.
Der Wiener Kongreß (18. September 1814 bis 9. Juni 1815) unter Vorsitz von Klemens Wenzel Fürst von Metternich (stehend 6.v.l.) Der österreichische Staatsmann versuchte durch Kongreßdiplomatie, die vorrevolutionäre politische und soziale Ordnung in Europa wiederherzustellen.
Der Wiener Kongress (18. September 1814 bis 9. Juni 1815) (picture alliance / dpa )
Verzicht auf Krieg in Europa – aber wie?
Im Ganzen liefert das Buch eine kenntnisreiche Schilderung zweieinhalb kriegerischer Jahrhunderte. Diese Fakten kann man zwar auch anderswo nachlesen. Aber in einer anregenden Form erinnert der Autor immer wieder daran, wie klug 1815 der Wiener Kongress für Frieden in Europa sorgte - im vielzitierten Konzert der europäischen Mächte. Das allerdings wäre im demokratischen Europa von heute nicht mehr denkbar. So kommt Langewiesche schließlich auf Ansätze der Gegenwart zu sprechen - Ansätze mit Machtpotential:
"Europa ist erneut zum Laboratorium für die Suche nach einer staatlichen Ordnung geworden. Einst war in Europa der Nationalstaat erschaffen worden, nun geht es um eine erneute weltgeschichtliche Innovation: Nationalstaaten staatenübergreifend verbinden. Aber nicht imperial, sondern kooperativ und demokratisch legitimiert. Es wäre eine Rückkehr Europas zur globalen Bedeutung - aber in einer staatlichen Gestalt, die in der Geschichte ohne Vorbild ist."
Denn es würde auch bedeuten, auf den Krieg als zukunftsgestaltende Kraft zu verzichten. Das würde also weit über die Einhegung des Krieges im 19. Jahrhundert hinausgehen. Ein solches Friedensprojekt hält Langewiesche für so neuartig, dass es sich nicht auf historische europäische Werte gründen lasse.
Freilich möchte man einwenden: Hält nicht die europäische Aufklärung solche Werte bereit? Wohl zitiert Langewiesche Immanuel Kant: Demzufolge lasse sich ein künftiger Völkerfrieden erst einmal nur durch Krieg herstellen. Immanuel Kant aber wusste weder vom Marschflugkörper noch vom Maschinengewehr. Und auch nichts von der zerstörerischen geistigen Kraft des Nationalismus.
Dieter Langewiesche: "Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne",
C.H. Beck, 512 Seiten, 32,00 Euro.