Samstag, 20. April 2024

Archiv

Dietmar Timm und die Tage nach dem Mauerfall
"Sympathische Anarchie in Berlin"

Unmittelbar nach dem Mauerfall schickte der DLF zusätzliche Reporter nach Berlin. Dietmar Timm war einer von ihnen. Er kam tagelang weder zum Schlafen noch zum Umziehen. 25 Jahre danach erinnert er sich an eine "sympathische Anarchie" und an eine Stadt im Ausnahmezustand.

Dietmar Timm im Gespräch mit Marco Bertolaso | 11.11.2014
    Dietmar Timm im Studio am Mikrofon.
    Dietmar Timm erinnert sich 25 Jahre nach "seinem" Wochenendjournal im Kölner Funkhaus an den November 1989. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Das Gespräch bezieht sich auf folgendes "Dokument der Woche": Dokument der Woche - Vor Ort beim Mauerfall - "Das Wochenendjournal" in Berlin und Helmstedt
    Marco Bertolaso: Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Am 10. November fand abends in Berlin die berühmt berüchtigte Kundgebung statt, auf der Helmut Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Walter Momper und einige andere ihre legendäre Cover-Version der deutschen Nationalhymne gesungen haben. Nur wenige Stunden nach diesem besonderen musikalischen Erlebnis ging der Deutschlandfunk live aus Berlin mit dem „Wochenendjournal" auf Sendung. Der Ü-Wagen stand unmittelbar an der Mauer und einer der beiden Moderatoren war Dietmar Timm. Der Kollege ist seit knapp zwei Jahren im Ruhestand, aber heute ist er für Sie noch einmal im Studio. Hallo, Dietmar Timm!
    Dietmar Timm: Hallo!
    Bertolaso: Wissen Sie eigentlich noch, ob das ein schöner Herbsttag war, damals vor 25 Jahren?
    Timm: Das Wetter eher grau und kühl, was für uns auch Auswirkungen hatte, denn diese ganze Sendung hatte ja eine Vorgeschichte. Am Donnerstagabend, am 9. November, der berühmte Tag, die Mauer fiel, und am Freitagvormittag gab es hier im Funkhaus wie üblich um 9:30 Uhr eine Schaltkonferenz inklusive des Intendanten, und was wir dort bekamen war sozusagen der Marschbefehl: Leute, setzt euch in Bewegung. Wir waren ja in ganz normaler Kleidung gekommen und saßen dann zwei Stunden später im Flugzeug nach Berlin, übrigens aus Düsseldorf, weil aus Köln gab es überhaupt keine Plätze mehr nach Berlin. Es war alles ausgebucht. Und wir flogen so, wie wir ins Büro gekommen waren. Wir hatten keinen Mantel oder irgendwas Warmes dabei. In Berlin mussten wir uns einfach mal ein paar frische Socken kaufen, damit man die überhaupt wechseln konnte. Das Wetter gehörte durchaus auch zur Vorgeschichte dieser Sendung.
    Bertolaso: Ich habe diese eigentlich banale Frage nach dem Wetter nur gestellt, um mal zu testen, wie sich der Tag bei Ihnen - und ob überhaupt - im Gedächtnis festgebrannt hat, und ich merke schon: der hat sich festgebrannt. - Vom Wetter und der Kleidung mal abgesehen, was ist denn das, was Ihnen wirklich in Erinnerung bleibt? Was sind die wichtigsten Erinnerungen an den Tag des „Wochenendjournals" und überhaupt an die Tage in Berlin?
    Timm: Das sind bestimmte Bilder. Man hat ja ein fotografisches Gedächtnis. Wir sind Freitags Mittags in Berlin gelandet. Die Stadt war in Anarchie.
    Bertolaso: Anarchie?
    Timm: Es war wirklich eine funktionierende, aber sympathische Anarchie. Die Straßen waren voll. Es war völlig egal, ob eine Ampel auf Rot schaltete oder so was; die ganze Stadt war in Bewegung. Das sind Sachen, die sich einbrennen.
    Dann so kleine Szenen: Wir sind ja, wie ich schon sagte, einfach so abgereist, wie wir ins Büro gekommen sind. Wir hatten dann die grandiose Idee, dass man ja auch ein bisschen Geld braucht, und sind am Freitagabend - das war in der Nähe des Savignyplatzes - an eine Bank, wo der Filialleiter vor der Tür stand und immer nur Geld verteilte. Es gab ja dieses Begrüßungsgeld für die DDR-Bürger und die Banken wurden natürlich gestürmt. Und naiv wie wir waren, gingen wir mit einer EC-Karte an den Automaten; der hatte natürlich kein Geld.
    Bertolaso: Es war wirklich ein Ausnahmezustand?
    Timm: Ja.
    Bertolaso: Nun sind Sie ja selbst in Berlin geboren, lange leben Sie im Rheinland, kennen auch andere Teile der Welt, aber ein gebürtiger Berliner sind Sie. War das was noch mal Besonderes?
    Timm: Ja natürlich! Ich habe ja 1961, damals im Alter von zwölf Jahren, den Bau der Mauer oder den Startschuss miterlebt. Eine Mauer gab es ja an dem Tag noch nicht, das waren ja Stacheldrahtrollen. Dann sind wir halt mit dem Fahrrad zum Brandenburger Tor gefahren, die Grenze abgefahren und haben uns dieses Dilemma angeschaut, soweit man das als Zwölfjähriger von den politischen Hintergründen schon begreifen konnte. In der Woche davor bahnte sich ja schon vieles an: Es gab ja diese Fluchtwelle, die U-Bahnen aus dem Osten nach dem Westen waren voll und von einem Tag auf den anderen war es dicht. Und mit dieser Erinnerung dann zu erleben, wie die Mauer wieder fiel, war natürlich für einen geborenen Berliner schon ein heftiges Erlebnis.
    Bertolaso: Die Sendung, das „Wochenendjournal", kam aus Berlin, aber nicht nur. Es gab Zuschaltungen, zum Beispiel aus Helmstedt. Da habe ich reingehört: Von dort hört man das unablässige Knattern der Trabis, die über die Grenze nach Westen fahren. In Helmstedt und Berlin haben Sie und die Kollegen auch einige DDR-Bürger interviewt. Sie standen ja ganz nahe an der Mauer. Die einen haben gesagt, sie wollen den ostdeutschen besonderen Staat erhalten. Andere haben gesagt, neh, jetzt kommt die Einheit, das muss auch so sein. Was überwog denn an dem Tag, das Einheitsfieber, oder der Freiheitsgedanke, oder noch ganz was anderes?
    Timm: Aus meiner Erinnerung haben wir selbst diese, ich sage jetzt mal, tiefschürfenden politischen Gespräche der Einordnung gar nicht geführt in dieser Sendung. Der Ü-Wagen stand ja am Grenzübergang Invalidenstraße, was übrigens eines der beeindruckendsten Bilder war. Wir sind mal aufs Dach des Ü-Wagens gestiegen, um einfach mal die Invalidenstraße lang in Richtung Osten zu schauen, und was man da gesehen hat, war einfach unglaublich: Menschen, Menschen, Menschen, ein unablässiger Strom von Menschen, der sich von Osten in Richtung Westen bewegte, der gar nicht mehr aufhörte. Und was da einfach überwog, war eine unglaubliche Euphorie. Ich glaube, das war gar nicht der Tag, solche Fragen zu stellen und das Ganze politisch gar in die Zukunft gerichtet einzuordnen.
    Bertolaso: Das war noch nicht Analyse, das war erst mal unglaubliche Freude. - Aber die Menschen, die da kamen, die sahen ja auch zum Beispiel den Ü-Wagen, wo draufstand „Deutschlandfunk". Der DLF sah sich als Sender der Einheit. Aber das war jetzt mal so die Probe aufs Exempel zum ersten Mal. Wie haben die Menschen aus Ostdeutschland denn wirklich reagiert auf Sie?
    Timm: Die waren hoch erfreut, einen Deutschlandfunk-Ü-Wagen zu sehen. Ich sage mal, mindestens die Hälfte kannte uns, was übrigens sehr beeindruckend war. Das haben wir auch in den Wochen danach später immer wieder erlebt. Es kamen ja auch Besucher ins Funkhaus. Man sprach die Leute an und musste sich gar nicht vorstellen.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Dietmar Timm wuchs in Berlin auf. Für ihn war es deshalb etwas Besonderes, die Öffnung der Mauer als journalistischer Augenzeuge zu erleben. (Marco Bertolaso, Deutschlandfunk)
    Bertolaso: Auch namentlich nicht vorstellen? Die wussten von der Stimme, wer Sie waren?
    Timm: Die haben jede Stimme erkannt und wussten genau, das ist jetzt Dietmar Timm, Wolf Renschke, Falk Schwarz, wie sie alle hießen. - Schon ganz beeindruckend.
    Bertolaso: „Sender der Einheit" sagte ich eben. Sie waren ja junger Redakteur dann beim Deutschlandfunk in den 80er-Jahren.
    Timm: Na so jung ja dann auch wieder nicht.
    Bertolaso: Na ja, aber im Vergleich zu heute doch schon jung. Haben Sie denn und die anderen, jünger oder älter damals, wirklich an die Einheit, den Auftrag des Senders geglaubt, oder war das so ein bisschen DDR-Folklore, dass man einmal am Tag gesagt hat, wir sind für die Einheit, aber ansonsten hat man sich um Bonn, um Brüssel gekümmert, aber nicht um Prag und Berlin?
    Timm: So wie die politische Situation war, hat man es, glaube ich, nicht wirklich geglaubt. Das Ganze ist gekippt im Sommer 1989. Im Frühjahr gab es die Kommunalwahlen in der DDR; da wusste man, da bewegte sich schon viel. Wir haben ja sehr viel darüber berichtet. Als dann im Sommer in Ungarn die Grenzen geöffnet wurden und so, dann fing man allmählich an, daran zu glauben, dass sich da wirklich was bewegt.
    Dietmar Timm hat beim Deutschlandfunk viele Stationen durchlaufen. Er war Reporter, Redakteur und Moderator der politischen Magazine, später hat er den Onlinebereich aufgebaut. In den Jahren bis 2012 war Timm Gründungschef von DRadio Wissen, dem dritten Programm von Deutschlandradio. Für ihn war das "die schönste Zeit des Berufslebens".
    Bertolaso: „Wochenendjournal" - danach hat der Deutschlandfunk ja am selben Tag noch andere Sendungen gemacht in Berlin. Welche waren das?
    Timm: Wir haben dieses „Wochenendjournal" am Samstag gemacht. Wir waren übrigens von Freitagmittag bis Sonntagmittag in Berlin und haben keine Minute geschlafen.
    Bertolaso: Nicht eine Minute geschlafen.
    Timm: Wir hatten ein Hotelzimmer, wir haben da mal reingeschaut, wir haben am Sonntagvormittag ausgecheckt, ohne das Zimmer jemals benutzt zu haben. Zum Schlafen kam man nicht.
    Bertolaso: Das heißt Verschwendung von Gebührengeldern?
    Timm: Das hätte man damals Verschwendung von Gebührengeldern nennen können, aber es war schon eine ganz gute Vorsichtsmaßnahme. Es hätte ja sein können, dass wir müde werden.
    Bertolaso: Jetzt kamen Sie als eine Gruppe von Leuten, die da waren am Ort des Geschehens, in das Funkhaus zurück, wo viele noch nicht da gewesen waren. Wie haben die auf Sie reagiert? Haben die Fragen gestellt? Haben die unglaublich geguckt?
    Timm: Die hatten zum Teil, gerade ältere Kollegen, die auch eine DDR-Vergangenheit hatten, wirklich - und das ist nicht übertrieben - Tränen in den Augen. Die haben gesagt, wir haben das gehört und wir hatten von vorne bis hinten nur Gänsehaut. Es war schon ein tolles Erlebnis und es war schön, dass man dabei war.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.