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Digitaler Wandel in Tschechien
Der Patriotismus der Informatiker

Die lange Tradition in den Bereichen Technik, Ingenieurswesen und Informatik helfen tschechischen Firmen dabei, den Übergang ins digitale Zeitalter zu bewerkstelligen. Hinzu kommt eine Portion Heimatliebe.

Von Kilian Kirchgeßner | 15.10.2019
Der Informatikprofessor Vladimir Marik bei einem Vortrag
Vladimir Marik bekam nach der Wende attraktive Angebote aus dem Ausland, sagte sich aber: "Wenn alle weggehen, bleibt niemand mehr in Tschechien übrig." (Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner)
Eine Tagung in der Akademie der Wissenschaften, ein schmuckloser Konferenzraum am Rande von Prag. Die Rollos sind zugezogen, 60 Teilnehmer hören konzentriert dem Redner vorn auf dem Podium zu, der über die Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz spricht. Die meisten hier im Saal sind Männer. Der Redner geht zurück auf seinen Platz in der ersten Reihe, die Moderatorin greift sich das Mikrofon.
"Und jetzt gebe ich das Wort an Professor Vladimir Marik zu seinem Vortrag, anschließend folgt eine Panel-Diskussion."
Es herrscht gespannte Ruhe, als Vladimir Marik aufsteht und vorn ans Rednerpult tritt.
Marik ist 64 Jahre alt und genießt in der tschechischen Informatik einen legendären Ruf: Er gilt als einer der Pioniere der Kybernetik in Mitteleuropa. Er lehrt an der renommiertesten technischen Universität des Landes, hat ein eigenes Institut gegründet und ist an mehreren tschechischen Robotik-Firmen beteiligt. Auf der Konferenz ist künstliche Intelligenz das Thema seiner Rede; die Prager Regierung will dazu ein Maßnahmenpaket verabschieden, in dem es um die Unterstützung für Entwickler ebenso gehen soll wie um Empfehlungen für den Einsatz von künstlicher Intelligenz bei Ämtern und Behörden.
Die Top-Informatiker im Land halten
"Wir müssen uns klarmachen, was wir damit eigentlich wollen: Wollen wir mehr Publikationen, damit alle auf der Welt lesen können, was wir uns in Tschechien ausgedacht haben, aber nicht verkaufen können? Wollen wir ein reizvolles Schaufenster sein für Tschechien? Wollen wir die Arbeit unserer Spitzenkräfte für ein paar Kronen an globale Giganten verkaufen, damit sie unser Potenzial abschöpfen können? Nein: Ich denke, wir sollten damit die tschechische Wirtschaft unterstützen."
Mit Jackett und offenem Hemdkragen steht Marik vorn am Rednerpult, die Stimme fest, die Gestik selbstbewusst. In seinem Vortrag klingt sie an, seine neue Mission: Er will die guten Leute, die Top-Informatiker, im Land halten.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "An die Spitze - Das digitale Paradies in Tschechien" in der Sendung "Gesichter Europas".
Seine Rede ist zu Ende, jetzt hat Vladimir Marik etwas Zeit, von seinen Ideen und seinem Werdegang zu erzählen.
"Ich selbst hatte zwei sehr interessante Angebote, ins Ausland zu gehen; Angebote, bei denen man ausgesorgt hätte. Eines davon umfasste sogar mein ganzes Team. Aber letzten Endes habe ich da nicht lange drüber nachgedacht: Ich bin davon überzeugt, dass wir nach der Wende hier etwas aufbauen müssen. Wenn alle weggehen, bleibt niemand mehr in Tschechien übrig, dann überließen wir das Land seinem Schicksal."
Tschechen gehen ins Ausland - und kommen wieder zurück
Dieser Patriotismus ist einer der Gründe für Tschechiens Erfolg in der digitalen Industrie: Die guten Leute sind nicht ins Silicon Valley abgewandert, sondern viele tschechische Informatiker sind nach einigen Jahren Auslandserfahrung wieder zurückgekommen. Und noch zwei weitere Gründe nennt Vladimir Marik für den tschechischen Erfolg: Die gute Ausbildung – und die langjährige Tradition im Bereich von Technik, Ingenieurwesen und Informatik.
"Das Bildungsniveau der Menschen war in den 1980er-Jahren schon recht hoch. Das Jahr 1989 bedeutete dann, dass wir reisen konnten – dass wir das Potenzial freisetzen konnten, das vorher hier im Land schlummerte. Uns ist es gelungen, zügig in die weltweiten Communities vorzudringen, sei es bei der künstlichen Intelligenz, bei der Computertechnik oder bei der Computersicherheit."
Für einen Moment wird Vladimir Marik nostalgisch: Er denkt an vergangene Zeiten; als der Ostblock zerfiel, war er Mitte 30 und junger Professor.
"An meine erste Reise nach Amerika erinnere ich mich noch genau: Es war im Oktober 1992, die Firma Rockwell Automation hatte mich zu einem dreiwöchigen Aufenthalt in ihrem kalifornischen Entwicklungszentrum eingeladen. Als ich meine Abschluss-Vorlesung hielt, wurde klar: Wir beherrschen eine ganze Reihe von Sachen auf einem Gebiet, in dem die Firma dringend ihr Portfolio erweitern muss. Am letzten Tag meines Aufenthaltes traf ich mich zum Frühstück mit dem Präsidenten des Unternehmens in einem Restaurant, und er schrieb mir auf die Serviette die Summe 155.000 Dollar, für den Beginn unserer Zusammenarbeit. Dass die so viel Geld dafür in die Hand nehmen: Das sagt doch viel aus über die Qualität der Ausbildung hier!"
Attraktiver Standort für internationale Firmen
Tatsächlich bauen seit einigen Jahren viele große internationale Unternehmen in Tschechien eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen auf. Droht dabei aber nicht die gleiche Dynamik wie im klassischen Industriesektor direkt nach der Wende: dass Tschechien nur zum Billiglohnstandort für ausländische Investoren wird?
"Natürlich wird oft kritisiert, dass durch ausländische Forschungs- und Entwicklungszentren viel geistiges Eigentum im Ausland landet. Aber ich sehe das positiv: Die Zentren helfen mit, eine große Zahl von Fachleuten heranzuziehen, die dort Erfahrungen sammeln – und dann eigene Firmen gründen. Die ausländischen Firmen tragen zur guten Ausbildung hier im Land bei. So sehe ich das."
Jetzt, sagt Vladimir Marik, arbeiten die Tschechen endlich auf eigene Rechnung.
Eine Produktion des Deutschlandfunk von März 2019