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Diktatur
Über die Dynamik internationaler Rechtssysteme

Dass heute, 40 Jahre nach dem Tod Francisco Francos und dem damit verbundenen Ende der Diktatur, kritisch über diese Zeit diskutiert wird, verdankt das Land nicht zuletzt einer Debatte um den ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Das zumindest besagt eine jetzt erschienene Studie der Politikwissenschaftlerin Ulrike Capdepón.

Von Julia Macher | 07.09.2015
    General Franco nimmt 1959 von der Tribüne des Präsidentenpalastes in Madrid eine Parade ab.
    General Franco nimmt 1959 von der Tribüne des Präsidentenpalastes in Madrid eine Parade ab. (dpa)
    Als Scotland-Yard-Ermittler am 16. Oktober 1998 den chilenischen Diktator Augusto Pinochet während eines Klinikaufenthaltes in London verhafteten, mit einem von einem spanischen Richter unterzeichneten internationalen Haftbefehl, traf das die Weltöffentlichkeit wie ein Paukenschlag: Erstmals wurde ein Diktator wegen massiver Menschenrechtsverletzungen von einem ausländischen Gerichtshof zur Verantwortung gezogen; das völkerrechtlich verankerte Weltrechtsprinzip hatte das chilenische Amnestiegesetz ausgehebelt.
    In "Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges", einer erweiterten Doktorarbeit, legt die Politologin Ulrike Capdepón detailliert dar, wie sich die Idee einer universellen Gerichtsbarkeit durchzusetzen begann, welche Rolle internationale und transnationale Netzwerke dabei hatten – und welche Strahlkraft der "Fall Pinochet" entfalten sollte, in Chile und anderswo.
    "Obgleich es weder in Spanien noch in Chile zu einer tatsächlichen gerichtlichen Verurteilung Pinochets kam und er am 10. Dezember 2006 ohne juristisch zur Rechenschaft gezogen worden zu sein in Santiago verstarb, zeichnete sich durch den 'Fall Pinochet' ein neues wirkmächtiges transnationales vergangenheitspolitisches Muster in der internationalen Rechtssprechung ab: Ehemalige Diktatoren und wegen Menschenrechtsverletzungen belastete Staatshäupter sollten sich, trotz der Absicherung durch Amnestiegesetzgebungen, fortan internationaler juristischer Verfolgung nicht mehr entziehen können."
    Wer sich durch das zuweilen umständliche Dissertationsdeutsch kämpft, erhält präzise Einblicke in die Dynamik transnationaler Netzwerke und internationaler Rechtssysteme. Seit dem Fall Pinochet reisen Diktatoren und ihre Helfer wesentlich gefährlicher: Mexiko lieferte den für Kindesentführung und Mord an Oppositionellen verantwortlichen Miguel Angel Cavallo, während der Diktatur Leutnant im Generalstab, nach Argentinien, Chile den des Staatsterrorismus beschuldigten Ex-Präsidenten Fujimori nach Peru aus. 2006 schließlich verurteilten spanische Gerichte den Marineoffizier Adolfo Scilingo zu 640 Jahren Haft: Er hatte "Todesflüge", bei denen betäubte Oppositionelle aus dem Flugzeug in den Atlantik geworfen wurden, mitorganisiert und durchgeführt.
    In Spanien, der Heimat des ermittelnden Richters Baltasar Garzón und des für die Vorarbeit zuständigen katalanischen Anwalts und Allende-Vertrauten Joan Garcés hatte man über Franco jahrzehntelang geschwiegen, die Straßen trugen bis über die Jahrtausendwende die Namen franquistischer Militärs. Durch den Fall Pinochet erhielt die Debatte über den Umgang mit der eigenen Vergangenheit ganz wesentliche Impulse. Die Zahl erinnerungspolitischer Initiativen versechsfachte sich in den ersten Jahren des neuen Jahrtausend; nach dem Wahlsieg der Sozialisten verabschiedete das spanische Parlament 2007 erstmals ein "Erinnerungsgesetz", das neben einer Verurteilung der Diktatur und symbolisch-politischen Maßnahmen auch die Suche nach Repressionsopfern und die Öffnung von Massengräbern vorsah.
    "Der Widerspruch, dass spanische Gerichte den chilenischen Diktator wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt hatten, während die Verbrechen der Franco-Diktatur straflos blieben, hatte aus langfristiger Perspektive die Konsequenz, dass auch die franquistischen Verbrechen zunehmend in Menschenrechtsdiskurse eingeschrieben wurden."
    Wesentlicher Bestandteil der spanischen Debatte waren dabei die Desaparecidos, die Verschwundenen, ein Begriff, den man aus Lateinamerika übernommen hatte. Aus gutem Grund. Dem chilenischen Richter Juan Guzmán war es gelungen, über die Verschwundenen trotz des weitreichenden Amnestiegesetzes Offiziere der Diktatur strafrechtlich zu belangen. Seiner Argumentation zufolge handelte es sich bei den Tausenden Regimekritikern, die in Folterkellern und auf "Todeskarawanen" verschwanden, um dauerhafte Entführungen, die noch nicht beendet seien. Nach chilenischem Recht endet eine Entführung erst mit dem Auffinden der Person, da Leichen oder andere Todesbeweise aber fehlten, seien diese Verbrechen nicht abgeschlossen und fielen daher auch nicht unters Amnestiegesetz.
    Auch spanische Opferverbände und Ermittlungsrichter Garzón, der sich ab 2008 der spanischen Bürgerkriegsopfer annahm, versuchten sich diese Strategie zu eigen zu machen. Das gelang nur sehr bedingt. Der Begriff der Verschwundenen fand zwar in das spanische Erinnerungsgesetz Eingang, doch Garzón wurde wegen Verfahrensfehlern 2010 seines Amtes enthoben. Dennoch resümiert Capdepón optimistisch:
    "Erstmals ging von der spanischen Justiz ein Versuch der rechtlichen Aufarbeitung der franquistischen Dikaturverbrechen aus, der diskursiv einer Geschichtsdeutung zur Durchsetzung verhelfen könnte, welche die franquistischen Repressionen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geißelt, das Tabu der Straflosigkeit infrage stellt und damit der in der spanischen Geschichtsdeutung weiterhin einflussreichen Apologetik entgegen wirkt."
    Capdepón hat ihre Doktorarbeit kurz nach der Amtsenthebung Garzóns abgegeben. Das erklärt, warum sie Entwicklungen seither allenfalls streift. Schade ist es dennoch. Schließlich hätte man sich gerade davon auch Erkenntnisse über die Grenzen transnationaler Konzepte versprochen. Handelte es sich bei den Opfern der Franco-Diktatur tatsächlich um Verschwundene im Sinne der lateinamerikanischen Militärdiktaturen oder eher um Opfer extralegaler Hinrichtungen?
    Die argentinische Richterin María Romilda Servini jedenfalls, die die Ermittlungen gegen Folterer der Franco-Diktatur übernommen hat, rückt statt der Fälle der Verschwundenen mehr die Tötungsmethoden der franquistischen Falange in den Fokus; ihre Auslieferungsgesuche an die noch lebenden politischen Verantwortlichen der Diktatur scheiterten bisher.
    An Capdepóns grundsätzlicher These ändert das nichts: Wie Chile mit Pinochet, wie Spanien mit Franco, wie die Welt generell mit ihren Diktatoren umgeht, wird ganz wesentlich von transnationalen Netzwerken und durch Wechselwirkungen bestimmt. Das so detailliert veranschaulicht zu bekommen, macht die Studie lesenswert.
    Ulrike Capdepón: "Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile."
    376 Seiten, transcript Verlag, 34,99 Euro.