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Dima Wannous: "Die Verängstigten"
Syrien im Griff der Angst

Ein Gefühl hat die Syrer seit 50 Jahren im Griff: Angst. Diese Angst hat die syrische Autorin Dima Wannous nun als Thema ihres jüngsten Romans aufgegriffen. Er zeigt eine Welt, von deren Schrecken man sich im Westen meist keine hinreichende Vorstellung macht.

Von Kersten Knipp | 16.01.2019
    Die Schriftstellerin Dima Wannous und ihr Roman "Die Verängstigten"
    Die syrische Autorin Dima Wannous beschreibt ihre Heimat als ein Land der "Verängstigten" (Buchcover Blessing Verlag / Autorenportrait Imago/Future image/xo.xKernx)
    Im Syrien der Familie Assad gibt es viele Gründe, Angst zu haben. Repression und Willkür sind an der Tagesordnung, seitdem Hafez al-Assad 1970 durch einen Putsch die Macht übernahm - eine entgrenzte, jeder Kontrolle und jeder Legitimität enthobene Macht. Er verwandelte Syrien in ein Land, in dem die Angst herrscht. Die Angst vor dem Staatsapparat, vor den Spitzeln, der Polizei, den Folterknechten, der Willkür derer, die in diesem System, auf welcher Ebene auch immer, ein Stück Macht in den Händen halten. Und sie auch unter Hafez al-Assads Sohn Baschar, der sein Land in den Krieg trieb, weiterhin in den Händen halten.
    Der Titel ist Programm: Die Protagonisten sind verängstigt. Oder, wie es die Übersetzerin Larissa Bender in ihrem Nachwort zu dem in ein elegantes Deutsch übertragenen Roman schreibt: Die Hauptperson dieses Romans ist die Angst selbst. Die Angst war und ist so verbreitet, sie ist so konkret und allgegenwärtig, dass sie geradezu als eigene Figur erscheint. Warum er unter Pseudonym schreibe, fragt Suleima, die Ich-Erzählerin, den Schriftsteller Nassim. "Aus Angst vor Verfolgung?" fragt sie ihn. Nein, entgegnet er: "Aus Angst vor der Angst."
    Psychotherapie in einer gewaltgeprägten Gesellschaft
    Die Angst, deutet sich hier an, ist eine allgegenwärtige. Sie lähmt nicht nur den Schriftsteller, der selbst sein strengster Zensor ist. Sie lähmt die gesamte Gesellschaft. Warum, erzählt Dima Wannous ganz nebenbei. Laila, die Sprechstundenhilfe des Psychotherapeuten, bei dem Suleima sich behandeln lässt, hat einen wahnsinnig gewordenen Bruder. Wahnsinnig wurde er, weil er mit einem Mädchen zusammen war, in das sich dann auch der Sohn eines Geheimdienstabteilungschefs verliebte. Der lud sie eines Tages zu einem Ausflug ein.
    "Das Mädchen lehnte ab, denn es war mit Lailas Bruder zusammen. Eines Tages wurde Lailas Bruder auf offener Straße entführt. Eine ganze Woche lang war er spurlos verschwunden. Als er in seine Wohnung in Masaken Barzeh zurückkehrte, war er nur noch ein leerer Körper. Tagelang haben sie ihn mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehängt, so lange, bis er das letzte Körnchen Verstand verloren hat."
    In dieser gewaltgeprägten Gesellschaft lernt die Ich-Erzählerin Suleima lernt den Arzt und Schriftsteller Nassim während ihrer Psychotherapie kennen. In dieser Therapie geht es nicht um ein paar Wohlfühlproblemchen, wie man sie aus westlichen Gesellschaften kennt. Suleimas Vater ist gestorben, nach langer schwerer Krankheit. Zugesetzt, so kann man den Roman verstehen, hat ihm das lange Leben unter der Diktatur – die Brutalität und der Zynismus, mit dem die Assad-Familie das Land beherrschen.
    Das Massaker von Hama im Jahr 1982
    Nassim, der neue Bekannte von Suleima, wird mit aller Wucht in die Wirren des Aufstands von 2011 gestoßen. Genauer: Er gerät in die Hände von Assads Folterknechten. Verdächtig macht ihn der Umstand, dass er aus Homs stammt. 1982 brach in dieser Stadt ein von den Muslimbrüdern geführter Aufstand los. Die Sicherheitskräfte schlugen ihn mit aller Gewalt nieder. Mehrere Zehntausend Menschen wurden getötet, die genaue Zahl ist unbekannt. Der Aufstand wurde zum Sinnbild für die Brutalität des Assad-Regimes. Dass er, wie in dem Roman, noch 30 Jahre später dazu beitragen kann, einen Menschen verdächtig werden zu lassen, nur weil er aus Homs stammt, zeigt, wie langlebig die Erinnerung an das Massaker ist, bei der Bevölkerung genau so wie beim Regime. Die Folgen für Nassim sind verheerend: Er wird in die Geheimdienstabteilung 215 gebracht, genannt "Abteilung für Tod und Wahnsinn".
    "Dreißig Tage verbrachte Nassim dort. Zusammen mit neunzig anderen Gefangenen musste er in einer Zelle von vier mal fünf Metern stehen. Es war unmöglich, die Arme in die Höhe zu heben, so eng standen die Männer aneinandergepresst. Die Temperatur in der Zelle stieg auf über fünfzig Grad, die Ausdünstungen und die Atemluft lagen in undurchdringlichen Schichten übereinander, nicht einmal für den kleinsten Hauch frischer Luft war Platz. Die Körper zerfielen, sie bekamen Krätze, Entzündungen und eitrige Geschwüre. Dort, an jenem Ort, befiel den Menschen der Wahnsinn."
    Authentisch leben unter einer Diktatur?
    Nassim überlebt. Und er wird nicht wahnsinnig. Oder doch? Dies ist der erzählerische Kern des Buches: Suleima trifft sich mit Nassim und erzählt ihm ihre Lebensgeschichte, in vielen Einzelheiten. Diese Einzelheiten finden sich einige Zeit später in dem Manuskript eines Romans wieder, den Nassim verfasst hat, als nahezu wortwörtliche Wiedergabe von Suleimas Erzählung. Der Roman erhält so eine faszinierende Struktur: Geschichten, die der Leser bereits aus Suleimas Mund kennt, kehren nun als nahezu wortwörtlich wiederholte Fragmente wieder – als Teile von Nassims Roman oder besser: dessen, was er als seinen eigenen Roman ausgibt. Suleimas Schilderungen erhalten dadurch einen ganz anderen Charakter. Sie erscheinen in der Wiederholung nicht mehr als ein Leben aus erster, sondern aus zweiter Hand, als geborgtes, vielleicht sogar geraubtes Leben. Der Roman besteht zu großen Teilen in der Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin mit dem Zitat-Charakter, den ihre Biographie nun annimmt: Was ist authentisch, was ist inszeniert? Ist ein authentisches Leben unter einer Diktatur überhaupt möglich? Das ist eine der Kernfragen, die der Roman stellt.
    Identität aus gestohlenen Geschichten
    Klar hingegen ist: Nassim ist ein Fremder. Und er wird ein Fremder bleiben. Er hatte, stellt sich heraus, Beziehungen zu mehreren Frauen gleichzeitig, und auch deren Geschichten fanden Eingang in seinen Roman. Er selbst ist nicht mehr zu sprechen, er hat Exil gefunden - in Deutschland. Aber warum schreibt Nassim einen Roman auf Grundlage gestohlener Geschichten? Hat er kein eigenes Leben mehr, vermag er seine Vergangenheit nach den 30 Tagen Haft nicht mehr als seine eigene zu erfassen? Ist das, was man "Identität" nennt, während der Haft zerflossen, hat sich aufgelöst und bildet nicht mehr jenen Kern, um den ein Leben sich zentriert? Oder ist er einfach nur ein Dieb, ein Dieb fremder Geschichten? Es bleibt offen. Sicher ist nur: Auch Nassims aus fremden Leben zusammengesetzter Roman ist zuletzt ein Produkt jener Angst, in der Hafez und nach ihm Baschar al-Assad die Syrer seit nahezu einem halben Jahrhundert gefangen halten. Dima Wannous hat diese Angst zum Grundstoff eines ebenso beklemmenden wie erzählerisch großartigen Romans gemacht.
    Dima Wannous: "Die Verängstigten"
    Aus dem Arabischen und mit einem Nachwort versehen von Larissa Bender
    Blessing Verlag, München. 254 Seiten, 20 Euro.