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Dirk Rupnow: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik

Die Nationalsozialisten, so lautet eine verbreitete These, hätten nicht nur die totale Vernichtung der Juden geplant, sondern auch die vollkommene Auslöschung ihrer Opfer aus der Geschichte beabsichtigt. Der Historiker Dirk Rupnow widerspricht dieser Theorie in seinem neuen Buch. Er hat die Spuren der Gedächtnispolitik der Nazis verfolgt und charakterisiert diese Politik als Versuch der "Arisierung des Gedächtnisses."

Von Jochen Stöckmann | 27.06.2005
    Vor einigen Jahren arrangierte ein Neonazi seinen Auftritt mitten im Konzentrationslager Auschwitz. Er leugnete den Massenmord an den europäischen Juden an dem zur Gedächtnisstätte umgestalteten Tatort. Die provokative Inszenierung stellte jene grundlegende Annahme in Frage, wonach bereits die bloße Zurschaustellung noch der kleinsten Spur des Völkermordes Aufklärung über das angeblich "unvorstellbare" Verbrechen verheißt. Mehr noch: Allein die Erinnerung soll vergleichbare Taten verhindern. An genau einem solchen "Erinnerungsort" aber zeigte sich der Neonazi uneinsichtig, betrieb rhetorisch, was als "Gedächtnismord" dem nationalsozialistischen Terrorsystem unterstellt wird: die Auslöschung nicht nur aller Hinweise auf den Völkermord, sondern auch die Tilgung jeglicher Erinnerung an die Opfer. Denn mit dem Genozid, so die heute herrschende Meinung, sei ein Memozid oder Memorizid einhergegangen. Gegen diese kaum belegten, in einer massenmedial angefachten Konjunktur einer "Gedächtnis"- und "Erinnerungs"-Kultur aber immer wieder gern gehörten Behauptungen stellt der Historiker Dirk Rupnow nicht nur verbürgte Tatsachen, sondern auch die einleuchtende Überlegung:

    "Die Vernichtungslager wären im Falle eines deutschen Endsiegs und einer vollendeten Endlösung vielleicht nicht unkenntlich gemacht worden, sondern gerade als Orte heldenhafter Bewährung konserviert worden."

    Für die SS bedeutete das Morden keine kriminelle Tat, deren Spuren von Anfang an hätten verwischt werden müssen, sondern eine moralisch gebotene, im Sinne dieses "Schwarzen Ordens" politisch notwendige Aktion. Deshalb auch beendete Heinrich Himmler seine oft zitierte Posener Geheimrede über die massenhaften Tötungen mit der heute meist ausgeblendeten Überlegung:

    "Sie wissen nun Bescheid, und sie behalten es für sich. Man wird sich vielleicht in ganz später Zeit einmal überlegen können, ob man dem deutschen Volk etwas mehr darüber sagt."

    Damit hatte der "Reichsführer SS" eine künftige "Gedächtnispolitik" des nationalsozialistischen Regimes umrissen. Vor dem Ausland und der eigenen Bevölkerung geheim gehaltene Taten, die aber von einer antisemitischen Propaganda im Vorfeld als "weltgeschichtliche Aufgabe" zumindest angedeutet worden waren, sollten nach einem späteren Endsieg mit Gedächtnisritualen der SS gewürdigt werden. Dabei wären, wie Rupnow vermutet, Verschleierung und Dokumentation in eins gefallen – und Namensnennungen, die heute als allzu eingängige Chiffren für das unmenschliche Grauen herhalten, hätten womöglich einen guten Klang gehabt:

    "Es stellt sich zu Recht die Frage, wie viele Tagebücher und Erinnerungen mit Titeln wie Ich war in der Politischen Abteilung des KL Auschwitz oder Ich vernichtete 600.000 Feinde des Dritten Reiches oder Buchenwald - Majdanek - Mauthausen. Die Kampfetappen eines treuen SS-Mannes in einem siegreichen Deutschland erschienen wären."

    Zu den in Ansätzen realisierten "Erinnerungsprojekten" der Täter zählte das groß angelegte Jüdische Zentralmuseum in Prag. Von einer flächendeckenden "Vergessenspolitik" des NS-Regimes kann also keine Rede sein. Aber auch die von Rupnow anhand diverser Beispiele rekonstruierte "kollektive Gedächtnispolitik" folgte keinem zentralen Muster. Am Prager Beispiel allerdings kommt der Historiker zu dem Schluss:

    "Das Jüdische Zentralmuseum war nicht als eine begleitende Propagandaausstellung gedacht, um Vertreibung und Vernichtung vorzubereiten oder im Vollzug zu legitimieren, sondern war ein Museum für die Zeit danach - nach Auschwitz."

    Ähnliche Zielsetzungen verfolgte die so genannte "Judenforschung", über deren kunsträuberische Beutezüge ein Assistent am Institut für deutsche Ostarbeit 1941, mit Einsetzen der Massendeportationen, schrieb:

    "Nach der gesamteuropäischen Bereinigung der Judenfrage wird es wohl unmöglich sein, wieder in den Besitz eines solchen restlos schlagkräftigen und unsere politische Handlungsweise für alle Zeiten begründenden Materials zu kommen, wie es uns jetzt an vielen Stellen zur Verfügung steht."

    Damit zeichnete sich ab, was der emigrierte Politologe Franz Neumann bereits zu Beginn von Hitlers Herrschaft vermutet hatte: Dass im rassistisch aufgebauten NS-Staat der Feind in Gestalt des "Judentums" nie endgültig verschwinden dürfe, sondern ständig als Sündenbock bereitstehen müsse. So sollte in Prag jede nur auffindbare Spur des Judentums im Zentralmuseum eingelagert werden, zumindest als Fotografie – während außerhalb dieses totalen Gedächtnisspeichers jüdisches Leben nicht mehr existierte. Die fast schon zynisch anmutenden Konsequenzen dieser "Musealisierung" hat Hannah Arendt beschrieben:

    "Übrigens war die Sucht, an die Existenz ihrer Gegner durch spezielle Museen zu erinnern, sehr typisch für die Nazis. Während des Krieges stritten sich mehrere Dienststellen erbittert um die Ehre, antijüdische Museen und Bibliotheken zu errichten. Dieser eigenartigen Manie verdanken wir die Rettung eines großen Teils des jüdischen Kulturguts in Europa."

    Neben personeller Kontinuität der Eliten oder vielen auf den ersten Blick sichtbaren Übereinstimmungen in Design und Architektur gibt es also subtile, deshalb kaum bemerkte Überformungen und Prägungen der heutigen "Memoriallandschaft" durch Projekte der Täter, die sich damals als Sieger wähnten und aus dieser Position Geschichte schreiben wollten. Was heute als "gerettetes", buchstäblich den Klauen der Mörder entrissenes jüdisches Kulturgut präsentiert wird, ist de facto stillschweigend aus dem Nachlass des Dritten Reiches übernommen worden. Das wäre weiter nicht bedenklich, hätten die deutschen Kulturwissenschaften Hannah Arendts Verwunderung nach 1945 analytische Bemühungen zur Aufklärung und Erhellung dieser Umstände folgen lassen.

    Stattdessen aber setzte man hierzulande nach einer ritualisierten "Vergangenheitsbewältigung" auf moralisch scheinbar aufrüttelnde, tatsächlich aber sedierende, das Gewissen beruhigende und die historische Realität verschleiernde Zeitgeist-Vokabeln wie "Erinnerungsarbeit" oder "kollektives Gedächtnis", wiederholte an "Orten der Erinnerung" gebetsmühlenartig die Forderung "Nie wieder vergessen". Und hat darüber vergessen, dass Erinnerung, Gedenken und Gedächtnis nicht per se zur besseren Einsicht, zu Aufklärung oder gar Versöhnung führen, sondern durchaus politisch instrumentalisiert werden können. Es zählt eben nicht die gut gemeinte Absicht, sondern die tatsächliche Wirkung. Und die könnte, so Rupnows Fazit einer ebenso detaillierten wie aufschlussreichen Analyse, in eine Richtung laufen, die am Ende wieder einmal niemand gewollt hat:

    "Symbolisierungen und Ritualisierungen dürften unausweichlich sein. Sie bleiben aber ebenso notwendig unzureichend. Sie müssen begleitet werden von einem Blick auf das Konkrete. Die Herausforderung unserer Erinnerungskultur besteht darin, nicht noch unbewusst den Absichten der Täter, ihren Strategien und Bildern zu folgen. Affiziert bleibt sie vom Verbrechen."