Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Diskrete Dramatik

Man könnte sich vorstellen, dass die Story in Claude Simons Roman Die Straße in Flandern das Zeug zu einem Bestseller hat: Im Mai 1940 gerät der Rittmeister Reixach mit einigen Soldaten seines inzwischen aufgeriebenen Kavallerieregiments auf einer verlassenen Straße in Flandern in das Mündungsfeuer deutscher Maschinengewehre; er wird aus dem Hinterhalt getötet. Dem Dragoner George, der sich als Erzähler des Romans einführt, kommt es jedoch vor, dass der Rittmeister, der mit plötzlich erhobenem Degen im Moment des feindlichen Feuers auf sich aufmerksam macht, absichtlich in den Tod geritten ist; wohl scheint er enttäuscht, nicht bloß von der militärischen, sondern auch der persönlichen Niederlage, die er durch seine 20Jahre jüngere Frau Corinne erfuhr, die ihn demütigte und betrog.

Hans-Jürgen Schmitt | 03.12.2003
    Das Bild des niederstürzenden Rittmeisters prägt sich George so unauslöschlich ein, dass er bis in den Schluss des Romans auf das Bild des Selbstmörders zurückkommt, und den Tod des Rittmeisters sogar mit einem ähnlichen Selbstmord aus der Geschichte seiner Familie in Verbindung bringt.

    In einem Gefangenenlager in Sachsen begegnet George mit seinem Kameraden Blum Iglesias, dem früheren Jockey des Rittmeisters. Sie bewegen ihn dazu, Stück für Stück vom Leben des Rittmeisters und seiner verführerisch jungen Frau Corinne zu erzählen, mit der der Jockey seinen Herrn hinterging und die George am Ende des Krieges aufsucht, da er die Wiederverheiratete nach so vielen erotischen Schilderungen begehrt.

    Doch geht es Claude Simon auch hier,in der Straße in Flandern , nicht um die chronikalische Nacherzählung realer Ereignisse. Die einfache Handlung wird artifiziell fragmentiert, assoziativ mit Raum und Zeit überspringenden simultanen Schnitten gesprengt, bei sparsamster Interpunktion.

    Es kam über mich als hätte man mir jäh eine mich fesselnde Decke über den Kopf geworfen, plötzlich war alles völlig dunkel, vielleicht war ich tot vielleicht hatte jener Wachposten als erster und schneller geschossen, vielleicht lag ich noch immer dort im duftenden Gras des Straßengrabens in jener Erdfurche ihren schwarzen herben Humusgeruch atmend in mich einsaugend ihre Rose schleckend aber kein Rosa nichts als Schwärze in der buschigen Finsternis die mir das Gesicht leckte aber jedenfalls konnten meine Hände meine Zunge sie berühren sie erkennen mich vergewissern, meine blinden vergewisserten Hände berührten sie überall über sie über ihren Rücken ihren Bauch streichend in einem Geräusch von Seide auf dieses krause Buschwerk treffend das wie ein sonderbarer Parasit auf ihrer glatten Blöße wuchs, ich hörte nicht auf sie zu durchstreifen unter ihr kriechend im Dunklen ihren unermesslichen Leib erforschend ...

    Die Szene setzt sich fort in ihrer Verwandlungsmetaphorik vom Straßengraben, Erdfurche, Geschlecht der Frau...bis zu einem kurzen Liebesdialog mit Corinne und der fast gleichzeitigen Verwandlung, da aus dem Urgrund der Erde oder Frau tödliche Gefahr hervorquillt:

    mich einwühlen in diese fahlrote Feuchte Mach kein Licht...ich packte ihren Arm im Flug sie schmeckte nach salziger Muschel ich wollte nichts anderes kennen, nichts anderes wissen, nur schlecken ihre
    und sie: Aber du liebst mich nicht wirklich
    und ich: O Gott
    und sie: Nicht mich nicht ich bin es die du
    und ich: O nein hör zu was macht das schon...lass mich ich will dich
    feuchte Gussform aus der sie herauskamen mit der ich gelernt hatte sie zu prägen mit dem Daumen den Lehm hineinpressen all die Soldaten Infanteristen Kavalleristen die aus der Büchse der Pandora quollen (eine bewaffnete gestiefelte und behelmte Brut) und sich über die Welt verbreiten das Waffenvolk
    ...Raupen es hatte etwas Schauerliches.


    Ein signifikantes, freilich hier gekürztes Zitat, das die grandiose Erzählkunst Simons demonstriert. Es liegt ja gerade im Wesen dieses Erzählens, dass man Claude Simon fast nicht zitieren kann, weil sich seine Bilder und Szenen erst allmählich oft über viele Seiten entfalten; so hat man ihn auch etwas vereinfacht dem noveau roman zugerechnet. Dem Formalismusvorwurf entgegnete Claude Simon anlässlich der Nobelpreisverleihung 1985:

    Für mich sind Form und Inhalt ein und dasselbe. Wenn ein Romancier etwas Neues sagen will, muss er eine neue Form finden. Erfindung und Neuheit sind unerlässliche Bedingungen, wenn man überhaupt in der Literatur etwas schaffen – ich sage lieber – hervorbringen will.

    Das ist das Gegenteil von dem, was ein englischer Bestsellerautor verlauten ließ: man brauche 50 oder 100 dramatische Szenen, damit ein Roman "funktioniere". Die Romane von Claude Simon haben, wie sich ja gerade zeigte, eine unerhörte Dramatik; nicht durchs reale Abbilden von Vorgängen, sondern durch die Bewegungen der Sprache im Gleichsetzen und überspringen von Ort und Zeit der Handlung.
    Denn typisch, zumindest für Simons Erzählform ist das Fehlen dreier traditioneller Romaneigenschaften: es fehlt weitgehend die Erzählvergangenheit, die Abstand und Raum schafft, dann das Erzählen in der dritten Person, das die Sicherheit einer glaubwürdigen Fabel liefert sowie die Introspektion, die uns den Helden in allernächste psychologische Nähe rückt. Stattdessen zieht uns der vermeintliche Ich-Erzähler George gleichsam auf das Gelände des Autors hinüber, wir erfahren in seinen Erzählbewegungen die Bilder einer zerfetzten, zerstückelten Welt.


    So kann während der Schilderung eines Pferderennens, bei dem de Reixach das Feld anführt, sich das Bild unvermittelt in seine Kavallerieschwadron verwandeln oder in die vier Reiter auf der Straße nach Flandern, die mit dem hochaufgerichteten Reixach der Gefangenschaft oder dem Tod entgegenreiten.

    jetzt schossen sie wohl auch mit Mörsern oder diesen kleinen Panzerkanonen...und plötzlich aus dem Sattel gehoben als hätte ein Haken eine unsichtbare Hand ihn am Mantelkragen gepackt und langsam hochgehoben das heißt fast reglos im Vergleich zu seinem Pferd(das heißt mit der gleichen Geschwindigkeit vorbeirasend) das weitergaloppierte und ich rannte immer noch...wobei Wack sich nun genau über dem Pferd befand von dem er gerade emporgehoben hochgerissen worden war sich langsam in die Lüfte hebend mit immer noch gespreizten bogenförmigen Beinen als ritte er noch einen unsichtbaren Pegasus der ihn nach hinten ausschlagend nach vorne hätte kippen lassen also in Zeitlupe und sozusagen auf der Stelle eine Art doppelten salto mortale ausführend der ihn mir bald mit dem Kopf nach unten zeigte den Mund noch für denselben stummen Schrei geöffnet...

    Diese überaus eindringlich Todesschilderung zeigt, wie Claude Simons Sprachpräzision gleichsam wie im Kino eine Filmszene nachbildet, die durch die Form des In-Szene- Setzens tatsächlich wie in Zeitlupe den Tod eines Kameraden festhält.

    Dass Claude Simon nicht leicht zu übersetzen ist, lassen nicht bloß unsere zitierten Stellen ahnen. Doch Simon hatte in Deutschland weithin Glück mit adäquaten Übertragungen. In den sechziger Jahren begann der Piper Verlag mit drei Romanen, darunter der Straße in Flandern - von Elmar Tophoven kongenial verdeutscht. Wenn nun Eva Moldenhauer in ihrer Übersetzung am Ende dem verstorbenen Tophoven ausdrücklich dankt für dessen inspirierende Schöpfungen, so ist zu vermerken, dass auch sie eine exzellente Arbeit geliefert hat, aber – wir haben mit Spannung verglichen - keine hundertprozentige Neuübersetzung schuf. Jedoch hat sie in der Strasse in Flandern , einem der schönsten Romane Simons, die erotischen Passagen, und das sind nicht wenige, teilweise lockerer, sinnlicher übertragen, als das vielleicht in den sechziger Jahren möglich war.

    Claude Simon
    Die Strasse in Flandern
    Dumont, 333 S., EUR 22,90