Donnerstag, 25. April 2024

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Diskussion über Bundeswehr-Abzug
"In Afghanistan hungern so viele Menschen wie noch nie zuvor"

Reinhard Erös, Gründer der "Kinderhilfe für Afghanistan", setzt keine großen Hoffnungen in die Verhandlungen der NATO-Verteidigungsminister über den Abzug aus Afghanistan. Er plädiert dafür, ins Zivile zu investieren. Viele Afghanen hätten besonders im Winter große Probleme, sagte er im Dlf.

Reinhard Erös im Gespräch mit Dirk Müller | 17.02.2021
Straßenverkäufer in der Nähe von Kabul in Afghanistan
Ein Großteil der Entwicklungsgelder sei in Autobahnen statt in medizinische Versorgung investiert worden, kritisiert Reinhard Erös. (AFP/Wahkil Kosar)
Die NATO-Verteidigungsminister beraten am Donnerstag, 18. Februar darüber, ob der Afghanistan-Einsatz über den April hinaus verlängert wird. Das Mandat der Bundeswehr läuft Ende März aus. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios soll es aber noch bis Jahresende verlängert werden. Die Mandatsobergrenze bleibt demnach unangetastet. Seit dem Ende des Kampfeinsatzes gegen die Taliban Ende 2014 ist die NATO mit der Unterstützungsmission "Resolute Support" in Afghanistan. Sie dient der Beratung und Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte und umfasst derzeit 9.600 Soldaten. Zureit ist die Bundeswehr mit rund 1.100 Soldaten im Norden Afghanistans im Einsatz, möglich sind laut Mandat 1.300. Reinhard Erös Oberarzt a.D., Gründer und Betreiber der Hilfsorganisation Kinderhilfe für Afghanistan, setzt wenig Hoffnungen in die Verhandlungen. Er kritisiert ein Hinterherlaufen hinter der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik in Afghanistan.
Reinhard Erös spricht bei einer Podiumsdiskussion in ein Mikrofon
Der Arzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, Reinhard Erös. (imago / epd)

Müller: Herr Erös, ist Bleiben besser als Gehen?

Erös: Ich weiß es nicht. Aber wir haben eigentlich in Afghanistan, wenn Sie so wollen, drei Optionen. Zwei haben Sie genannt oder wurden genannt im Bericht, nämlich entweder bleiben so wie jetzt, oder ganz rausgehen. Wir haben aber noch eine dritte Option, die der Westen vor elf Jahren in Afghanistan initiiert hat, nämlich massiv aufstocken. Damals wurden, ich glaube, 70.000 oder 80.000 Mann nach Afghanistan geschickt – mit der Überzeugung damals, jetzt wird der Krieg gegen die Taliban endgültig gewonnen werden. Das Gegenteil war der Fall. – Wir haben drei Optionen und dazu noch Corona. Corona spielt in Afghanistan auch physisch eine Rolle, aber erst mal nur im übertragenen Sinne.
Die dritte Option wäre natürlich, in Afghanistan jetzt massiv, was wir die letzten Jahre, Jahrzehnte eigentlich gemacht haben, in das Zivile zu investieren, mit Geld und jetzt im Winter auch – viele Afghanen haben jetzt riesen Probleme mit der Kälte und mit Hunger, zum Teil auch wegen Corona – sich da massiv zu engagieren. Da passiert eigentlich gar nichts. Und jetzt heute die Diskussion mit den Verteidigungsministern, was man da tun soll, bringt eh kein Ergebnis, weil man erst abwarten muss, bis Präsident Biden in den USA entscheidet, was die USA machen. Im Prinzip ist es ein Hinterherlaufen, so wie die ganzen letzten Jahre oder Jahrzehnte, ein Hinterherlaufen hinter der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik in Afghanistan.

"In Afghanistan hungern so viele Menschen zurzeit wie noch nie zuvor"

Müller: Herr Erös, es gibt aber doch immer wieder Hilfskonferenzen. Es gibt immer Hilfsgelder, Millionen, hunderte von Millionen bis hin zu Milliarden. Sie sagen, das kommt nicht an in den zivilen Strukturen?

Erös: Wenn wir mehr Zeit hätten, dann würde ich Ihnen mal aufzählen, was mit dem Geld alles passiert.
Deutsche Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen am Flughafen beim Bundeswehrstandort Camp Marmal in Mazar-i-Sharif . Afghanistan . 22.08.2006
Einsatz in Afghanistan: Der verlorene Frieden
Schulen und Universitäten öffnen ihre Tore, Frauenrechte werden gestärkt. Das ist die Vision der internationalen Schutztruppe, an der sich Ende 2001 auch Deutschland beteiligt. 20 Jahre danach ist davon wenig geblieben.
Müller: Geben Sie ein, zwei Beispiele.

Erös: Sofort! – Afghanistan ist nach Transparency International das mit Abstand korrupteste Land auf der Welt – korrupt jetzt im Sinne nicht nur politisch korrupt, sondern auch finanziell korrupt. In kein Land der Welt hat der Westen in den letzten 18, 19 Jahren so viel Geld investiert wie in Afghanistan – 1.2 bis drei Billionen, den deutschen Begriff Billionen, 1300 Milliarden Dollar. Das ist der höchste Betrag seit dem Zweiten Weltkrieg, der jemals in ein Dritte-Welt-Land investiert worden ist. Und das Ergebnis ist: In Afghanistan hungern so viele Menschen zurzeit wie noch nie zuvor. In Afghanistan ist in vielen Bereichen die Infrastruktur im medizinischen Bereich, im Erziehungsbereich völlig zusammengebrochen oder wird immer schlechter. Das was man dort reingesteckt hat, landete zu einem gewissen oder einem großen Teil in den Taschen weniger hunderter, weniger tausend Millionäre, Multimillionäre, vielleicht auch Milliardäre, die mit westlichem Geld sich aus Afghanistan entfernt haben und das Geld zum Beispiel in den Emiraten Dubai, Abu Dhabi und so weiter investiert haben. Das ist uns überhaupt nicht bewusst!

Zu wenig Investitionen im medizinischen Bereich

Müller: Wissen das die Regierungen nicht? Wissen das die westlichen Regierungen nicht, die das Geld zur Verfügung stellen?

Erös: Ich gehe davon aus, dass die noch mehr wissen als ich weiß. Aber man tut einfach nichts, weil man – wie soll ich sagen – zu ungeschickt, zu faul ist, politisch faul, meine ich jetzt, um das Geld tatsächlich dort hinzubringen, wo es hin soll, nämlich in die 34 Provinzen. Das Geld ging fast immer nach Kabul in die Regierung, in die Ministerien und so weiter, in der Hoffnung oder in dem Wunsch, dass es dann dort korrekt auf das Land verteilt wird. Man hat in den ersten sechs Jahren massiv investiert in den Bau von Autobahnen. Das müssen Sie sich mal vorstellen. In einem Land, wo nicht mal zwei Prozent der Bevölkerung ein Auto hat, hat man den Großteil der Entwicklungsgelder in Autobahnen investiert, statt in Erziehung, statt in Medizin. Das sind alles solche Dinge. Aber, Herr Müller, da müsste man eine ganztägige Sendung fast machen, um die Fehler der letzten Jahre und Jahrzehnte aufzuzählen und um eine Perspektive im zivilen Bereich, wie ich Ihnen eben angedeutet habe, mal vorzustellen.

Müller: Haben Sie Politiker, Offiziere in Deutschland damit schon konfrontiert? Was haben die gesagt?

Erös: Ich muss die doch nicht konfrontieren, zumindest diejenigen, die mit offenem Auge in Afghanistan waren. Politiker lasse ich jetzt mal weg, die haben eine andere Aufgabe. Aber wenn ich mit vielen, vielen hunderten Soldaten der letzten 20 Jahre, seit ich jetzt wieder in Afghanistan bin, die auch in Afghanistan waren, spreche, wenn ich mit hunderten von Polizeibeamten, die in Afghanistan waren, die ich bis 2012 übrigens auch neun Jahre lang ausgebildet habe, wenn ich mit denen spreche oder gesprochen habe nach ihrer Rückkehr, dann verdrehen die die Augen und sagen, Du hast nicht nur recht, Erös, es ist eigentlich noch viel schlimmer, als Du das sagst. Nur die Politik ist zu feige und beim Militär sagen mir viele Soldaten auch, unsere militärische Führung, die Goldenen, sind zu feige oder was auch immer, zu karrierebewusst, um in der Öffentlichkeit vielleicht auch den Ministern, den Verteidigungsministern in dem Fall, in den vergangenen Jahren die Wahrheit erzählt zu haben. Letzter Satz von mir diesbezüglich. Vor vier Jahren sagte ein hoher deutscher General in Afghanistan in einem Interview mit einer großen deutschen Militärzeitung: "Wir, die Bundeswehr oder die Nato, kann jetzt aus Afghanistan abziehen. Wir haben unsere Ziele erreicht. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind ab jetzt perfekt in der Lage, die Sicherheit im eigenen Land selbst zu garantieren." Das sagte vor vier Jahren ein deutscher General in den deutschen Medien. Der gleiche Satz ist 20 Jahre vorher vom damaligen sowjetischen General beim Abzug der Sowjets, von General Kasumov geäußert worden, sprachlich nur ein bisschen verändert, nämlich "wir hinterlassen ein sozialistisches Afghanistan auf bestem Wege." So lief das die ganzen letzten Jahre und aus meiner Sicht haben die Medien sich dann auch viel zu wenig konzentriert, mal selber hinzugehen, selber nachzuschauen, in die Dörfer zu gehen, wo die afghanische Politik sich ja abspielt.

"Der Sold der Sicherheitskräfte in Afghanistan wird komplett vom Westen übernommen"

Müller: Herr Erös! Wir müssen bitte ein Interview führen. Das besteht aus Fragen und Antworten. Jetzt haben wir gar nicht mehr so viel Zeit. Ich habe noch ein paar Fragen. Das sind die Antworten, die fallen lange aus, wir müssen dennoch auf die Zeit achten. Sie haben mich jetzt beraten. Ich habe jetzt mal so getan, ich wäre Entscheidungsträger. Dann würde ich nach dem, was Sie jetzt gesagt haben, wenn ich zu entscheiden hätte, sagen, keinen einzigen Cent mehr nach Kabul und nach Afghanistan. Ist das richtig?

Erös: Nein, nein, nicht in dem Sinne, wie der Cent oder die Milliarden von Dollar bisher verbraten worden sind. Natürlich! Wenn wir kein Geld mehr hinschicken würden, ist ab morgen die gesamte afghanische Administration, einschließlich aller Polizeibeamter, einschließlich aller Soldaten – das sind 350.000 Sicherheitskräfte -, völlig ohne Geld. Die gesamten Löhne, Gehälter oder der Sold der Sicherheitskräfte in Afghanistan wird komplett vom Westen übernommen.
Schulterpatch der Nato-Mission Resolute Support auf der Uniform eines Bundeswehrsoldaten im Feldlager Camp Marmal
Bundeswehr in Afghanistan: "Vorgaben werden gemacht von der Politik"
Es sei ein größerer organisatorischer Aufwand, die Bundeswehr-Soldaten aus Afghanistan abziehen zu lassen, sagte Egon Ramms, Nato-General a. D..
Müller: Dann brauchen wir klare Kriterien?

Erös: Dann laufen die meisten wahrscheinlich zum Großteil zu den Taliban über. Die werden halbwegs ordentlich bezahlt, von wem auch immer. Darüber wird auch nicht gesprochen. Wer finanziert denn die Taliban? Ist das nur Pakistan? Sind es immer noch unsere westlichen Freunde, die Saudis, oder ist das teilweise auch der Iran? Auch da wird viel zu wenig von der deutschen Medienlandschaft sauber eruiert, sauber nachgeguckt, wie kommt es denn dazu, dass vielleicht 30, 40.000 Taliban-Kämpfer, wenn man so will – vielleicht sind es auch weniger -, nicht imstande sind, mit 350.000 afghanischen Sicherheitskräften auch nur halbwegs so fertig zu werden, dass diese 30.000 Taliban inzwischen fast drei Viertel des Landes politisch und militärisch beherrschen.

Präsenz der Bundeswehr im Norden spielt keine Rolle

Müller: Das hört sich an wie ein Teufelskreis. Da sehe ich jetzt immer noch keinen Lösungsansatz. Welchen haben Sie?

Erös: Herr Müller, ich bin doch nicht der liebe Gott. Ich bin auch nicht der Nato-Generalsekretär.

Müller: Aber Sie wissen vielleicht mehr als der Nato-Generalsekretär.

Erös: Das müssen sich Politiker einfallen lassen. Ich kann nur schildern, wie das ein Arzt tut, wie der Befund ist und wie eine eventuelle Diagnose ist. Über die Therapie dessen, was man tut und was man tun will, was einem Afghanistan jetzt noch wert ist. Schauen Sie, die ganzen Begründungen der ersten Jahre lauteten, wir müssen dafür sorgen, dass die Terroristen, die in Afghanistan ausgebildet sind und an der Macht waren bis 2001, dass die nicht zu uns kommen. Kein einziger Taliban war jemals im Westen und hat hier Terroraktionen durchgeführt. Das waren arabische Gruppen, El-Kaida. Jetzt ist es der Gemischtwarenladen in Afghanistan IS. Der wird überhaupt nicht erwähnt in den Medien zurzeit. Der spielt bei uns im Osten die größte Rolle im Sicherheitsbereich.

Müller: Dort, wo Sie engagiert sind?

Erös: Die engagieren sich im Bereich des Vertreibens der Menschen aus dem Osten Afghanistans nach Kabul. Dort haben wir inzwischen vier, 500.000 Flüchtlinge aus dem Osten Afghanistans. Das wird bei uns kaum erwähnt. Stattdessen geht es darum, soll man aufstocken, soll man nicht aufstocken. Die Präsenz der Bundeswehr zum Beispiel in Afghanistan im Norden – wir sind ja fast nur noch im Norden in Mazar; in Kabul sind, glaube ich, noch ein halbes Dutzend als Berater -, ob die Bundeswehr im Norden weiter präsent ist mit ihren knapp 900 Soldaten oder nicht, das ist so egal wie der Sack Reis, der da umfällt. Das spielt überhaupt keine Rolle! – Null!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.