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Diskussion um Meinungsfreiheit
Das Grundgesetz schützt nicht vor Widerworten

Dissens belebt Diskussionen - kompliziert wird es allerdings, wenn sich Meinungsgegner gegenseitig mundtot machen wollen. Wer zu dieser Methode greift, ist diskursiv überfordert – und hat mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit ein Problem.

Von Arno Orzessek | 27.10.2019
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Nur weil jemand der Meinung ist, er dürfe nichts mehr sagen, muss das nicht unbedingt stimmen (www.imago-images.de)
Eine Frage vorab: Äußern Sie jede politische Ansicht, die Sie zu Hause am Küchentisch vortragen, genauso unter Kollegen am Arbeitsplatz? Und würden Sie Ihre Küchen-Ansicht auch auf einem öffentlichen Podium vortragen?
Falls Ihre Antwort "nein" lautet, beglückwünschen wir Sie zu Ihrer kommunikativen Klugheit. Denn es kann nicht falsch sein, bei Meinungsäußerungen auf den Kontext zu achten.
Wir nehmen unseren Glückwunsch aber sofort wieder zurück, wenn Sie zugleich den pauschalen Schluss ziehen: "Man darf in Deutschland leider nicht mehr alles sagen." Denn das darf man diesseits von Beleidigungen, Anstiftung zu Straftaten, Holocaust-Leugnung et cetera sehr wohl, sofern man den Mut dazu hat.
Es muss nicht immer Konsens sein
Das Grundgesetz garantiert die Meinungsfreiheit - und es gibt keine nennenswerten Kräfte, die an dieser formalen Garantie etwas ändern wollen. Sehr wohl aber gibt es im demokratischen Alltag massive Auseinandersetzungen um das, was konkret gesagt werden darf, um Begriffe und Tonlagen, um zulässige und unzulässige Ansichten.
Und das ist abzüglich der nervigen Dauer-Skandalisierung auch gut so, selbst wenn sich der Streit selten im Konsens auflöst - was angesichts einer individualisierten 83-Millionen-Gesellschaft ohnehin unwahrscheinlich ist. In diesem Sinne hat die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouff lakonisch bemerkt: "Konsens ist das Ende der Politik."
Es kommt allerdings darauf an, dass sich die Streitenden als politische Gegner akzeptieren und nicht zu existenziellen Feinden werden. Eine Grundbedingung dafür ist, dass jeder im Rahmen dessen, was die Meinungsfreiheit garantiert, auch zu Wort kommen kann - inklusive harter Widerworte, wie sich versteht.
Die Krise beginnt folglich dort, wo die einen versuchen, die anderen generell mundtot zu machen.
Das ist noch nicht der Fall, wenn sich Demonstranten und Gegendemonstranten niederbrüllen - Demos sind der Ort dafür. Oder wenn der AfD-Chef Gauland für seine Bemerkung vom Nationalsozialismus als "Vogelschiss" der deutschen Geschichte heftig angegriffen wird.
Übrigens: Dass Gauland die Grenzen des Erlaubten nicht restlos überschritten hat, hat ihm - nach Ermittlungen - die Staatsanwaltschaft bestätigt. Worüber sich wiederum aufregen darf, wer will.
Missliebige Diskurse aushalten
Anders liegt der Fall Christian Lindner. Dass der FDP-Chef an der Uni Hamburg nicht auftreten durfte, wohl aber die Linke Wagenknecht und der Juso-Vorsitzende Kühnert, widerspricht dem Prinzip der Gleichbehandlung und Neutralität und lässt eine politische Tendenz der Uni erkennen. Lindners Beschwerden sind berechtigt, auch wenn es dem medial Dauer-Präsenten gewiss nicht an Publicity mangelt.
Bei Bernd Lucke haben sich linke Aktivisten ganz buchstäblich im Mundtot-Machen hervorgetan: Sie haben den Mitbegründer der AfD per akustischer Übermacht daran gehindert, seine Vorlesung in Ökonomie zu halten - aber bestenfalls konfuse Argumente dafür geliefert.
Wenn nun aber Aktivisten den Zugang zur Lesung von Thomas de Maizière in Göttingen blockieren - könnte man wenigstens das als freizügige Ausübung des Demonstrationsrechts rechtfertigen? Sagen wir: möglicherweise ja. Doch ob so oder so: Die Forderung, missliebige Diskurse auszuhalten, ist eine demokratische Minimal-Forderung.
Rechte nicht zu Verteidigern der Meinungsfreiheit machen
Wer stattdessen das Mundtot-Machen zur Methode erhebt, gibt zu erkennen, dass er diskursiv überfordert ist - und ein Problem mit dem Grundrecht Meinungsfreiheit hat. Deshalb muss man die drei Vorfälle nicht gleich zum "Staatsversagen" hochjazzen - wie es der Publizist Hugo Müller-Vogg im Focus getan hat.
Ein liberaler Rechtsstaat kann nie flächendeckend verhindern, dass die Grenzen der Liberalität ausgetestet oder überschritten werden - und es steht den Betroffenen frei, vor Gericht zu ziehen.
Irritierend am Verhalten linksradikaler Mundtot-Macher bleibt aber, dass sie keinen Blick für die Konsequenzen haben.
Denn wenn sie den Rechten und deren Sympathisanten gute Gründe dafür liefern, sich selbst für die Verteidiger der Meinungsfreiheit zu halten, ist das der sprichwörtliche Schuss ins eigene Knie.