Donnerstag, 18. April 2024

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Diskussionsrunde über das Lügen
Von der Freiheit, die Unwahrheit zu sagen

Psychologen haben herausgefunden, dass jeder Mensch mehrfach am Tag lügt. Unter US-Präsident Trump würden Lügen sogar belohnt, schreibt Ex-FBI-Chef James B. Comey in seinem neuen Buch. Über die Konjunkturen der Unwahrheit wurde in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften diskutiert.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.04.2018
    Ein gesprayter Schriftzug auf einer Wand: "Mal ehrlich"
    Immer ganz ehrlich? Auch die Teilnehmer der Berliner Diskussion gaben zu, gelegentlich zu lügen (imago / Chromorange)
    "Wenn ich ehrlich bin, möchte ich eigentlich niemanden zu einem wirklich guten Freund haben, der nicht zur Not auch für mich lügen würde."
    Gleich zu Beginn der Diskussion bekannte der Philosoph Wolfgang Klein, selbst Erfahrungen im Lügen zu haben. Zwar schäme er sich dafür, bereue es aber zumeist nicht. Die Lüge hat traditionell einen ziemlich schlechten Ruf. Der Kirchenlehrer Augustinus etwa befand schon in der Spätantike, dass Lügen per se unmoralisch seien. Selbst Notlügen, Höflichkeitslügen oder Lügen zur Abwendung einer Gefahr haftet der Ruf der Verlogenheit und Falschheit an. Sein Gegenüber zu täuschen, Wahrheiten zu leugnen oder Unwahrheiten zu verbreiten ist generell verpönt. Dabei ist dieser Rigorismus selbst bereits eine Verlogenheit. Denn wir alle lügen. Eltern belügen ihre Kinder nicht nur, sondern bringen ihnen das Lügen sogar bei, meint etwa der Linguist Jörg Meibauer.
    "Was meinen Sie, wie schrecklich das ist, wenn die Kinder das nicht lernen. Dann sind sie pragmatisch gestört. Und das wird behandelt. Insofern ist das ganz klar: Die Kinder müssen lügen lernen, weil Lügen eine allgemeine kognitive Fähigkeit des Menschen ist."
    Ungenauigkeiten und Übertreibungen
    Tiere können zwar täuschen, aber nicht lügen. Der Linguist Meibauer legte bei der Berliner Diskussionsrunde dar, wie Menschen sich die Sprache zum Lügen dienstbar machen, wie sie Unwahrheiten sprachlich kaschieren. Neben verallgemeinernden Ausdrücken wie "bekanntlich" oder auch "wohl" und vagen Formulierungen wie "nicht hilfreich" oder undefinierten Lobpreisungen wie "fantastisch" werden im Kontext einer Unterhaltung gerne auch Halbwahrheiten benutzt oder Informationen strategisch ausgelassen. Jörg Meibauer führte dazu empirische Versuche durch.
    "Von ihrem misstrauischen Partner gefragt, ob sie sich mit ihrem Ex getroffen habe, berichtet eine Frau wahrheitsgemäß, dass sie in der Mittagspause in der Cafeteria war, aber erwähnt ihren Ex, mit dem sie dort war, mit keinem Wort. Fünfundsechzig Prozent von 451 Teilnehmern fanden das eine Lüge."
    Lügen können nicht nur sehr unterschiedliche sprachliche und inhaltliche Formen annehmen. Auch die Auffassungen davon, was eine Lüge ist, unterscheiden sich zum Teil stark. Der empirische Philosoph Alexander Wiegmann differenziert zwischen subjektiven und objektiven Lügen. Subjektive Lügen setzen voraus, dass man wissentlich die Unwahrheit sagt. Bei objektiven Lügen kommt es nur darauf an, was faktisch gegeben ist, unabhängig davon, was man selbst für wahr oder unwahr hält. Ist es also eine Lüge, wenn man unwillentlich die Wahrheit sagt, obwohl man eigentlich lügen wollte?
    "Mit zunehmendem Alter konnten wir einen eindeutigen Trend zu einem subjektiven Lügenverständnis hin beobachten. Aus empirischer Sicht kann man sagen: Ja, Leute denken, dass man auch mit einer wahren Aussage lügen kann."
    Lügen ist kein Tatbestand
    Wiegmanns Untersuchungen zeigen zugleich, dass je nach Fragestellung auch innerhalb der gleichen Probandengruppe große Unsicherheit darüber herrscht, was letztlich als Lüge zu bezeichnen ist und was nicht. Tendenziell scheint man dem Begriff der Lüge mit zunehmendem Alter gelassener entgegenzutreten – vielleicht weil man lernt, dass ein Leben ohne Lügen weder wünschenswert noch möglich ist. Das belegte sogar der Jura-Professor Michael Soiné. Er führte aus, das der Rechtsstaat etwa zur Gewinnung von Informationen grundsätzlich leugnen, täuschen und lügen darf, ja sogar muss.
    Auch das Strafgesetzbuch kennt den Tatbestand der Lüge nicht. Es schützt zwar die Echtheit von Urkunden, nicht aber die Wahrheit. Die Diskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entpuppte sich als Podium zur Ehrenrettung der Lüge. Und tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Lüge bei allen Gefahren, die sie birgt, nicht auch ein Instrument der Freiheit ist. Wer würde schon in einer Welt der absoluten Wahrheit leben wollen?