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Doderer-Oper "Liliom" in München
Mörderischer Hallodri - aber nicht nur

Schon Giacomo Puccini wollte die Geschichte von Liliom vertonen, dem Karussell-Ausrufer, der sein Leben nicht auf die Reihe kriegt und sich dafür im Himmel verantworten muss. In der Münchner Reithalle schaffen das Theater am Gärtnerplatz und die Österreicherin Johanna Doderer mit dem Sujet einen großen Musiktheaterabend, findet unser Kritiker.

Von Michael Atzinger | 07.11.2016
    Liliom, Oper
    LILIOM, Angelika Kirchschlager (Frau Muskat), Daniel Prohaska (Liliom) und Camille Schnoor (Julie) (© Christian POGO Zach)
    In dunklen Kleidern und dunklen Anzügen stehen die Choristen auf der Bühne der Münchner Reithalle. Jahrmarktsbesucher - beobachtend, kommentierend, sich unterhaltend. Zwischendrin eine Handvoll bunt gewandeter stummer Rummelplatz-Kuriositäten. Ein zwielichtiger Ort: schon bei Ferenc Molnár – und auch in der Oper von Johanna Doderer.
    "In Wien haben wir ja diesen Prater, ich geh‘ dort auch hin. Ich bin in dieser Zeit, in der ich das geschrieben habe, öfter dorthin gegangen, um mir diese Typen anzusehen … und auch diese Ernsthaftigkeit zu erfassen, die so ein lustiger Platz wie ein Ringelspiel mit sich bringt. Denn das ist auf der einen Seite ein Ort des Vergnügens, und auf der anderen Seite todernst."
    Bewegungstechnisch exzellent geführter Chor
    Mit düster schwingenden Walzerklängen, die sich durch die ganze Oper ziehen, zwingt uns der bewegungstechnisch exzellent geführte Chor hinein in diese morbide Atmosphäre. Einladung und Bedrohung zugleich:
    Bedrohlich – so gibt sich auch der Titelheld des Stücks: ein grober, gewalttätiger Hallodri. Aber nicht nur. Tenor Daniel Prohaska verteidigt seine Figur.
    "Ich würde sicherlich auch noch, als jemand, der ihn verkörpert, in sein Innenleben hineingehen. Und da ist er durchaus verletzlich und schwach und nicht fähig, sich auszudrücken, nicht fähig, Gefühle und Zärtlichkeit zuzulassen. Vielleicht ist er deswegen auch so in die Ecke gedrängt und haut dann zu."
    Dieser Liliom fürchtet sich vor niemandem, außer vor sich selbst und seiner eigenen Brutalität. Daniel Prohaska spielt ihn als dunklen Helden von unbändiger viriler Präsenz und von linkischer Unsicherheit. Ein einziger Satz, den er seiner Geliebten Julie entgegenschleudert, sagt alles: "Hab‘ kein Mitleid mit mir, sonst geb‘ ich dir eine auf den Schädel."
    Johanna Doderer hat diesem Zerrissenen eine höchst komplexe Partie komponiert: von Sprechgesang über Falsetttöne auf dem Sterbebett bis hin zu heldentenoralem Fortissimo. Prohaska packt das alles. Von schier überwältigender Wirkung ist sein Ausbruch, als er erfährt, dass er Vater wird. Er schreit diese Nachricht in die Welt – und niemand hört sie. Nie ist Liliom einsamer als in diesem Augenblick seines vermeintlich größten Glücks. Vom Miteinander können sie nur träumen, diese verwundeten Seelen, untereinander bleibt ihnen nichts als Aggression oder stammelnde Sprachlosigkeit.
    Großartiges Ensemble
    In der Münchner Reithalle hat sich das Orchester auf der Hinterbühne formiert, es ist hinter einem Gaze-Vorhang nur zu erahnen. Das hilft den Sängern und der Wortverständlichkeit, verschluckt aber eventuell so manche kompositorische Finesse. Ein Bahndamm durchschneidet den Raum, im Zentrum steht nur eine Bank und darüber hängt der Kranz eines Karussells, eines Ringelspiels. Bei Bedarf öffnet sich links eine Wand und wird mit Tisch und zwei Stühlen zur ärmlich eingerichteten Wohnung von Liliom und Julie. Mehr braucht es nicht. Gärtnerplatz-Intendant Josef Köpplinger persönlich ist für die Regie verantwortlich und hat auch das Libretto beigesteuert: mit viel Molnar-Text, in starker, präziser Alltagssprache. Und ein großartiges Ensemble macht packendes Schauspiel mit Musik. Die Auf- und Abgänge sitzen perfekt, man reagiert mit größter Natürlichkeit aufeinander. Da werden keine Operngesten ausgepackt, da stehen Menschen auf der Bühne, Typen, Charaktere.
    Zwischen erdigem Sprechgesang und üppigem Arioso
    Auch Angelika Kirchschlager als semi-mondäne Karussellbesitzerin, souverän wandelnd zwischen erdigem Sprechgesang und üppigem Arioso, hat sichtbar und hörbar Vergnügen an der Rolle dieser Frau, die ihren Liliom an die junge Julie verliert:
    "Mich reizen starke Frauen, die sich auch in widrigen Umständen nicht unterkriegen lassen und ein großes Herz haben."
    Immer wieder kratzt die Musik an der Tür zur Atonalität – vor allem in trompetenhaft herausgestoßenen Bläsertutti und in wie tektonische Platten sich aufeinander schiebenden Klangflächen des Chors. Von herber Schönheit und gleißender Brillanz die Arien und Ensembles: Leos Janacek lässt grüßen!
    Als Liliom sich nach einem missglückten Raubüberfall aus Angst vor der Schande umbringt, lässt er seine schwangere Frau Julie zurück. Die singt ihm ein ergreifendes Sterbelied. Camille Schnoor rührt außerordentlich als Julie.
    "Ich sehe sie als ganz stark liebende Frau. Sie duldet natürlich auch, aber das ist eine Konsequenz. Sie liebt bedingungslos, und ihre Liebe geht über alles. Das ist eine Form der Liebe, die nicht wirklich greifbar und nicht erklärbar ist - und deswegen so unglaublich schön ist."
    Einfach hinnehmen, was nicht erklärbar ist – und was man sowieso nicht ändern kann. Das Staatstheater am Gärtnerplatz macht aus dieser schicksalhaften Konstellation einen großen Musiktheaterabend.