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"Dogma 95", zehn Jahre danach

Vor zehn Jahren begann die Dogma-Bewegung der dänischen Regisseure Thomas Vinterberg und Lars von Trier, vor drei Jahren schon erklärte sie ihr eigenes Ende – doch ihre ästhetische Ausstrahlung und ihr kommerzieller Erfolg haben auch in anderen Kunstformen Spuren hinterlassen.

Von Philipp Krohn | 07.08.2005
    "Es ist kurz vor sieben Uhr. Ich möchte den ersten Toast ausbringen. Das ist ja meine Pflicht als ältester Sohn, nicht wahr Helmut? Aber zuerst möchte ich etwas loswerden. Ich habe zwei Reden geschrieben, Vater. "

    Eine Schlüsselszene aus dem dänischen Film-Meisterwerk "Das Fest" von Thomas Vinterberg. Der Vater feiert seinen 60. Geburtstag. Vor versammelter Festtaggesellschaft wählt er eine der zwei Reden aus.

    "Die grüne ist eine interessante Wahl. Das bedeutet, es ist eine Art Wahrheitsrede. Sie hat eine Überschrift, die lautet: Wenn Papa badete (Gelächter)."

    Wenig später vergeht den Gästen das Lachen: Der Sohn beschuldigt seinen Vater, ihn und seine Schwester mehrfach vor dem Baden missbraucht zu haben. "Das Fest" ist der erste offizielle Dogma-Film. Die Dogma-Bewegung der dänischen Regisseure Thomas Vinterberg und Lars von Trier löste vor zehn Jahren einigen Wirbel aus. An die 50 Filme folgten den Regeln ihres Manifests – und die Bewegung blieb nicht auf Nordeuropa beschränkt, sondern erreichte sogar die USA. Die Regeln dienten einem Zweck, wie der Medienwissenschaftler Andreas Jahn-Sudmann erklärt:

    "Es ist eben klar gewesen, dass Regeln hier als Ansporn des kreativen Prozesses aufgefasst wurden, dass die Selbstbeschränkung eben kein Zwang war, der als Behinderung verstanden wurde, sondern als Befreiung. "

    Zehn Keuschheitsregeln hatten sich die Regisseure selbst gesetzt. Damit haben die Dogma-Macher eine eigene Ästhetik entworfen, sagt der Autor der ersten Monographie über die Bewegung:

    "Die manifestiert sich in erster Linie tatsächlich in dem Gewackel der Handkamera und in der rauen Bildästhetik. Und das sind eigentlich zwei Elemente, die sich dann in verschiedenen visuellen Ästhetiken des Computerspiels, des Musikclips, der Architektur, der Literatur niedergeschlagen haben. "

    Zahlreiche Manifeste folgten der Dogma-Idee in anderen Kunstbereichen. Der Filmpublizist Peter W. Jansen hat die Entwicklung im Film begrüßt.

    "Aber so absolut neu war das nicht. Wir haben seinerzeit in Cannes 1995 auch herzlich gelacht, als dieses Dogma verbreitet wurde. Denn das gab es alles schon mal viele, viele Jahre vorher im New American Cinema – also von Cassavetes zum Beispiel, der, ohne ein Dogma daraus zu machen, so gearbeitet hat. "

    Die Dogmatiker haben ihr Anliegen und ihr Zehn-Punkte-Manifest dagegen sehr ernst genommen, wie sich Jansen erinnert.

    "Damals sind sie geradezu mit dem Eifer von religiösen Eiferern aufgetreten. Lars von Trier hat sich fast zu einem Messias des neuen europäischen Kinos aufgeschwungen. Das alles war auch ein bisschen komisch, aber es hat eine Besinnung gebracht. "

    Eine Besinnung, weil die Technik nicht mehr das Erzählen bestimmte, weil der Filmkünstler keine große Mannschaft mehr brauchte. Eine Besinnung auch, weil die Regisseure darauf gesetzt hätten,…

    "...eine Geschichte ganz konzentriert möglichst auf einen Spielort zu machen wie beim Theater, mit Handkamera zu arbeiten, ohne falsches Licht, ohne dramatisches Licht, ohne eine Musik, die die Szene zudeckt – die Schwächen der ganzen Konstruktion. Also es gibt so ganz bestimmte Aspekte in diesen Dogma-Regeln, die man sehr ernst nehmen musste, aber die man auch ohne Dogma-Regeln ernst genommen hätte."

    Interessant ist die Musikregel. Sie schreibt den Regisseuren sogar vor, mit Musik zu arbeiten. Allerdings darf sie nicht nachträglich zu den Bildern eingespielt werden. In Vinterbergs Film "Das Fest" ist die Musik integriert, weil ein Klavierspieler die Geburtstagsfeier musikalisch untermalt. Das Vergewaltigungsthema kommt immer wieder hoch – und der Klavierspieler muss versuchen, die Emotionen durch sein Spiel zu beruhigen. Inzwischen vergeben Vinterberg und Trier das offizielle Dogma-Zertifikat nicht mehr. Sie haben sich neuen Projekten gewidmet. Trier hat vor zwei Jahren mit "Dogville" Aufsehen erregt. Auch wenn Dogma nach seinem Beitrag "Die Idioten" für ihn vorbei war, strebte er dessen Einfachheit auch mit diesem Film an:

    "Nach dieser Art von Einfachheit suche ich immer in den Medien. Die Einfachheit des Theaters suche ich im Film. Ich bin kein Theatergänger, aber Theater im Film: Das interessiert mich. Ich glaube es tut uns heute wieder gut, Inspiration freizusetzen. Ich bin sicher, wir können noch sehr viel anstellen mit dem Medium. Nur macht es keiner – besonders seit die Computer zum Einsatz gekommen sind. "

    Für seinen Produzenten Peter Aalbaek Jensen war es nicht leicht, der Dogma-Bewegung vor zehn Jahren zu folgen:

    "Wir haben die prinzipielle Absprache, dass Lars die Filme macht, die er machen will. Und ich führe die Firma, wie mir es gefällt. Aber natürlich weiht der eine den anderen in seine Ideen ein. Als ich das erste Mal von seiner Dogma-Bewegung gehört habe, habe ich gedacht: oh nein, nein, nein, nein. "

    Gerade hatte sich seine Produktionsfirma Zentropa teure Gerätschaften zugelegt – und dann zwang das Dogma, darauf zu verzichten. Inzwischen gesteht Aalbaek Jensen aber ein, dass Dogma kommerziell ein Riesenerfolg war. Viele Filmemacher betonen, dass es auch künstlerisch wertvolle Impulse gesetzt hat: Steven Soderbergh nannte seinen oscargekrönten Film "Traffic" seinen Dogma-Film, der Deutsche Hans Weingartner hat nach "Das Fest" erst den Mut gehabt, sich an sein Spielfilm-Debüt "Das Weiße Rauschen" heranzuwagen. Und der Dokumentarfilmer Andres Veiel sagt, dass sich der Dogma-Film in positiver Weise dem Dokumentarfilm angenähert hat:

    "Durch diese Spontaneität und Lebendigkeit der Schauspieler erzähle ich jetzt nicht nur eine behauptete Geschichte, sondern sie kriegt eine unglaubliche Kraft des Spontanen, des Momentanen. Und damit sind wir ja wieder bei dieser Grenzlinie zum Dokumentarischen. das heißt, wenn die Schauspieler sich so freispielen, dass sie ihre Rolle nicht mehr vor sich hertragen, wo sie vielleicht auch Teile von sich selbst mit hereinbringen. Also das habe ich natürlich, wenn ich beim Dokumentarfilm arbeite, die dann bei sich selbst ankommen. Da habe ich das schon oft gesehen. Und hier kommen manche Dogma-Filme dem wiederum sehr nahe."

    Der systematische Einsatz der Handkamera hat die Filmarbeit flexibler gemacht – und auch die Größe der Produktionsteams:

    "Die Unfreiheit kommt ja durch den Apparat, das heißt der Apparat fordert einfach einen Tribut. Mit dem Apparat meine ich die großen Beleuchtungseinheiten. Wenn man die einsetzt, dann heißt es einfach, dass man von einem bestimmten Winkel nur filmen kann. Also muss ich den Schauspielern vorschreiben: hier ist die Marke, bis da und da dürft ihr gehen. Also die Unbeweglichkeit, die ja auch Kreativität killt, weil ich vorher alles entscheiden muss – und wenn ich in einen Raum komme und dann plötzlich feststelle, es ist anders besser, weil die Schauspieler einen anderen Vorschlag machen, dann geht das eben nicht mehr."

    Vor zehn Jahren begann die Dogma-Bewegung, vor drei Jahren schon erklärte sie ihr eigenes Ende – doch ihre ästhetische Ausstrahlung und ihr kommerzieller Erfolg haben Spuren hinterlassen. So kommt der Dogma-Experte Andreas Jahn-Sudmann zu einem ambivalenten Fazit:

    "Ich würde schon sagen, dass man Dogma in gewisser Weise auch als Rettungsaktion für das europäische Kino auffassen kann – durchaus auch und in erster Linie in ökonomischer Hinsicht, aber auch im Sinne einer scheinbaren Erneuerungsbewegung. Dennoch ist es ja relativ evident, dass Dogma keine tatsächliche Avantgarde war, weil an dem Projekt Dogma auch nichts Neues war. "