"Doktor Schiwago"

Gefühliges Epos der russischen Seele

Yuri Schiwago (Omar Sharif) nimmt in dem Film "Doktor Schiwago" von 1965 Lara Antipova (Julie Christie) in den Arm.
Yuri Schiwago (Omar Sharif) nimmt in dem Film "Doktor Schiwago" von 1965 Lara Antipova (Julie Christie) in den Arm. © dpa / Kultur
Von Katja Nicodemus · 22.12.2015
Kein Regisseur steht so eindeutig für opulentes, aufwändiges Kino wie der Brite David Lean. Heute vor 50 Jahren wurde sein Film "Doktor Schiwago" nach dem Roman von Boris Pasternak uraufgeführt. Omar Sharif spielte die Titelrolle.
Ein Film muss schon sehr an die stumme Kraft der Liebe glauben, wenn die ersten Worte zwischen dem Paar, von dem erzählt wird, erst nach eineinviertel Stunden fallen.
Lara und Juri. Eine Krankenschwester und ein Arzt. Julie Christie und Omar Sharif.
- "Sind Sie Krankenschwester?"
- "Ja."
- "Können Sie arbeiten?"
- "Ja."
- "Dann helfen Sie mir."
Die Liebe im Melodram, das ist immer ein Kampf gegen die Widerstände des Lebens, gegen die Hürden von Klassen, Generationen, Zeitläufen, Schicksalen. In David Leans Film "Doktor Schiwago" sind es die Wirren der russischen Revolution und des darauf folgenden Bürgerkrieges, die Lara und Juri trennen, zusammenbringen – und wieder auseinanderreißen. Selbst die kurze gemeinsam verbrachte Zeit steht im Zeichen des Ungewissen, der ständigen Bedrohung.
- "Ist auch deine Frau hier?"
- "Ja, wir alle."
- "Sascha?"
- "Natürlich."
- "Was sollen wir nur machen?"
- "Ich weiß es nicht."
Juri ist mit der Aristokratin Tonya verheiratet und Lara mit dem Revolutionär Pascha Antipow. Die leidenschaftliche Liebe zweier Menschen, die gebunden sind und sich doch bedingungslos nach dem einen anderen sehnen, wird in der Pasternak-Verfilmung vor dem Hintergrund einer sich neu formierenden Gesellschaft erzählt. Einer Gesellschaft, in der der Einzelne in der Masse aufgeht. Oder aufgehen soll:
- "Sag mal, dieser Lenin, wird der etwa unser neuer Zar werden?"
- "Hör zu, Väterchen, jetzt ist Schluss mit den Zaren, Schluss für immer mit allen Herrschern. Es wird nur noch Arbeiter in einem Arbeiterstaat geben. Na, was sagst du dazu?"
In "Doktor Schiwago" verbünden sich die Mittel des Kinos mit dem Paar gegen die Fliehkräfte der Geschichte. Da ist die Kamera, die oft den lyrischen Blick auf Details sucht: eine Blume, ein weißes Laken, eine Birke vor dem Fenster. Da ist die wunderbar kitschige Musik von Maurice Jarre, die uns immer wieder auf das Erscheinen von Lara alias Julie Christie vorbereitet, sei es im Bild oder in den Gedanken ihres Geliebten.
"Doktor Schiwago", uraufgeführt am 22. Dezember 1965, ist nicht nur ein Melodram über eine unmögliche Liebe. Dieser Film ist auch ein Triumph des Kinos und seiner Suggestionskraft über reale Widrigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten. Hier spielt der Engländer Sir Alec Guinness einen bolschewistischen General und der Ägypter Omar Sharif, der kurz zuvor in "Lawrence of Arabia" als arabischer Stammesführer zum Weltstar wurde, einen russischen Arzt und Lyriker. Sharif zu besetzen, ist die Idee des Regisseurs David Lean:
"Die 64.000 Dollar-Frage war natürlich: Wer spielt Schiwago? Schiwago ist eine sehr passive Rolle, ein Dichter und Doktor. Hätte ich ihn zu naheliegend besetzt, wäre es langweilig geworden. Mir ging es eher um das blendende Aussehen. Daher kam ich auf Omar, der in 'Lawrence von Arabien' als Sheikh aus der Fata Morgana aufgetaucht war. Und ich war mir sicher, aus ihm den russischen Poeten machen zu können."
Billige Arbeitskräfte und Statisten
Auch die Dreharbeiten von "Doktor Schiwago" sind eine einzige Überwindung von Widerständen. Die riesige Crew zieht nach Spanien – wegen der billigen Arbeitskräfte und Statisten. Hier verwandelt sich der spanische Hochsommer mit einem illusionären Kraftakt in den russischen Winter. Ein ganzer Marmorsteinbruch wird gekauft, der Stein zu weißem Pulver gemahlen und auf einer verdorrten Ebene verteilt. Aufnahmen zeigen den Regisseur David Lean, der die weiß bestäubten Statistenmassen im stets gebügelten Hemd wie ein General befehligt. Der Hauptdarsteller Omar Sharif beschreibt ihn mit der ihm eigenen verschmitzten Ehrlichkeit:
"Es ist sehr einfach, David zu hassen und sehr schwer, ihn zu mögen. Er ist ein sehr harter und sehr egoistischer Mensch, der mit niemandem Mitleid hat, auch nicht mit sich selbst. Was sehr selten ist. Alle, die sich auf dem Set befinden und am Film mitarbeiten, betrachtet er als Objekte."
Das ist vielleicht der schönste Widerspruch von "Doktor Schiwago": Dass eines der melodramatischsten Melodramen der Filmgeschichte, dass dieses große, gefühlige Epos über die russische Seele unter der Regie eines mitleidlosen britischen Egomanen entstanden ist.
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