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Dokument eines Scheiterns

Die Protagonistin von Antonia Baums Roman zieht zu Patrick und verliebt sich in Jo. Sie wird reduziert auf das, was diese Männer von ihr erwarten: verfügbar zu sein, sexuell kompetent, zurechtgestutzt: vollkommen leblos, bestenfalls tot, so wie auch der Buchtitel lautet.

Von Detlef Grumbach | 31.10.2011
    "Diese Protagonistin hat einfach so viel zu sortieren, dass dieses 'ich denke' einfach ein strukturierendes Element ist. Die muss einfach mit dem, was auf die einströmt – die muss das einordnen und sortieren. Und dafür nimmt sie dieses 'ich denke'. Es ist ein großer Versuch, der Wirklichkeit, wie sie sich ihr bietet, Herr zu werden. Und natürlich schafft sie es nicht. Aber sie versucht es die ganze Zeit."

    Eine junge Frau ist am Ende. Die moderne Patchworkfamilie, in der sie aufgewachsen ist, gibt ihr keinen Halt, keine Zukunft. Mit Vater Götz will sie reden, doch das klappt nicht, weil seine neue Frau Astrid dazwischen steht. Mit Mutter Carmen kann sie nicht reden und tut es am Ende trotzdem. Die Welt steht ihr offen – das ist die Botschaft, die sie allerorten erhält. Aber will diese Welt sie überhaupt? Wo ist ihr Platz im Leben? Wo findet sie Liebe? Zu Beginn sitzt sie in ihrem Zimmer zu Hause unterm Dach und macht Hausaufgaben, während unten Götz und Astrid streiten. Ihre Eltern hätten sich nie kennenlernen dürfen, denkt sie, dann wäre sie nicht auf der Welt. Das letzte der sieben Kapitel beschreibt den Weg zum Hochhaus, von dem sie sich stürzen will. Dazwischen liegen die inneren Katastrophen in einer äußerlich heilen Welt, der Aufbruch in ein besseres Leben, zwei Beziehungen und eine Abtreibung:

    "Und es läuft alles auf dieses Ende hinaus, und dazugehört: Am Anfang ist sie in dem Familiengefängnis, danach ist sie in ihrem Patrickgefängnis, danach ist sie in dem Arbeitsgefängnis, danach ist sie in dem Beziehungs-Schwangerschaftsgefängnis und am Ende ist sie in ihrem Kopfgefängnis – und da wird eben hauptsächlich gedacht. Das ist totale Verzweiflung, Angst und Panik. Die denkt, sie stirbt andauernd und denkt dagegen an, oder redet, ich weiß nicht, mir kommt die vor wie ein gehetztes Tier, das irgendetwas versucht zu machen dagegen, aber das geht leider nicht so richtig, und deswegen immer dieses zwanghafte Denken."

    Der Einsatz literarischer Mittel, die an Thomas Bernhard erinnern, auch dieses ständige "ich denke", ist der Jury des Bachmannpreises auf die Nerven gegangen, als die 1984 geborene Antonia Baum in Klagenfurt einen Auszug aus dem Roman gelesen hat. Dabei scheinen die Mittel gezielt eingesetzt, vermittelt der gesamte Text ein sehr komplexes Bild. Die äußere Handlung ist stark reduziert. Die Erzählerin sieht nur "Mitmenschen-Katastrophen", "Ehefrauen-Katastrophen", "Ehe-Höllen". Setzt sich ein Bild erst einmal fest, überlagert es die Wahrnehmung, wird es zum bestimmenden Motiv. Das Leben der Eltern läuft ab wie "ferngesteuert", folgt Strukturen und Gesetzen, die kein Entrinnen zulassen, und irgendwann sieht sie sich selbst nur noch als "ferngesteuerte Ameise". Die Lebenslügen der Eltern werden mit "Unterhaltungskleister" und "Einrichtungssirup" zugedeckt. Es gibt keinen Platz für Ehrlichkeit. So kann man das Buch der 27-jährigen Debütantin auch als Abrechnung mit einem Lebensmodell lesen, das in der bildungsbürgerlichen Mittelschicht hoch in Kurs steht, das hier aber nur noch Fassade ist, nicht hält, was es verspricht. Antonia Baum bringt ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das keine äußere Bedrohung kennt. An ihre Stelle treten die Macht saturierter Verhältnisse, beinahe unbegrenzter Möglichkeiten, einer "Zukunfts-Besessenheit", einer "Zukunfts-Krankheit", "wo doch hier", so denkt sie, "gar nichts Zukunft ist.".

    "Das Selbst liegt vor einem auf dem Teller und man muss daraus etwas ganz Tolles machen. Auf jeder Ebene kriegt man suggeriert, dass man die Verantwortung dafür trägt. Also die Aufgabe ist: Werde etwas. Aber dass dadurch gleichzeitig ein ungeheurer Druck entsteht, der noch mal potenziert wird, wenn man sich überlegt, dass diese Anforderungen, die an einen herangetragen werden, ja auch teilweise so wahnsinnig widersprüchlich sind, dass man dann einfach verrückt wird im Kopf und letztlich bewegungsunfähig, so wie Panikstarre, Angststarre, das ist die Konsequenz daraus und ich finde das sehr verständlich."

    Die Erzählerin bricht auf und zieht in die Großstadt, will etwas aus ihrem Leben machen. Sie zieht zu Patrick, der sie stets "Süße" nennt, verliebt sich in Jo, für den sie "mein Hasi" ist. Sie wird reduziert auf das, was diese Männer von ihr erwarten: verfügbar zu sein, denkt sie, eine Art Dekor, sexuell kompetent, zurechtgestutzt: "vollkommen leblos, bestenfalls tot", so wie der Titel dieser Romans lautet und so, wie sie auch andere Frauen erlebt. Sie haben sich in eine gewisse Gemütlichkeit zurückgezogen, orientieren sich – sehr doppeldeutig – am "Männerschritt" und leben ihr das Scheitern ihres eigenen Aufbruchs vor. Sie erinnern an die Diagnose der ehemaligen Taz-Chefredakteurin Bascha Mika über "Die Feigheit der Frauen". All das wird aber nicht erzählt, ist nicht Teil einer Handlung souveräner Subjekte. Alles ist Sprache, kraftvolle, verzweifelte, mitreißende Rhetorik, die sich zu einer eigenen, übermächtigen Wahrheit verdichtet. Aus dem "ich denke" wird immer wieder ein "ich dachte", dann sieht die Heldin sich in ihrer Fantasie plötzlich als handelnde Figur: In einer Szene im Zentrum des Buchs massakriert sie Patrick buchstäblich, wacht am aber nächsten Morgen neben ihm auf. Erinnerungen, Gedanken und Fantasien überlagern sich, werden gleichsam an der Innenwand des Schädels reflektiert und verstärken sich unter dem Eindruck, dass sich draußen nichts verändert. Es führt sogar dazu, dass die Protagonistin beinah das akzeptiert, was ihr Leben eigentlich zerstört.

    "Das ist ihre Entwicklung, würde ich sagen, dass sie am Ende sagt: Ja, ich habe immer von meinem Eltern gedacht, ich verstehe nicht, wie ihr so schrecklich miteinander umgehen könnt und euer Leben so komplett versaut haben könnt. Aber am Ende sagt sie: Ich verstehe es. Vielleicht ist das Demut."

    Darin liegt die Provokation dieses Textes. Den äußeren Verhältnissen erliegen und im Inneren leiden – so etwas gab es schon einmal vor gut dreißig Jahren im Rahmen der neuen Innerlichkeit, als Reflex auf eine Literatur, die sich der gesellschaftlichen Emanzipation verschrieben hatte. Heute greift die junge Autorin gerade jene Verhältnisse an, die aus den Auseinandersetzungen damals geworden sind, ihre Sprache ist aber nicht die des Leidens und des Rückzugs, sondern aggressiv.

    "Man kann doch so viel verstehen, also rational nachvollzogen haben, und alle Wege schon gegangen sein, verstanden haben, warum sind meine Eltern Scheiße, warum bin ich deswegen möglicherweise soundso, das kann man alles schon gemacht haben in seinem Kopf, aber es gibt eben auch äußere Zwänge, warum alles so ist, wie es ist. Und zu denken, was einem ja auch suggeriert wird, man könne sein Leben machen, es läge völlig in der eigenen Hand, das stimmt eben nicht. So bricht sie ja auf. Mit dem Gedanken, ich habe mein Leben in der Hand und ich werde es nach meinen Vorstellungen gestalten können. Aber so ist eben ganz häufig nicht."

    Vielleicht war es nicht nur Stilkritik, die Antonia Baum in Klagenfurt hat scheitern lassen. Vielleicht hat sich die Jury auch innerlich gegen das Lebensgefühl gewehrt, das ihr aus diesem Text entgegengeschlagen ist, das sich aber auch in Texten anderer junger Autoren findet: Als Beispiel sei hier nur Gregor Grochols Debüt "Blender" genannt. Antonia Baum zumindest hat sich im Angesicht der Jury in einer Situation gesehen, die der ihrer Protagonistin ziemlich ähnlich war:

    "Man ist in einem Gefängnis, wie auch die Protagonistin in jedem dieser sieben Abschnitte in einem Gefängnis ist, in einem inneren Gefängnis, bedingt durch die äußeren Umstände. Ich wäre gerne aufgestanden und zu den Leuten hingegangen und hätte ihnen gerne in die Augen geguckt. Ich hab aber auch gedacht, na ja, das ist ja normal, in Klagenfurt wird man auseinandergenommen, damit musst du einfach rechnen. Ich hab gedacht, dass es eben ihr Beruf ist, dass sie das so machen müssen und dass ich jetzt nicht so verletzt sein soll und so enttäuscht. Ich war aber verletzt und enttäuscht."

    "Erst war es die Stadt, die mich verschluckt hat, dann war es Jo, dann kam die Wohnung", so heißt es am Ende des Romans, "und schließlich war ich es selber, die mich geschluckt hat, die mich gefressen hat." Neue Strategien einer Emanzipation werden hier nicht entwickelt. Der Roman ist eher ein eindrucksvolle Dokument eines Scheiterns, des verzweifelten Versuchs der Heldin, nicht ganz aus der Welt zu fallen.

    "Deswegen macht die ja auch so viel die ganze Zeit in ihrem Kopf, damit irgendetwas da ist von ihr. Deswegen denkt sie und denkt sie und denkt sie. Um da zu sein und weil das ja die ganze Zeit zu verschwimmen droht. Deswegen schneidet die sich ja am Ende auch die Haut auf, damit sie ihre merkt. Ich kenne einfach und sehe einfach ganz viele junge Frauen, die solche Art von Problemen haben. Die magersüchtig sind, die sich irgendwie aufschneiden, die irgendwie immer in irgendein ein Extrem fallen, um zu merken, dass sie halt da sind."

    Antonia Baum: "Vollkommen leblos, bestenfalls tot". Roman, Hoffmann & Campe, 239 Seiten, EUR 19,99