Freitag, 19. April 2024

Archiv

Dokumentarfilm
Wie Menschen verrohen

Am Beispiel der Massaker deutscher Einsatzgruppen an Juden in Osteuropa ab 1941 versucht der Regisseur Stefan Ruzowitzky "Das radikal Böse" zu ergründen. In seinem gleichnamigen Dokumentarfilm geht er anhand von Interviews, Dokumenten und Spielszenen der Frage nach: Wie konnte es dazu kommen?

Von Christoph Schmitz | 12.01.2014
    Blick von oben auf eine Filmszene, in der zwei Personen eine dritte mit Stromschlägen quälen
    Stromschlag-Szene aus "Das radikal Böse" (Picture Alliance / DPA / W-Film)
    Das, was nicht hätte passieren dürfen, womit man sich nicht versöhnen kann, woran man nicht schweigend vorübergehen darf – das ist das radikal Böse. So hat es die politische Theoretikerin Hannah Arendt formuliert. Und dem radikal Bösen will der Regisseur Stefan Ruzowitzky in seinem Dokumentarfilm auf die Spur kommen, und zwar am Beispiel der deutschen Einsatzgruppen in Osteuropa ab 1941.
    Rund zwei Millionen jüdische Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, haben deutschen Soldaten und Polizisten hinter der Ostfront erschossen, Dorf für Dorf, Stadt für Stadt, in zahllosen Massakern, bevor das industrielle Morden in den Gaskammern der Konzentrationslager ihre Arbeit übernahm.
    Ruzowitzky unterlegt Spielszenen mit Zitaten aus Briefen und Tagebüchern
    Stefan Ruzowitzky dokumentiert und analysiert die fortschreitende Enthemmung chronologisch. Zivilisten, junge Männer von heute, hat er dazu in Wehrmachtsuniformen gesteckt. Er lässt sie antreten und auf ihren Einsatz warten. Die Kamera schaut ihnen in die Gesichter, fängt ihr Lächeln ein, ihre Nachdenklichkeit, ihre Unbekümmertheit, sie zeigt uns diese Menschen als normale, harmlose Heutige, wie die Soldaten auch damals Durchschnittsbürger waren. Diese fiktiven Szenen sehen wir immer wieder, auch wenn es in den Wald zu den Erschießungen geht und bei Ruhe und Besäufnis nach dem Morden.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der österreichische Regisseur Stefan Ruzowitzky (Picture Alliance / DPA / Herbert Neubauer)
    Die Tat selbst kommt nicht ins Bild, nur die Kaltblütigkeit der Mienen danach, der Schweiß des Entsetzens, die Scham, die Verzweiflung. Unterlegt hat Ruzowitzky die Spielszenen mit Zitaten aus Briefen, Tagebüchern und Protokollen der Akteure von einst, gesprochen aus dem Off.
    Rechtfertigungs- und Verdrängungsmechanismen
    Wie Menschen verrohen, wie die Skrupellosigkeit eskaliert, wie Rechtfertigungs- und Verdrängungsmechanismen greifen bei Männern, denen die böse Tat nicht in die Wiege gelegt wurde, schildert Ruzowitzkys Film auf eindrückliche und plausible Weise. Vor allem dadurch, dass er zwischen den Spielszenen eine erlesene Runde von Historikern und Gewaltforschern zu Wort kommen lässt: den Chefankläger beim Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess Benjamin Ferencz etwa, den Holocaust-Historiker Christopher Browning, außerdem Psychologen und Psychiater wie Robert Jay Lifton, der Voraussetzungen und Dynamik der Gewalt in Kriegen und vor allem des Völkermords der Nazis untersucht hat.
    Sie alle kommentieren den Ablauf der Ereignisse und beziehen sich zudem auf eine Reihe psychologischer Experimente, die im Verlauf des Films mit historischen Aufnahmen vorgestellt werden. Wie das Milgram-Experiment, bei dem Testpersonen andere Testpersonen, die in Wirklichkeit Schauspieler sind, mit vermeintlichen Stromstößen hemmungslos traktieren. Die Schmerzen und das Leid der jüdischen Opfer von einst dokumentiert der Film mit teils bekanntem Archivmaterial.
    Faktoren der Brutalisierung
    Der Film "Das radikal Böse" ruft noch einmal in kompakter Form die ideologischen, sozialen und psychologischen Faktoren der Brutalisierung in Erinnerung, in der Nazi-Zeit und zu jeder Zeit. Er zeigt das radikal Böse als Problem des Menschen schlechthin. Am Schluss macht er deutlich, dass eine Erklärung des Genozids die Täter nicht entschuldet. Verantwortung und moralische Schuld bleiben, auch wenn der Täter am Ende einer langen Befehlskette agiert.
    Stefan Ruzowitzkys Dokumentation ist formal sicherlich keine innovative Arbeit. Ihre Stärke liegt vor allem darin, wie sie zeigt, dass die Holocaust- und Gewaltforschung nicht nur die Historie beleuchten, sondern Einsichten vermitteln, wie Massenmorde heute und in Zukunft verhindert oder vereitelt werden können.