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Dokumentarische Väterblicke

Zwei Filmemacher suchen die direkte Konfrontation mit ihren problematischen Vätern. Der eine verließ seine Familie scheinbar unter einer Amnesie leidend, der andere missbrauchte seinen Sohn jahrelang. Das Zusammentreffen der Söhne mit ihren Vätern ist in beiden Filmen ein Erlebnis - wahr und echt.

Von Josef Schnelle | 27.05.2010
    "Wenn dein Vater sich nicht mehr an dich erinnern kann, ist er dann nicht mehr dein Vater."

    Diese Frage stellt Rick Minnich in seinem Dokumentarfilm "Looking for Dad". Nach einem Autounfall 1990 konnte sich sein Vater Richard Minnich nicht mehr an sein früheres Leben erinnern. Diagnose Amnesie. Richard verließ seine Familie und begann ein anderes Leben als "Neuer Richard" mit neuer Frau, neuem Kind und neuen Lebensumständen. Zusammen mit seinem Kollaborator Matthew Sweetwood machte sich Minnich auf die Suche nach seinem Vater, seinen Erinnerungen und nach allen Rätseln, die die Geschichte beinhaltet. Mit einer Kamera im Gepäck. Und er hat aus den Recherchen einen essayistischen Dokumentarfilm gemacht, in dem er einen schweigenden, abwesenden Vater zum Sprechen bringt. Minnich hat an der Filmhochschule von Babelsberg studiert und lebt in Deutschland, weswegen er seinen Film auch in Deutsch mit amerikanischem Akzent kommentieren kann.

    Familienfilme auf Super-8, glückliche Erinnerungen an glückliche Zeiten, dazu schwierige Interviews mit dem "Neuen Richard" und mit den anderen Familienmitgliedern begleiten uns auf diese sehr persönliche aber universelle Reise in die Familiengeschichte. Hat Richard wirklich alles vergessen, oder das Vergessen nur vorgetäuscht, um sein altes Leben hinter sich zu lassen? Regisseur Rick Minnich schafft es mühelos, seinen Film universell interessant zu machen - engagiert, betroffen und bereit zur Reflexion. Man schaut diesem Versuch, den abwesenden Vater in sein Leben zurückzuholen, mit wachsender Faszination zu. Dabei wird der Film nie sentimental, nutzt vielmehr den persönlichen Zugang zum Thema zu überzeugenden Einsichten und poetischen Verdichtungen. Was ist eigentlich ein Vater wert, was fehlt ohne ihn, fragt er, und beantwortet die Frage gleich mit der größtmöglichen Konsequenz. Man braucht ihn - den Vater - einfach, um erwachsen werden zu können, wobei unerheblich ist, ob der Vater seine vorgegebene Rolle ausfüllen kann oder nicht.

    Richard Minnich hat wahrscheinlich konsequent gelogen, um einem Leben zu entkommen und es gegen ein anderes einzutauschen. Mit seiner vollständigen Abwesenheit aus dem Leben seines Sohnes hat er sich aber schuldig gemacht. Das spürt man ständig und mit steigender Intensität in diesem Dokumentarfilm, der der Spannungskurve eines Enthüllungskrimis folgt.

    Noch einen Schritt weiter geht Michael Stock in seinem ebenso persönlichen aber direkteren Film "Postcard to Daddy". Auch Stocks Vater ist abwesend. Aber zwischen seinem achten und seinem 16. Lebensjahr hat er ihn sexuell missbraucht. Auch Stock ist Filmemacher geworden. Fiktive Dramatisierungsversuche seiner Lebensgeschichte misslangen, vor allem weil Stock nicht nach einfachen Auflösungen suchte. Er geht ihm nicht um das Monster, das seine Jugend zerstört hat, sondern um Versöhnung und ein neues Leben. Stock ist heute HIV positiv. Das Trauma seines Missbrauchs hat sein ganzes Leben bestimmt. Sein schwuler Lebenspartner hat sich umgebracht. Er erfährt, dass auch sein Vater genau wie er gerade einen Schlaganfall erlitten hat. Schwer ist es vor allem, seine Familie von dem Projekt zu überzeugen. Seine Mutter ist die Retterin aus dem Elend der traumatischen Jugend gewesen. Die Lösung des Familiendramas sieht Stock jedoch allein in der endgültigen Konfrontation mit seinem Vater. So wird die geplante Erholungsreise von der Krankheit zum Instrument der Vergangenheitsbewältigung.

    Mit ihren unterschiedlichen Methoden machen beide Filme klar, wie sehr sich unsere Gesellschaft noch an die Väter klammert, auch wenn sie längst verschwunden oder dysfunktional sind und im System von Schuld und Sühne ihre Rolle nicht mehr finden. Die Söhne jedoch geben Anlass zur Hoffnung. Sie suchen nicht einfach wie in einer archaischen Geschichte aus dem alten Testament nach gnadenlosen moralischen Lösungen, sondern sind bis zur Selbstverleugnung bereit - zu vergeben. Die großen Momente beider Filme liegen deshalb in der direkten Konfrontation mit den Vätern. Die lassen den Betrachter zwar schaudern. Doch sie sind so wahr und echt, wie kaum andere Kinoerlebnisse.

    Minnich betrachtet in "Forgetting Dad" seinen - wahrscheinlich - lügnerischen Vater im milden Licht der Lebenserfahrung als schicksalhaft verstrickten notorischen Sünder. Michael Stock sitzt in "Postcard to Daddy" dann endlich seinem Vater gegenüber, der nicht einmal begreift, dass er ein Verbrechen begangen hat. Den reinigenden Effekt des miteinander Sprechens - dagegen hilft keine Lüge der Welt - kann man trotzdem spüren.