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Dokumentarprosa über ein schwieriges Verhältnis

Aus den zwölf Reportagen der "Nacht von Wildenhagen" ergibt sich ein hoch spannendes Panorama deutsch-polnischer Befindlichkeiten. Dabei bewältigt Wlodzimierz Nowak auch die großen Themen ohne Pathos. Das Anrührende und Komische liegt bei ihm eng beieinander.

von Martin Sander | 19.11.2009
    Das Genre der literarischen Reportage genießt in Polen traditionell große Beliebtheit. Die Wurzeln dafür liegen nicht zuletzt in der Zensurpolitik der kommunistischen Ära. In dokumentarischer Prosa ließen sich damals leichter gesellschaftliche Missstände, soziale Gegensätze oder historische Tabus behandeln als in journalistischen Berichten, die auf handfesten Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen beruhten. Es waren vor allem Autoren wie Hanna Krall oder Ryszard Kapuściński, welche die vielfältigen Formen der Dokumentarprosa seit den 1970er-Jahren aufblühen ließen und damit alsbald internationalen Ruhm erwarben.

    Nach der Wende wurde das Genre weiter sorgsam gepflegt. In der linksliberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" entstand eine regelrechte Schule der Reportage für jüngere Autoren. Aus ihr ist auch der 1958 geborene und in Posen lebende Włodzimierz Nowak hervorgegangen, ein bereits vielfach ausgezeichneter und beim polnischen Publikum überaus beliebter Reportageschriftsteller. Mit der "Nacht von Wildenhagen" liegt zum ersten Mal eine Auswahl seiner Reportagen auf Deutsch vor.

    "Das Problem ist, dass auf Autorentreffen in Polen eigentlich nicht gelesen wird. Der Autor kommt, erzählt und antwortet auf Fragen. Aber dieses Buch wurde in Polen viel gelesen. Die Leute lachen über 'Wanda, die den Deutschen nicht wollte', und bei anderen Reportagetexten weinen sie. Ich denke, das liegt an meinem Stil. Jedenfalls wäre ich sehr zufrieden, wenn es wirklich so wäre und sich dieser Stil von dem anderer Reporter unterscheiden würde."

    Wanda, die den Deutschen nicht wollte:
    Das muss lustig ausgesehen haben. Gerdi, ein alter grauhaariger Deutscher, liegt im Gras und hält mich am Fuß, er zittert geradezu vor Anstrengung, und ich hänge mit dem Kopf nach unten im Schilf und versuche den kleinen, braunen Hund von Frau Ewa, der das steile Ufer hinuntergerutscht ist, aus dem Fluss zu ziehen. Wir haben den kleinen Kläffer gerettet. Gerdi strahlt, schüttelt seinen grauen Schopf, stolz, dass er dem Hündchen als erster zu Hilfe geeilt ist.
    Frau Ewa sagt, Gerdi habe viel Herz, mehr als Verstand, und deshalb habe er sich von einem gerissenen Weibsstück ausnehmen lassen.
    "Ach Gerdi, Gerdi", seufzt Frau Ewa, "diese Dankesschreiben vom Ministerium hast du in der roten Mappe und das Urteil über die Zwangsräumung in der weißen."


    Gerdi, das ist Gerhard Zandecki. Einst war er ein erfolgreicher Hamburger Unternehmer, ein angesehener Selfmademan, der es in der Reinigungsbranche zu etwas gebracht hatte. 1981, nach Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski, organisierte Zandecki gigantische Hilfslieferungen für Not leidende Polen: LKWs voller Reis, Zucker, Zigaretten oder Medikamenten. Ein ganzes Flugzeug mit medizinischem Gerät war dabei. Polen dankte es Zandecki mit Auszeichnungen aller Art, Deutschland verlieh ihm das Bundesverdienstkreuz. Heute jedoch ist Gerhard Zandecki nur noch Gerdi, ein heruntergekommener Typ ohne Geld und feste Bleibe im Westen Polens. An eine Rückkehr nach Deutschland ist nicht zu denken. So ist er auf die Gnade von Frau Ewa angewiesen, die ihm in ihrem Haus Unterschlupf gewährt. Für Zandeckis Unglück scheint Wanda, seine polnische Ex-Frau, verantwortlich zu sein. Wanda erzählt dem Reporter indes eine ganz andere Geschichte vom steilen Abstieg des Gerhard Zandecki.

    In seinem Buch "Die Nacht von Wildenhagen" hat Włodzimierz Nowak zwölf Geschichten versammelt, die sich mit den Beziehungen zwischen Deutschen und Polen befassen. Nowak erweist sich dabei nicht nur als präziser Beobachter deutsch-polnischer Gegenwart, sondern auch leidenschaftlicher Erforscher der Vergangenheit. Stets findet er die richtigen Menschen. Zu ihnen gehört zum Beispiel die ostdeutsche Rentnerin Adelheid. In der Titelreportage "Die Nacht von Wildenhagen" ermittelt der Reporter gemeinsam mit seiner Protagonistin die Umstände einer Tragödie, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in einem damals deutschen, heute polnischen Dorf abspielte.

    "Die Russen kommen! Die Russen!" die Bäuerin Ida Valentin läuft den Weg entlang. Groß, knochig, mit einer Schürze um die Hüften. Sie schreit über ganz Wildenhagen und fuchtelt mit einem Küchenmesser herum, das sie immer bei sich trägt. Die Frauen rennen von Hof zu Hof. Draußen stehen Wagen, fertig für die Abreise. Doch der Gemeindevorsteher gibt keine Erlaubnis zur Abfahrt, er hat keinen Befehl zur Evakuierung bekommen. Heidchen versteht nicht viel von dem, was passiert.
    Die Nachbarin stürzt herein, schreit, sie würde mit den Kindern zum See gehen. Sie will sich ertränken. "Was machen wir? Was machen wir?", schreien die Frauen.
    "Man muss sich umbringen", die Bäuerin legt das Messer auf den Tisch, sie weiß immer alles am besten.

    Die Frauen von Wildenhagen begehen einen kollektiven Selbstmord. Auch Adelheid, das Heidchen von damals, hätte sterben sollen. Ihre Mutter hatte ihr bereits einen Strick um den Hals gelegt. Doch war sie nicht, wie angeordnet, von einem Sack herunter gesprungen und hatte dadurch überlebt.

    "Ich möchte nicht, dass dieses Buch nur als ein Buch über den Krieg aufgefasst wird. Es ist vielmehr ein Buch darüber, wie man ein Trauma überwindet. Das heißt, die Helden führen vor, wie man nach einem Trauma leben kann."

    Dieses Leben nach dem Trauma gelingt den oft in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs verstrickten Protagonisten von Nowaks Reportagen mal schlechter, mal besser. Wenn der in Belgien lebende Unternehmer Mathias Schenk irgendwo Platz nimmt, dann immer mit dem Rücken zur Wand – um den Überblick zu behalten. Schenk erzählt Nowak die Geschichte von seinem "Warschaukoller". Als 18-Jähriger hatte er sich an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt, war Zeuge brutalster Verbrechen an der polnischen Zivilbevölkerung geworden, hatte Häuser gesprengt oder im Nahkampf in dunklen Kellern Aufständische erstochen.

    "Sehen Sie? Hier habe ich ein Andenken aus Warschau", Mathi Schenk hebt das Kinn, zieht die Haut straff, wie beim Rasieren. Am faltigen Hals – eine dünne Narbe.
    "Ein Messer?"
    "Ich glaube, ein Bajonett. Seit sechzig Jahren sage ich mir: Es war nicht scharf genug. Ein Pole wollte mir die Kehle durchschneiden. Ich habe nur seine Augen und das Blitzen des Helms gesehen. In Warschau habe ich neunzehn Messer- und Bajonettkämpfe aus ausgefochten. Wenn du in Kellern kämpfst, ist es ganz still und du siehst nichts. Ich war schneller."

    "Mein Warschaukoller" ist der in seiner lakonischen Direktheit atemberaubende Bericht eines Mannes, der wider Willen zum Kriegsverbrecher wird, anschließend desertiert und unerwartet von einer polnischen Familie versteckt wird. Fortan fühlt er sich Polen eng verbunden.

    Aus den zwölf Reportagen der "Nacht von Wildenhagen" ergibt sich ein weit gefächertes wie kontrastreiches und insgesamt hoch spannendes Panorama deutsch-polnischer Befindlichkeiten. Dabei bewältigt Nowak auch die großen Themen ohne Mühe und ohne Pathos. Das Anrührende und Komische liegt bei ihm eng beieinander, und die Übersetzerin Joanna Manc hat diesem eigenen Erzählton des Reporters auch auf Deutsch den rechten Klang verschafft.

    Włodzimierz Nowak: "Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale". Aus dem Polnischen von Joanna Manc, Eichborn Verlag Berlin, 301 Seiten, 19,95 Euro