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Dokumentation von Folter
"Erste Pflicht ist, die Wahrheit herauszufinden"

Fast ein Drittel der Geflüchteten sind laut den Vereinten Nationen Überlebende von Folter. Doch wie können Mediziner und Ersthelfer Folterspuren standardisiert dokumentieren und so den Opfern einen Beleg geben, der später bei einem Asylantrag wichtig sein kann? Mit dieser Frage hat sich die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin auf ihrer Jahrestagung in Düsseldorf befasst.

Von Michael Stang | 18.09.2017
    Instrumente liegen am Obduktionstisch im Institut für Rechtsmedizin in Düsseldorf
    Wie können Rechtsmediziner auf ihrem Obduktionstisch (hier im Institut für Rechtsmedizin in Düsseldorf) standadisiert dokumentieren, dass jemand wirklich gefoltert wurde? Das war Thema der Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin auf ihrer Jahrestagung. (picture alliance / dpa / Frederico Gambarini)
    "In den frühen 1990er-Jahren gab es den Fall, dass ein Mann in Polizeihaft gefoltert wurde und starb. Die erste Obduktion erbrachte keine Ergebnisse. Die Familie des Toten behauptete aber, dass ihr Sohn zu Tode gefoltert wurde."
    Erinnert sich Şebnem Korur Fincancı. Die Rechtsmedizinerin von der Istanbul Universität sollte damals eine zweite Meinung abgeben. Sie und ihre Kollegen hätten direkt Folterspuren erkannt. Dabei sei ihnen klar geworden, dass es bis dato keine internationalen Standards bei der Dokumentation von Folterspuren gibt, vor allem was die Erhebung bei Überlebenden betrifft.
    Zusammen mit dutzenden Ärzten, Psychotherapeuten, Rechtsanwälten und Menschenrechtlern aus fünfzehn Staaten erstellten sie das Istanbul-Protokoll, das "Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe". Seit 2004 wird es auch offiziell von den Vereinten Nationen eingesetzt.
    Kategorien körperlicher Folter
    Das Handbuch kategorisiert acht Arten körperlicher Folter: Schläge und andere Formen stumpfer Traumata, Schläge auf die Fußsohlen, Aufhängen, andere Positionen für Folter, Stromstöße, Dentale Folter, Ersticken, Sexuelle Folter einschließlich Vergewaltigung. Das Handbuch wurde bereits aktualisiert.
    "Das erste Treffen ist sehr wichtig, vor allem um Vertrauen aufzubauen. Die Überlebenden von Folter haben schreckliche Dinge erlebt und vertrauen eigentlich niemandem mehr. Daher bedarf es einer professionellen Vorbereitung bei diesen Interviews. Eine der Neuerungen des Istanbuler Protokolls ist daher auch das Evaluieren von psychologischer Folter, dass wir auch diese Traumata dokumentieren. Vorher bezogen sich die Erhebungen nur auf physisch sichtbare Folterspuren."
    Denn heute gebe es viel häufiger Foltermethoden, die äußerlich zunächst keine eindeutigen Spuren hinterlassen, etwa Schlafentzug, psychische Folter oder Waterboarding, bei dem das Ertränken simuliert wird.
    Folter als probates Mittel
    "Folter ist eine schwierige Angelegenheit. Zwar haben viele Staaten unterschiedliche Erklärungen zum Verzicht auf Folter unterzeichnet, aber das heißt mitunter nicht viel, denn je nach Konflikt wird Folter doch wieder als probates Mittel eingesetzt. Die Vereinten Nationen empfehlen allen Staaten das Istanbul Protokoll als das Standardvorgehen bei der Dokumentation von Folterspuren, zudem dass ihre Mediziner dahingehend trainiert werden sollen."
    In ihrem Land, der Türkei, wurden rund 3.000 Mediziner und Ersthelfer trainiert, die vor allem in Notaufnahmen arbeiten. Aber es habe einen Wechsel in der Gesundheitspolitik gegeben mit der Folge, dass die trainierten Mediziner nicht mehr da eingesetzt werden, wo sie mit den Folteropfern in Kontakt kommen.
    Bedarf an Dokumentation groß wie nie
    Und aktuell sehen die Vorgaben vor, dass sie gar keine Mediziner mehr trainieren können, beklagt Şebnem Korur Fincancı. Dabei sei der Bedarf an dieser Dokumentation groß wie nie, vor allem angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise, die sie in der Türkei deutlich spüren, da ihr Land Millionen Geflüchtete aufnimmt, etwa aus Syrien.
    "Ein Beispiel: Als wir die ersten Untersuchungen zur Altersbestimmungen bei Kindern durchgeführt haben, da waren bei den Geflüchteten auch Folteropfer dabei. Das ändert alles und es ist dann zweitrangig, ob dieser Mensch 16 Jahre alt ist und noch zwei Jahre im Land bleiben darf oder nicht. Er kann dann nicht einfach irgendwo hingeschickt werden."
    "Erste Pflicht ist, die Wahrheit herauszufinden"
    Direkt nach dem Interview mit dem Deutschlandfunk am vergangenen Mittwoch hielt Şebnem Korur Fincancı auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Düsseldorf ihre mit Spannung erwartete Rede. Die letzte Frage war, mit welcher Botschaft sie sich an ihre Kollegen wenden werde.
    Sie hätten einen Auftrag, so die türkische Rechtsmedizinerin und Menschenrechtlerin, auch wenn sie dafür in einigen Länder mit Repressionen rechnen müssen.
    "Jeder sollte Angst haben, natürlich. Aber ängstlich zu sein bedeutet ja nicht, dass man sich aus seiner Verantwortung stehlen darf. Ich bin Medizinerin und ich trage für meine Patienten eine Verantwortung. Erste Pflicht ist, die Wahrheit herauszufinden und sie zu sagen, was auch immer man herausgefunden hat. Das ist meiner Meinung nach keine mutige Handlung, sondern die regelrechte Pflicht eines menschlichen Wesens."