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Doping im Radsport
"Entweder du tust es ebenfalls. Oder du steigst aus"

Der ehemalige Radprofi Floyd Landis enthüllte im Jahr 2010, was er über die Doping-Praktiken seines früheren Teamkollegen Lance Armstrong wusste. Er stelle sich aber nicht auf einen Sockel, sagte Landis im DLF-Sportgespräch. Er selbst sei Teil des Systems gewesen, in dem man keine wirklichen Optionen habe.

Floyd Landis im Gespräch mit Jürgen Kalwa | 02.10.2016
    Floyd Landis bei einem Radrennen im Jahr 2010.
    Floyd Landis bei einem Radrennen im Jahr 2010. (imago sportfotodienst)
    Es ist ein weiter Weg bis zum Siegespodest der Tour de France, besonders, wenn man in einer streng gläubigen Mennoniten-Familie aufwächst, die fast alles Weltliche ablehnt: den Erfolg, das Geld, den Stolz. Floyd Landis jedoch ist ihn gegangen. Arbeitete zunächst als Domestik von Lance Armstrong im US-Postal-Service Team und dann auf eigene Rechnung. Um die Leistungen zu bringen, nahm er Dopingmittel, wurde 2006 erwischt, verlor in zwei Instanzen beim Versuch, einen Freispruch zu erwirken, verbrannte dabei Millionen von Dollar und fand sich nach seiner Sperre im Niemandsland einer verseuchten Radsportkultur wieder, in der in kein ambitionierter Rennstall mehr engagieren wollte.
    Er war ein Ausgestoßener.
    Das gilt auch heute noch, aber aus einem anderen Grund. Landis enthüllte 2010, was er über Armstrongs Praktiken wusste und brachte so eine Lawine von Enthüllungen ins Rollen. Irgendwann musste der Superstar zugeben: Ja, auch er hatte jahrelang gedopt. Die beiden haben aber noch miteinander zu tun. Armstrong soll dem ehemaligen Sponsoren, der amerikanischen Post, Millionen an Schadenersatz zurückzahlen. Ein Verfahren, das Landis angestrengt hatte, und das ihm im Erfolgsfall einen Anteil an dieser Summe einbringen würde. Landis wird in wenigen Tagen 41 Jahre alt und versucht derzeit eine Karriere im legalen Drogenhandel in Colorado. Mit Cannabis-Produkten.
    Sowohl Armstrong als auch Landis leben inzwischen überwiegend in Colorado, Armstrong in Aspen, Landis in Leadville. Nur knapp anderthalb Stunden mit dem Auto entfernt. Doch das ist bestenfalls Zufall, sagt Floyd Landis.

    Jürgen Kalwa: Lance Armstrong lebt in Aspen. Leadville ist nicht weit weg. Ich habe mir das auf der Landkarte angeschaut.
    Floyd Landis: Ich habe seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Wir werden sicher keine Freunde mehr werden. Er wollte immer zur Elite der Reichen gehören. Nicht, dass ich im Radsport kein Geld verdienen wollte. Aber mir geht es nicht darum, auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben zu kommen. Leadville kann man mit Aspen nicht vergleichen. Keiner von den 3000 Einwohner gehört zur selben gesellschaftlichen Schicht wie Aspen. In Aspen gehört man eher zu den mächtigen, oberen "ein Prozent”.
    Aber Leadville ist ein netter Ort. Freundlich. Die Leute reden miteinander. Ich finde so etwas besser als große Egos.
    Kalwa: Was hat Sie überhaupt nach Leadville gebracht?
    Landis: Ich bin in den letzten zehn Jahren immer mal wieder da gewesen. Sie haben eine große Mountainbike-Veranstaltung im August. Als ich einen Standort für unsere Zentrale gesucht habe, brauchte ich eine ziemlich preiswerte Lösung und etwas, wo ich mich wohlfühle und zuhause.
    Cannabis gegen Schmerzen
    Kalwa: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Cannabis-Produkte herzustellen und zu verkaufen?
    Landis: Ich habe mich schon viele Jahre für das Produkt interessiert. Es hat mir gegen Schmerzen geholfen. Und ich habe es immer mal wieder zu Entspannungszwecken genommen. Als es legalisiert wurde, habe ich mich – so wie viele andere Leute auch – umgesehen, ob es andere Möglichkeiten gibt.
    Kalwa: Sie haben es genommen, um Schmerzen zu behandeln? Viele Athleten speziell in den knallharten Sportarten wie American Football interessieren sich ebenfalls dafür. Aber erstens ist Marihuana in vielen Bereichen der USA immer noch verboten. Und zweitens steht es auf der Dopingliste. Beeinflusst Marihuana eigentlich überhaupt die Leistung von Sportlern?
    Landis: Die Welt-Anti-Dopingagentur und die amerikanische Anti-Dopingagentur halten durch das Verbot nur die gesellschaftliche Stigmatisierung aufrecht und den Glauben, dass die Substanz gesetzlich verboten sein sollte. Das fügt unserer Gesellschaft auf vielerlei Weise Schaden zu. Es gibt einfach keinen Beweis dafür, dass dieser Stoff, egal in welcher Darreichungsform, irgendjemandem im Sport einen Vorteil bringen würde. Nicht zu reden von einer Liga wie der NFL, wo es das Ziel des Spiels ist, sich gegenseitig zu verletzen. Aber ihnen gleichzeitig zu sagen, dass sie die Schmerzen nicht auf eine vernünftige Weise lindern können. Erlaubt sind dagegen Schmerzmittel, die nachweisbar abhängig machen und gesundheitsschädlich sind. Und nicht was billiger und effektiver ist.
    Kalwa: Haben Sie einfach ausprobiert, wie es wirkt? Oder haben Sie sich Ratschläge besorgt?
    Abhängig von starken Schmerzmitteln geworden
    Landis: Weil es seit ewigen Zeiten verboten gewesen ist, gibt es kaum brauchbare wissenschaftliche Studien über eine angemessene Dosis und eine angemessene Art und Weise der Einnahme. Ich habe ein künstliches Hüftgelenk. Das tut immer mal wieder weh. Ich bin im Laufe der Zeit abhängig von starken Schmerzmitteln geworden. Aber das kann man nicht mit dem vergleichen, was Football-Spieler mitmachen.
    Kalwa: Zumindest Colorado hat den Verkauf legalisiert und gestattet ihn unter bestimmten Auflagen. Ausgangspunkt also für Sie, ein Geschäft zu eröffnen – "Floyd of Leadville”. Haben Sie ein Händchen als Kaufmann?
    Landis: Das ist wie im Sport. Du brauchst Talent und Glück. Und du musst zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Manchmal spielt Glück eine wichtigere Rolle als erfolgreiche Geschäftsleute zugeben würden. Solange ich mich weiter darauf konzentriere, vielleicht habe ich auch Glück. Vielleicht aber auch nicht. Die Konkurrenz ist groß. Man hat Marihuana früher hauptsächlich geraucht. Jetzt gibt es zum Beispiel Öle, wie wir sie herstellen. Die reibt man in die Haut ein, wo sie auf mehrfache Weise wirken. An Ort und Stelle im Gewebe, aber auch im gesamten Kreislauf. Der meiste Teil unserer Energie geht damit drauf, herausfinden, wie man den Wirkstoff auf dezente und effiziente Weise einsetzen kann.
    "War Teil des Systems"
    Kalwa: Lassen Sie uns über die Vergangenheit sprechen. Wer den Absturz von Lance Armstrong genau verfolgt hat, sieht in Ihnen die zentrale Figur. Sie haben den ersten Stein aus der Mauer aus lauter Lügen herausgeschlagen und sie so zum Einsturz gebracht.
    Landis: Vermutlich. Aber das lag am Zusammentreffen mehrerer Umstände. Aber das war nicht meine eigentliche Absicht. Ich war Teil des Systems und habe verbotenen Substanzen genommen und so Rennen gewonnen. Ich stelle mich nicht auf einen Sockel. Es gab andere mit denselben Informationen. Sie hatten nur nicht denselben Anreiz auszupacken. Mein Anreiz hatte mit der Dopingsache von 2006 zu tun, die zu einer dominierenden Geschichte in meinem Leben geworden war. Egal wo ich ihn hinkam, wollten Leute immer nur darüber reden. Damit wollte ich mich nicht auch noch den Rest meines Lebens abgeben. Ja, ich war der Typ mittendrin. Aber nicht, weil ich das so geplant hätte.
    Kalwa: Der Armstrong-Fall zeigte auf, was bis dahin nicht so klar war. Dopende Athleten sind nicht bloße Einzelfälle und eine Minderheit von Menschen ohne moralisches Rückgrat. Die Enthüllungen belegten, dass es ein regelrechtes Doping-System gab, ein Netzwerk. Diese Erkenntnis geht ebenfalls auf Sie zurück.
    Entweder du dopst, oder du steigst aus
    Landis: Wenn man aber einen Schritt zurücktritt und sich das Ganze aus der Distanz anschaut, versteht man, warum die gegenwärtigen Anti-Dopinganstrengungen nicht funktionieren. Wenn du als Athlet gegen Konkurrenten aus anderen Ländern antrittst und weißt, was dort los ist, kannst du mit fast hundertprozentiger Gewissheit ableiten, dass dort gedopt wird. Aber du hast keine wirklichen Optionen. Entweder du tust es ebenfalls. Oder du steigst aus. Du hast nicht die Mittel, es aufzudecken. Und falls doch, das sieht man an den Whistleblowern, darfst du nicht zu den Olympischen Spielen. Das Versagen und die Heuchelei kommen direkt vom IOC.
    Das war Teil meiner Wut, als ich mich in meinem Dopingverfahren zur Wehr zu setzen versucht habe. Geben Sie sich keiner Illusion hin. Die WADA ist das IOC. Und USADA auch. Diese Leute bekommen Freikarten zu den Olympischen Spielen. Das ist ihr eigentliches Ziel. Das und auf diese Weise Geld zu verdienen. Nicht irgendein moralisches Prinzip wie Fairness. Ich habe keine Zweifel, dass es die korrupteste Organisation im gesamten Sport ist. Daneben sieht die FIFA noch ziemlich gut aus.
    Hinter den Kulissen gibt es Korruption
    Das wird jetzt immer deutlicher. Rund um die letzten Olympischen Spiele hat es viele Berichte in den Medien darüber gegeben, um was es im IOC geht. Es gab nicht nur diese fabrizierten, menschelnden Geschichten über einzelne Athleten. Und Fernsehleute, die erzählen, wie toll alles angeblich ist. Was hinter den Kulissen vorgeht, ist Korruption und schadet Dritte-Welt-Ländern, wo man die Spiele heutzutage ausrichtet, weil es dort einfacher ist, Bestechungsgelder zu zahlen und damit durchzukommen, als in den USA oder in Deutschland oder anderen Ländern der Ersten Welt.
    Anstatt diese Geschichte zu glauben, wonach die WADA eine unabhängige Einrichtung ist, die versucht, Doping zu verhindern, oder wie USADA durch das Ausheben des US Postal Service Teams wirklich etwas bewegt hat, sollte man wissen: Das ist alles nur Show, alles nur Fassade. Alles nur, um die Spiele abzustützen und armen Leuten Geld abzupressen.
    Armstrong glaubte, seine Geschichte sei unzerstörbar
    Kalwa: Analysieren Sie doch mal für uns diesen Lance Armstrong. Kind einer nicht besonders soliden texanischen Familie. Ein talentierter Schauspieler. Was haben Sie über ihn herausgefunden, als Sie ihn aus nächster Nähe erlebt haben und als Sie keinen Kontakt mehr hatten?
    Landis: Wir hatten Streit, also bin ich natürlich ein wenig voreingenommen. Aber ich habe jetzt einen erheblichen Abstand. Wenn ich mir alles objektiv anschaue, sehe ich vor allem den Einfluss der Medien. Eine so attraktive Geschichte entwickelt immer ihre eigene Dynamik. Die Person im Zentrum dieser Geschichte muss gar nicht besonders schlau sein, um sie am Laufen zu halten. Die Medien selbst wollen, dass diese Geschichte weitergeht. Was ihn ruiniert hat, war zu glauben, dass diese Geschichte durch rein gar nichts aufgeribbelt werden kann. Weil es eine viel zu gute Geschichte war. Also hat er überreizt. Livestrong, die Stiftung, war großartig. Damit konnte er alle Attacken parieren, weil er sagen konnte, dass er Geld für Krebskranke auftreibt. Dabei hat er auch davon finanziell profitiert. Wenn er clever wäre, wäre er nicht in der Situation, in der er sich im Moment befindet.
    Kalwa: Ist er so clever wie Donald Trump?
    Landis: Die Geschichte ist nicht dieselbe wie die von Trump. Aber das Resultat ist es durchaus. Trump hat es geschafft, sagen zu können, was er will. Manchmal klingt es lustig, nicht immer clever. Aber es klingt nach etwas, was ihn von normalen Politikern unterscheidet. Ja, manchmal sorgen die Medien dafür, dass etwas ein totales Eigenleben entwickelt. Und der Mensch im Zentrum dessen kann sich so verhalten, wie er möchte. Das funktioniert, solange, bis es nicht mehr funktioniert. Dann schlägt es wie ein Pendel in die andere Richtung aus. Das ist Lance passiert. Vielleicht – keine Ahnung – passiert dies auch noch Donald Trump.
    Kann nicht alles geraderücken
    Kalwa: Es sind einige Bücher erschienen, die Lesern, aber auch Ihnen erlauben nachzuvollziehen, wie man Sie - den reuigen Doper - einschätzt.
    Landis: Es ist lustig. Ich lese sie manchmal. Manches darin verletzt mich. Das Problem: Ich war nicht berühmt. Kaum einer kannte mich wirklich, ehe das alles passiert ist. Bis die Katastrophe begann. Was Leute von mir denken, klafft weit auseinander und reicht ziemlich weit. Das hat mich lange ziemlich aufgeregt. Ich habe viel Alkohol getrunken, um diese Gefühle zu ertränken. Aber inzwischen habe ich herausgefunden, wer ich bin. Vielleicht werden im Laufe der Zeit andere Leute das auch herausfinden. Ich habe einen Kreis von Freunden, die mir wichtig sind und die mich unterstützen. Ich würde es besser finden, wenn Leute mich nicht falsch einschätzen würden. Aber ich kann das gar nicht alles geraderücken.
    Kalwa: Heißt das, Sie können niemandem irgendein Medienprodukt empfehlen, der Sie besser verstehen möchte?
    Landis: Das gilt nicht nur für mich. Das gilt für jeden, der im Licht der Öffentlichkeit steht. Es ist so gut wie unmöglich zu wissen, wer diese Person wirklich ist. Auch nicht bei der Lektüre eines ganzen Buchs. Und nicht mal, wenn dieser Mensch das Buch selbst geschrieben hat. Man erfährt einfach nicht genug. Bücher enthalten oft eine Menge an Wahrheit. Wenn ich sie lese, sehe ich allerdings Dinge, die nicht stimmen. Vielleicht besteht ihr Wert eher darin, dass andere Leute aus Situationen, in denen ich mich befand, etwas lernen können.
    Kalwa: Würden Sie dann lieber Ihr eigenes Buch empfehlen? "Positively False”.
    Landis: Zu meinem eigenen Buch habe ich einiges zu hören bekommen. Denn ich habe darin gesagt, dass ich nicht gedopt habe. Ich wünschte mir, ich hätte das nicht auf diese Weise geschrieben. Aber die persönliche Geschichte im Hintergrund hat einen gewissen Wert, wenn Leute sich dafür interessieren, wer ich bin. Natürlich, ich habe dort abgestritten, gedopt zu haben. Es wäre besser gewesen, ich hätte ein paar Jahre gewartet.
    War gefangen wie ein Häftling
    Kalwa: Der Teil darüber, wie sie aufgewachsen sind, in einer sehr religiösen Familie mit ausgeprägten moralischen Wertvorstellungen und wie Sie daraus ausgebrochen sind – liefert das Bausteine, um Sie zu verstehen?
    Landis: Viele Leute haben das schon falsch als Rebellion interpretiert. Ich habe meine Eltern immer respektiert. Das war vermutlich die beste Kindheit, die sich jemand wünschen kann. Aber die Sache mit der Religion hat mir als Kind viel an Angst und Schuldgefühlen eingebracht. Also habe ich versucht, die Wahrheit über die Welt herauszufinden. Das wird gerne falsch interpretiert. Als ob ich gesagt hätte: Scheiß auf die Regeln. Ich mache jetzt, was ich will. Ich habe mich einfach nur auf die Suche gemacht. Dann fand ich mich in einem Sport wieder, wo ich Entscheidungen treffen musste, die nichts mit Moral zu tun haben. Ich war gefangen. Wie ein Häftling. Die einzige Alternative waren: Entweder machst du mit oder du steigst aus.
    Kalwa: Lassen Sie uns mal im Zeitraffer rekapitulieren. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie ins Team von Lance Armstrong eingestiegen sind?
    Landis: Ich war jung. 25 Jahre alt. Und noch immer sehr blauäugig, was den Radsport betrifft. Ich hatte eine gewisse Idee, dass es da eine dunkle Seite gab. Damals hatte er bereits dreimal die Tour de France gewonnen. Er war ein riesiger Star. Ich fühlte mich geschmeichelt. Von diesem Team eingekauft zu werden, gab einem die beste Chance, die es damals überhaupt gab.
    Armstrong "ist kein netter Mensch"
    Kalwa: Vergleichen Sie das mit der nächsten Phase. Als Sie versucht haben, ohne ihn zu gewinnen. Eine neue Situation.
    Landis: Ich habe ihm in seinem Team dabei geholfen, die Tour Nummer vier, fünf und sechs zu gewinnen. Dann bin ich gegangen. Und es kam zu erheblichen Animositäten. Er sagte, er fühle sich betrogen, weil ich ihn verlassen hatte, um woanders mehr zu verdienen. Er ist kein netter Mensch, und ich habe vorher versucht, das zu erklären: dass wir alle mehr davon haben, wenn ich mich verabschiede und woanders hingehe. In seinem Kopf arbeitet er gerne mit so etwas wie Rechnungen, die dann andere zu begleichen haben. Im Jahr darauf, 2005, haben er und sein Team sehr viel Zeit damit zugebracht, zu verhindern, dass ich Rennen gewinne. So tickt er einfach. Er zieht keine Zufriedenheit daraus zu gewinnen. Er will seinen Beitrag leisten, dass andere verlieren. Das komplette Gegenteil von dem, wie die meisten Menschen ticken.
    Ein Jahr später, als er zurückgetreten war, veränderte sich die Dynamik im Peloton komplett. Die Tour de France ist für sich genommen schon ungeheuer stressig. Als alles vorbei war und ich gewonnen hatte, war ich körperlich und emotional total alle. Drei Tage später wurde das positive Testergebnis bekannt gegeben. Und ich musste mich dann darum kümmern. Ich habe mich davon jahrelang schlichtweg nicht erholen können. Und dann begann gleich das Sportgerichtsverfahren. Ich hatte davon keine Ahnung und musste alles erst mal lernen. Jemand, der sich gefühlsmäßig in so etwas hineinfinden kann, der kann vielleicht verstehen, warum ich mich so verhalten habe, wie ich das damals getan habe.
    Kalwa: Ein Kampf ganz im Stil eines Lance Armstrong?
    Landis: Nicht notwendigerweise. Sie müssen die wissenschaftlichen Grundlagen verstehen. Dieser Test war nicht in Ordnung. Und das Labor müsste eigentlich geschlossen werden. Die USADA wusste das. Ich habe damals dafür gekämpft, weiter Radsport betreiben zu können. Der Einsatz war hoch. Für USADA ebenfalls. Sie haben Zeugen mitgebracht, die gelogen haben und das später zugegeben haben. Sie hatten Dokumente, die gefälscht waren, was später auch zugegeben wurde. Das ist ein System, in dem mit gezinkten Karten gespielt wird. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nicht, dass die Schiedsrichter Freikarten zu den Olympischen Spielen bekommen und Honorar erhalten. Alles so aufgebaut, dass es keine Möglichkeit für einen Sportler gibt, in diesen Verfahren zu gewinnen.
    Kalwa: Es gab damals bei Phonak eine Teamärztin, Dr. Denise Demir, die behauptete, Sie wären sauber, aber dann nicht im Verfahren ausgesagt hat. Was für eine Beziehung hatten Sie zu ihr?
    Landis: Denise hatte eine Menge getan, um mir dabei zu helfen, mit meinen Hüftgelenkschmerzen klarzukommen. Das Team hatte keine durchorganisiertes Dopingprogramm wie US Postal. Damals habe ich alles abgestritten. So wie jeder andere auch. Sie wusste vermutlich, was los war. Nicht im Detail. Aber wer damals im Radsport arbeitete, hatte generell eine gute Vorstellung davon, was lief.
    Mehr als die Hälfte war gedopt
    Kalwa: Wie groß war Ihrer Einschätzung nach der Anteil der Fahrer in Ihrer aktiven Zeit, der gedopt hat?
    Landis: Es waren viele. Mehr als die Hälfte. Das ist zwar eine Antwort auf eine Frage, die Sie nicht gestellt haben: Aber ich denke, das ist heute ganz genauso wie damals.
    Kalwa: Wir sollten also weiterhin höchst argwöhnisch sein?
    Landis: Ich wäre an Ihrer Stelle höchst argwöhnisch. Meine Einschätzung basiert nicht so sehr auf dem Leistungsniveau. Sondern auf meiner Erfahrung mit diesen Leuten, von denen die meisten noch immer da sind. Sie managen die Teams und den Weltverband und das Anti-Dopingsystem. Was die Entscheidung zu dopen beeinflusst sind zwei Faktoren: Wie hoch ist die Belohnung? Wie groß ist das Risiko? Daran hat sich nichts geändert. Außer man behauptet, dass sich zwischendurch die Natur des Menschen gewandelt hat. Andernfalls hast du keine Wahl und musst annehmen, dass sich nichts geändert hat.
    Kalwa: Zurück zu unserem Zeitraffer: Was ging in Ihnen vor, als sie so weit waren, tatsächlich alles zuzugeben?
    Landis: Als ich an dem Punkt ankam, wusste ich, dass das mir das Nachteile bringen würde. Aber ich stand vor der Alternative, entweder den Rest meines Lebens an der Lüge festzuhalten oder etwas zu tun und diese Geschichte ganz neu zu erzählen. Deshalb habe ich das per Email gemacht. Weil es bedeutete, ich kann es so aufschreiben, wie ich das möchte. Und wenn ich dann auf den Knopf "Senden” drücke, dann muss ich auch dazu stehen und kann es nicht wieder zurücknehmen. Das hat sich zunächst gut angefühlt. Aber ich wusste, die Reaktionen würden heftig sein, sobald die Medien das alles in die Hände bekommen. Lance Armstrong würde das nicht einfach akzeptieren und sagen: "Na klar. Er sagt die Wahrheit.” Er ist ein Kämpfer. Ich wusste, er hat ein großes Public-Relations-Team. Und ich wusste, dass sich viele Leute emotional mit seiner Geschichte identifiziert hatten. Die mir das übel nehmen würden. Ich wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis Leute sagen würden, dass meine Geschichte sehr detailreich war und dass einiges an ihr der Wahrheit entsprach. Aber alles sah danach aus, dass ich nicht gewinnen konnte. Es war stressig. Ich wünsche so etwas niemandem.
    Kalwa: Sie reden kaum mal über das Verfahren gegen Lance Armstrong, dass noch anhängig ist. Ein Schadenersatzprozess der amerikanischen Post, den Sie auf den Weg gebracht haben. Zwei Entwicklungen sind denkbar. Eine Einigung, bei der Lance Armstrong Schuld eingesteht und viel Geld bezahlt. Oder ein Prozess, bei dem die Geschworenen sogar sagen könnten: Die Post wurde nicht betrogen.
    Landis: Ja, die zwei Szenarien sind, dass man sich einigt, egal ob Lance irgendeine Schuld zugibt oder nicht. Oder es kommt zu einem Prozess, den natürlich jede Seite gewinnen kann. Es hängt von ihm ab.
    Kalwa: Und davon, wie viel Geld er noch besitzt.
    Armstrong gibt nicht gerne auf
    Landis: Er hat immer gerne zur Schau gestellt, dass er Geld hat, aber keiner weiß wie viel. Er gibt nicht gerne auf, Das ist eine seiner Qualitäten, aber auch sein Problem. Man kann nicht abschätzen, was er tun wird. Aber vielleicht kämpft er, bis nichts mehr da ist.
    Kalwa: Ein Gericht im französischsprachigen Teil der Schweiz hat 2012 eine Klage wegen übler Nachrede gegen Sie verhandelt. Eingereicht von Hein Verbruggen und Pat McQuaid, zwei ehemaligen Präsidenten des Weltradsportverbandes UCI. Sie wurden in Abwesenheit verurteilt.
    Landis: Ich habe aus den Medien davon erfahren. Es ist ziemlich klar, dass Verbruggen und McQuaid das Gericht belogen haben, weil sie behaupteten, sie könnten mich nicht finden. Man hat mir nie eine Klageschrift zugestellt. Dabei war ich leicht zu finden. Also wurde ich in Abwesenheit verurteilt. Lustig daran war, einen Tag später, als sie das Urteil in der Hand hatten, nachdem sie dem Gericht erzählt hatten, sie könnten mich nicht ausfindig machen, haben sie mir Emails geschickt und erklärt, ich würde ihnen 10.000 Schweizer Franken schulden. Ich bekam vier Emails – von McQuaid, Verbruggen und ihren beiden Anwälten. Ich zahle ihnen kein Geld.
    Kalwa: Ich habe hier eine Liste mit dem, was Sie nicht mehr sagen dürfen – eine lange Aufzählung von Anschuldigungen, die ich Ihnen gerne vorlesen würde. Darunter befinden sich solche Vorwürfe wie: dass die beiden Männer angeblich Dopingfälle vertuscht haben, dafür angeblich auch noch Geld bekommen haben, dass sie demnach also korrupt seien und lügen würden. Sie haben sie sogar als Terroristen beschimpft und dass sie so seien wie der ehemalige libysche Diktator Muammar al-Gaddafi. Das alles würden Sie also mir gegenüber nicht wiederholen wollen?
    Landis: Ich würde das ohne weiteres tun. Was die Terroristen und Muammar al-Gaddafi angeht, bin ich mir allerdings nicht so sicher. Diese Typen haben absolut Bestechungsgelder angenommen, beide, McQuaid und Verbruggen. Sie haben diesen Dopingtest verschleiert. Sie wissen es. Und ich weiß es. Und deshalb wollten sie nicht, dass ich vor Gericht erscheine, um mich zu verteidigen. Verbruggen, besonders, ist ein düsterer, ein schlimmer Typ. Er denkt, er ist immun.
    Kalwa: Letzte Frage: Was ist die stärkste Erinnerung aus Ihrem Sportlerleben? Ist es das Erlebnis auf den Champs-Élysées. Egal was danach passiert ist? Oder etwas anderes?
    "Du fühlst nichts nach dem Rennen"
    Landis: Ja, ganz sicher, am Ziel der Tour de France auf dem Podium zu stehen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Du bist völlig ausgelaugt. Das ist anders als nach einem Spiel in einem Mannschaftssport, wo man sich vorher tagelang ausruhen konnte. Man ist müde. Aber nicht total erschöpft. Nach diesem Rennen bist du so alle, dass du gar nicht dieses Hochgefühl spürst. Du weißt, dass du dein Ziel erreicht hast, aber du fühlst nichts. Du willst einfach nur verschwinden und woanders über alles nachdenken. Aber du musst noch vor all diesen Leuten auf dem Podium stehen. Ein gutes Gefühl, aber es hat in mir einen seltsamen Eindruck hinterlassen. Das war der dramatischste Moment. Der ragt heraus.
    Kalwa: Souvenirs, die Sie behalten haben?
    Landis: Nein, ich habe nicht ein einziges Fahrrad behalten. Keine Entschlackungsmaßnahme, weil ich wütend war. Ich habe nie Dinge gesammelt, um sie mir später anschauen zu können.
    Kalwa: Gelbe Trikots?
    Landis: Ich habe keine mehr. Ich habe alle weggeschenkt. Ich bin ein paarmal umgezogen und habe mich jedes Mal gefragt, warum ich irgendetwas behalten soll. Auf eine Art versuche ich, diese Phase meines Lebens hinter mir zu lassen. Ich will es nicht vergessen, aber ich will mich auch nicht ewig damit beschäftigen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.