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Doppelpremiere in Hannover
Elektrisierende Tanzperformance

Das Staatsballett Hannover tanzt sich in die 1980er-Jahre - zu Songs von Kate Bush schafft Choreograf Marco Goecke ebenso kraftvolle wie verletzliche Bilder. Der Nachwuchschoreograf Emrecan Tanis hätte bei dem exzellenten Tanzensemble dagegen mit etwas mehr Originalität aufwarten können.

Von Elisabeth Nehring | 23.02.2020
Marco Goecke zeigt in der Staatsoper Hannover sein neues Ballett "Kiss the Crow".
Elektrisierend: Marco Goecke zeigt sein neues Ballett "Kiss the Crow". (Bettina Stöß / Staatsoper Hannover)
Die Tanzsprache Marco Goeckes hat einen hohen Wiedererkennungswert: Tänzerinnen und Tänzer vibrieren und beben, sie agieren fiebrig und energiegeladen. Nervosität ist der Grundzustand ihrer Existenz, davon sprechen ihre abgehackten, fragmentarisierten Bewegungen, die zuckenden Oberkörper, zitternden Fingerspitzen, die flatternden Arme und ruckartigen Kopfbewegungen.
Dass diese wohlvertraute Bewegungssprache in Marco Goeckes jüngster Arbeit "Kiss a Crow" aber noch einmal anders, sprich: ungleich radikaler erscheint, liegt vor allem an der Musik.
Kate Bush - Songs voller Erinnerungen
Die britische Musikerin Kate Bush ist für den 1972 geborenen Marco Goecke so etwas wie eine Jugendikone. Wie viele seiner Generation ist er mit Kate Bushs musikalisch überbordenden Songs und ihren kryptischen Texten groß geworden – insofern ist der Dreißigminüter, in dem sieben Kate Bush-Songs den Tanz begleiten, oder besser: befeuern, auch ein Blick zurück auf die eigene Vergangenheit und das jüngere Ich. Passend dazu beginnt Goecke mit "Jig of Life" von 1985, einen Song über das Ringen um Erinnerungen.
Kate Bush besingt das am Leben-bleiben-wollen und auf der Bühne tanzen sie, als ginge es um ihre Existenz: die Körper in stetiger und enormer Anspannung, dazu Grimassen, aufgerissene Münder, verzogene Gesichter, mitunter auch harte, unverständliche verbale Artikulationen.
Musik wird körperlich
Was da im Miteinander von Musik und Choreografie passiert, ist absolut elektrisierend – ein Gänsehautprogramm. Kate Bush und Marco Goecke passen perfekt zueinander. Das immer Überraschende, Wilde und Verrückte, oft Schrille und Poppige, daneben aber auch Weiche und Sehnsuchtsvolle der Songs, die von so vielen musikalischen Einflüssen geprägt sind, verkörpert sich in der eigenwilligen Bewegungssprache Goeckes. Und die wiederum wird von der Musik gehärtet, zugespitzt und geschliffen – oder auch kontrastiert, etwa wenn es zu Kate Bushs zärtlichem "Snowflake" zu so hohlen Begegnungen und steifen Umarmungen kommt, dass es schmerzt.
Exzellente Tänzerinnen und Tänzer
Marco Goeckes Tanzkunst auf höchstem choreografischem und emotionalem Niveau versöhnte mit dem Beginn des Abends. Der neue Hannoveraner Ballettchef hatte den türkischstämmigen Nachwuchschoreografen Emrecan Tanis mit einer Uraufführung beauftragt – aber was dieser sich vorgenommen hat, gelingt nur mäßig. Machtverschiebungen und Hierarchien innerhalb einer Gruppe, Beziehung zwischen Führern und Anhängern – solcherart gesellschaftliche Dynamiken eignen sich gut für den Tanz, was Choreografen wie Yasmeen Godder, Hofesh Shechter und jüngst vor allem Sharon Eyal (allesamt übrigens aus Israel) bewiesen haben.
Im Vergleich zu diesen Kolleginnen und Kollegen greift Emrecan Tanis – trotz gelungener Momente und Bilder – auf allzu bewährte Formen zurück. Besonders schwach gerät ihm die Führerfigur, aus der Maurus Gauthier einen pseudodämonischen Dauerlächler machen muss, der am Ende in die Erde zurückfährt, aus der er gekommen ist. Ein bisschen mehr choreografisches Gespür für die Ambivalenz der Macht hätte da gut getan – insbesondere wenn man mit diesen Tänzerinnen und Tänzern arbeiten darf. Das Ensemble ist einfach umwerfend – was sich auch im dritten Teil, Hans van Manens elegantem und humorvollen "Concertante" zeigt. Die technische Virtuosität und Vielfältigkeit der Tänzerschaft, gepaart mit einer unbändigen Lust am Tanzen merkt man jedem Einzelnen in jeder Minute dieses Abends an – ein Grund, die Zukunft des Staatsballetts Hannovers mit Spannung und Freude zu erwarten.