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Doppelte Heilung

Im neuen Roman des Kölner Autors Roland Koch geht es um eine Frau, die ihre Familie verlässt, um sich an der niederländischen Küste ein neues Leben aufzubauen. Eine ganz andere, weibliche Perspektive, aus der dieser Aus- und Aufbruch geschildert wird – und überzeugend, findet Bettina Hesse.

Besprochen von Bettina Hesse | 25.05.2009
    "Ich liebe den Geruch nach Tang, das leise Schleppen des Meers, die pausenlose Bewegung, wenn ich morgens im Dunkeln an den Strand komme. Erst hier fühle ich mich gesund. Ich laufe zwischen den Sielen entlang, manchmal verirre ich mich und muss eins überspringen oder ein Stück zurückwaten, ich gehe, bis es hinter dem Deich dämmert, und ich meine Fußspuren sehen kann."

    Mit diesem fast symbolischen Bild beginnt der neue Roman von Roland Koch. Eine Frau bricht auf, lässt ihren Mann und zwei Kinder alleine, die Stadt und Deutschland hinter sich, um an der holländischen Küste ein anderes Leben zu suchen. Sie richtet sich im Spätherbst in einem kleinen Ort ein, horcht in sich hinein und beginnt Tagebuch zu schreiben, das schnell erzählerischen Charakter annimmt und zum Roman-Text wird. Diese tägliche Selbstvergewisserung bringt Energie, einen eigenen Rhythmus mit sich und lässt sie ruhiger werden. Bald taucht Willem auf, er kümmert sich um die Ferienwohnungen und scheint ein ähnlich schwieriger Charakter zu sein. Sympathisch sind sie sich nicht gerade. Doch es entsteht eine eigenwillige Spannung, der sich keiner von beiden entziehen kann, und ganz allmählich nähern sie sich an und finden zu einem neuen, sehr behutsamen Umgang miteinander.
    Natürlich vollzieht sich dieser Rückzug nicht ohne Einbrüche und Ängste:

    "Auf einmal empfand ich eine heftige Sehnsucht nach den Kindern. Ich sah die beiden, wie sie vor zwei, drei Jahren waren, wie sie Abends in Unterhosen und Socken im Badezimmer beim Zähneputzen herumalberten, genau dieses Bild gab mir einen Stich, ihre dünnen Beine, die kleinen Unterhemden, das Gefühl, sie nie gekannt zu haben."

    In der Textform des Tagebuchs erlebt man die zerrissene Heldin, den Prozess ihrer Auseinandersetzung mit sich, der Natur und der Welt, die sie hinter sich gelassen hat, unmittelbar. Der sprachlosere Willem braucht eine andere künstlerische Sublimation – er malt. Dass zwei Menschen durch etwas wie das Unverarbeitete in der deutschen Geschichte, das sich Trauma-ähnlich im kollektiven Unbewussten befindet, zusammengeführt werden, ist gewagt, aber schlüssig. Ihre Verstörtheit und Widersprüchlichkeit kommt bei beiden wie ein Kampf zum Ausdruck, den sie ständig führen und eigentlich nur verlieren können, bis sie so etwas wie einen gemeinsamen Schritt wagen.
    Bei aller Vorsicht in ihrer Annäherung entwickelt die Geschichte einen großen Sog, dramaturgisch umgesetzt mit plötzlichen Zweifeln und Rückschlägen, aber auch durch die kompromisslose Art der Protagonistin - so reist sie einmal nach Deutschland in die Heimatstadt und beobachtet ihr Haus mit der Apotheke. Veränderungen bilden den natürlichen Bestandteil einer solchen Reise. Emotional sehr genau und überzeugend ist ihre weibliche Perspektive geschildert. Die einfachen Sätze legen eine verletzte Psyche offen, die durch das schlichte Leben und in der elementaren Erfahrung von Natur Linderung erfährt. Und die Klarheit der poetischen Sprache führt zu einer doppelten Heilung: im Roman wie beim Leser. Die Schwingungen zwischen den Personen sind geradezu seismographisch eingefangen, als sei der Text ein hochempfindliches Instrument, auf dem eine melancholische und doch blitzende Melodie gespielt würde.

    "Ich spürte, wie Willem sich auf meine Frequenzen einzurichten begann, er würde gleich sprechen. Ich war frei, ich hatte mich noch nie in meinem Leben so losgelöst gefühlt. Alle Speicher waren bereit, durchströmt, aufgeladen, zuckten vor Energie.
    Wir taten nichts. Wir balancierten auf der Kante der Hafenmauer wie Kinder, wir liefen zurück zu dem, was wir als Kinder getan hätten, und einmal griff Willem nach mir, erwischte mein Handgelenk und hielt es fest, wie um mich davor zu retten, hineinzuspringen. Ich wäre niemals in dieses Hafenbecken gesprungen, aber vielleicht hat es so ausgesehen, als wäre ich kurz davor gewesen, hineinzufallen."


    Womit der fünfte Roman des Kölner Autors in Bann hält, ist die elementare Kraft der Geschichte, die im Sprachlichen gespiegelt wird. Sie entsteht aus der Dynamik zwischen dem Aufbegehren, der Widerspenstigkeit und dem Wunsch nach mentaler Klarheit, letztlich nach Heilung. Koch gelingt der Brückenschlag über weit auseinander liegende Ufer: einerseits ein kritischer Blick auf die gesellschaftliche Realität in Deutschland, aber zugleich der Wunsch nach Läuterung diesseits einer Utopie. Die Stärke speist sich aus dem Mut zu einer unbeirrten ethischen Grundhaltung – sie ist literarisch konsequent und berührend umgesetzt. Roland Koch begibt sich mit seinem neuen Roman auf den Weg in ein Neuland, von dem er eine ganz eigene, ästhetisch wie moralisch unbestechliche Karte gezeichnet hat.

    Roland Koch: Ich dachte an die vielen Morde. Roman, 160 Seiten, 2009, Verlag Ralf Liebe, in der Reihe "Edition der Tausend", 20 Euro