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Doris Knecht: "weg"
Mit dem Moped durch zwei Leben

Im fünften Roman der österreichischen Kolumnistin und Journalistin Doris Knecht verschwindet eine Studentin. Ihre Eltern, die seit langem getrennt leben, machen sich erst große Sorgen und dann auf die Suche, die sie bis nach Vietnam und Kambodscha führt. Die Sorgen scheinen begründet.

Von Julia Schröder | 15.04.2019
Die Schriftstellerin Doris Knecht und ihr Roman "weg"
Doris Knecht und ihr Roman "weg" (Buchcover Rowohlt Verlag / Autorenportrait © Andreas Wünschirs )
Ein Moped kann die große Freiheit bedeuten, es kann hingammeln zum Symbol der unwiederbringlich vergangenen Jugendzeit, es kann aber auch einfach dazu dienen, von A nach B zu gelangen. Mancherorts kommt ein Moped selten allein. In Vietnam zum Beispiel, oder im neuen Roman von Doris Knecht:

"Wie man auf einem Moped fahren kann: allein. Zu zweit. (…) Ein Mann und eine Frau, der Mann vorne, die Frau hinten; die Frau vorne, der Mann hinten. (…) Ein Mann, eine Frau, zwischen ihnen ein kleines Kind sitzend oder stehend (…). Ein Kind vorne, zwischen den Beinen des Mannes stehend, dann eine Frau mit einem Säugling im Arm, wach oder schlafend. (…) Zu dritt. Zu zweit. Allein. Wie man auf einem Moped fährt: Kommt darauf an, wo man geboren wurde, wie man lebt und wer man ist."
Als Freigeist fährt man Moped
Dass der Roman mit dieser Beobachtung startet, ist kein Zufall, denn das Moped ist das Gefährt, auf dem die Handlung in wesentlichen Teilen voranknattert. Zugleich fungiert es als Sinnbild für ziemlich vieles, das allerdings ist das geringste Problem dieses Buchs.
"weg", der Titel des Romans, deutet es an: Eine Studentin verschwindet, ihre Eltern, die seit langem voneinander getrennt leben, machen sich erst große Sorgen und dann auf die Suche, die sie bis nach Vietnam und Kambodscha führt. Die Sorgen scheinen begründet. Lotte, die gemeinsame Tochter, leidet unter einer drogenindizierten Psychose, und sollte sie aufgehört haben, ihre Medikamente zu nehmen, ginge es wieder los mit Paranoia und Selbstverletzung. Lottes Vater Georg, ehedem ein naturburschenhafter Hippiepunk in Wien, muss seinen Gasthof im steiermärkischen Waldviertel mit dem im Schuppen vor sich hin rostenden, lang nicht gefahrenen Moped der Ehefrau und seinem Hausfreund anvertrauen. Und Lottes Mutter Heidi, eine an diversen Lebensängsten leidende Mittvierzigerin, verlässt der Tochter zuliebe ihre ohnedies ein bisschen höllisch und prekär gewordene Reihenhaus-Komfortzone im Umland von Frankfurt, besteigt zum allerersten Mal ein Flugzeug und traut sich wegen der Millionen Mopeds, die durch Ho-Chi-Minh-Stadt brausen, erstmal nicht aus dem Hotel. Beide Elternteile treffen sich dort und nehmen Lottes Spur auf, die sie bis nach Phnom Penh verfolgen. Die Konstruktion des Romans ist vielversprechend: Erzählt wird im Wechsel der Perspektiven, woraus sich spannungsreiche Interferenzen zwischen den jeweiligen Wahrheiten der Figuren ergeben. So könnte es weitergehen, tut es aber nicht, stattdessen verringert sich die reizvolle Vieldeutigkeit, und lesend fragt man sich bang, zu welchem Ende Doris Knecht die verkorksten Familienverhältnisse führen wird.
Ein Plot fürs ZDF-Herzkino
Es zu verraten, schadet nichts: Georg und Heidi machen ihren Frieden miteinander und landen schließlich auf einem paradiesischen Urlaubsinselchen vor der Küste Kambodschas. Und dort geschieht zwischen den Eltern, Lotte und Lottes neuem Freund genau das, was ein Drehbuch fürs ZDF-Herzkino am Freitagabend würdig abschließen würde.
"Es sind in diesen vier Tagen viele Gespräche nötig, Gespräche zu zweit, zu dritt, zu viert, zu dritt, zu zweit, zu zweit, zu zweit, zu dritt, ein längeres, teures Telefonat zwischen Lotte und der Psychiaterin daheim in Deutschland, bis Lotte davon überzeugt ist, ihre Medikamente wieder zu nehmen. Und dieses neue Medikament mal auszuprobieren, das Heidi ihr mitgebracht hat. (…) Sie willigt schließlich ein, nachdem Heidi und Georg auch in etwas eingewilligt haben: dass sie noch nicht mit nach Deutschland muss. Dass sie ihr vertrauen. Dass sie ein bisschen hierblieben darf, wenn sie sich darauf verlassen können, dass sie das Medikament nimmt und nicht kifft."
Hach ja. Offenkundig vertraut die Autorin darauf, dass die Leser sich diesen trockenen Kitsch wehrlos gefallen lassen werden, nun, nachdem sie so viel über Heidi und Georg erfahren haben (und über Georgs Frau und Heidis Schwester auch). Doris Knecht füllt nämlich sehr, sehr viele Seiten des Romans mit dem Referat der Ängste, Sehnsüchte und Beweggründe ihrer beiden irgendwie natürlich auch die eigene Identität Suchenden. Das funktioniert aber nicht. Je mehr Auskünfte zur Person sich anhäufen, desto mehr kristallisieren sich die Klischees heraus.
Das ist wirklich schade, denn die österreichische Schriftstellerin und Journalistin zeigt an vielen Stellen, was sie eigentlich kann. Ihr Reporterinnenblick entdeckt die charakteristischen Details der ebenso zauberhaften wie verdreckten Landschaften Südostasiens, der großen Städte mit dem hie – in Vietnam - höflichen, da – in Kambodscha - ruppigen Verkehrschaos, die roten Kinderplastikstühle allenthalben vor den ungezählten Garküchen, die aussichtlose Armut an den Ufern des vermüllten Mekong. In solchen Passagen sieht man über kleine Peinlichkeiten gern hinweg - wie die, dass der Name der Hafenstadt Sihanoukville konsequent falsch geschrieben wird. Aber Doris Knecht hat einfach zu wenig Zutrauen zu ihrer eigenen Befähigung, die Szenen sprechen zu lassen, bis die Psychologie der Figuren erkennbar wird, anstatt alles in inneren Monologen auszudeutschen. Allzu oft erliegt sie der Versuchung, Betrachtungen über Gerechtigkeit in der globalisierten Welt, übers Altern und über Probleme zeitgenössischer Elternschaft in die Hirne dieser Figuren zu verlegen und auch gleich in originelle Sätze zu gießen, als wär’s eine Kolumne von Doris Knecht.
Elternweisheiten im Kolumnensound
Am Ende verspricht Vater Georg seiner einsichtigen Tochter, er werde ihr sein im Schuppen schlummerndes antikes Moped herrichten, auf dem sich einst die verliebte Heidi an ihn klammerte. Und dann lernt Heidi, die Furchtsame mit der Flugangst, der Bakterienphobie und dem Ordnungszwang, auch noch selbst, wie man auf dem Moped fahren kann. Sogar mit der Tochter hintendrauf, beide lachend im Fahrtwind unter grünen Palmen. Abspann bitte mit optimistischen Retortenschrammeln.
Doris Knecht: "weg"
Verlag Rowohlt Berlin. 302 Sieten, 22 Euro